Dritter Advent

Eine Fremde ist heimgekehrt. Die Frau umarmt sie noch in der Haustür, und sie erwidert den Druck und lacht.
Ganz pünktlich, sagt sie stolz.
Sie zieht den Mantel aus, den die Frau noch mit ihr gekauft hat. Sie betritt die Räume, alles noch wie immer, sagt ihr Blick.
Wo schlafe ich denn?
Drüben, in deinem Zimmer.
Umso besser.
Die Frau hat Kerzen angezündet. Sogar den Kaffee hat sie fertig, unter der Kaffeemütze steht er.
Drei Kerzen, lächelt die Fremde, seid ihr immer noch so streng?
Die Holzengel stehen steif und stumm auf dem niedrigen Schrank, die Kurrendesänger bilden Gruppen zwischen den Kaffeetassen, selbstgebackene Kekse, wie immer zur Weihnachtszeit.
Kein geringschätziger Blick auf die großen Engel, auf die gedrechselten Erzgebirgler, die zwei Kerzen halten, und an der Wand das Krippenbild, mittelalterlich fromm, der Josef mit besorgtem Blick etwas abseits.

Nein, die Fremde lächelt nicht, so war es ja schon immer gewesen, der Sessel bequem, ein bisschen verschabter jetzt als früher, und die Tischdecke hat Wachsflecke.
Wie geht’s denn? Du bist schmal geworden, du hast die Haare jetzt kurz.
Die Fremde ähnelt dem Foto im Regal.
Und dir?, fragt sie, hast du noch immer oft Kopfschmerzen? Und was macht dein Club oder Kreis?
Es geht mir gut, behauptet die Frau, hast du meinen Brief bekommen? Willst du noch Kaffee?
Die Fremde streckt den Arm aus, reicht die Tasse.
Da ist noch immer der kleine braune Punkt etwas oberhalb der Lippe rechts, da sind noch die vertrauten Mundwinkel und die Augen sind warm und müde. Die Augenbrauen sind noch immer zur Nase zu dunkel und laufen nach den Seiten hell aus, da ist noch immer das Lachen als nehme sie alles leicht.
Die Kekse sind schnell gegessen, der Kaffee wird kalt in der Tasse der Frau.
Es muss etwas gefragt werden, es müsste etwas mehr gesagt werden.
Wo bist du an den Abenden, wenn ich mit dir sprechen will und das Telefon bei dir ins Leere klingelt? Wem gehört die Männerstimme, die sich manchmal meldet, so schnell, dass der Name sich unkenntlich zusammenschiebt?
Lutz, erklärt die Fremde lachend, studiert Jura, wohnt auch da.
Da ist nichts zu sagen, da ist nichts zu verbergen, keine Verlegenheit.
Die Fremde ist zu Hause, ist „wie immer“, sie weiß noch alle Namen, die die Frau erwähnt.
Ach die, sagt sie und es klingt, als besinne sie sich auf etwas, was sie früher einmal in der Schule gelernt hat.
Sie räumt die Tassen in die Küche, steht einen Augenblick da, unschlüssig, was wohl von ihr erwartet wird.
Die Frau pustet die Kerzen aus, für einen Augenblick stehen sie im Dunkel.

aus: Sigrid Lichtenberger, „Die Lebensstunde“

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