Interview mit Pulitzer-Preisträger Nathan Thrall

von Claudia Werning
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Ist es meine Pflicht, gerade in diesen Tagen fest an der Seite Israels zu stehen?

Weil es deutsche Staatsräson ist? Und ich als Enkelin jener Generation, die den Holocaust verursacht hat, immer noch ein schlechtes Gewissen habe?

Oder mache ich mich vielmehr schuldig, wenn ich meine Augen vor dem großen Leiden der Palästinenser insbesondere in Gaza verschließe?

Eine Frage, die mich nicht erst seit dem Überfall der Hamas auf Israel beschäftigt und jetzt neuen Auftrieb erhalten hat: „A Day in the Life of Abed Salama – Anatomy of a Jerusalem Tragedy“ heißt das Sachbuch, das in den USA wenige Tage vor dem 7. Oktober veröffentlicht wurde und seitdem auf beiden Seiten des Atlantiks für großen Wirbel sorgt. Von den einen mit höchstem Lob bedacht, von den anderen heftig kritisiert und boykottiert, wurde dessen Autor Nathan Thrall in diesen Tagen der renommierte Pulitzer-Preis zuerkannt. Pendragon freut sich mit ihm und ist stolz darauf, die deutsche Ausgabe am 7. August unter dem Titel „Ein Tag im Leben von Abed Salama“ herauszubringen.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Zeitpunkt der Bekanntgabe ausgerechnet in die Woche der Meinungsfreiheit fiel, die der Börsenverein des deutschen Buchhandels mit mehreren Partnern stets Anfang Mai ausruft. Nathan Thrall war gerade in Berlin zu Gast, um einen Vortrag vor der Open Society Foundation und Vorlesungen am Bard College zu halten, als ihn die frohe Nachricht ereilte. Und eigentlich stand einen Tag später zusammen mit seinem Kollegen und Freund Joshua Yaffa eine Dinner Speech vor dem Union Club International in Frankfurt auf dem Programm, einer Vereinigung, die sich den Dialog zwischen Kulturen und Nationen sowie Völkerverständigung auf die Fahnen geschrieben hat. Doch nur wenige Tage vor dem Ereignis wurde die Veranstaltung mit dem Hinweis auf die „jüngsten Entwicklungen“ ohne Angaben von Gründen abgesagt. Die Hilfsorganisation medico international sprang kurzfristig ein, stellte Räumlichkeiten zur Verfügung und erwies sich als hervorragender Gastgeber. Mehr als hundert Zuhörer, mich eingeschlossen, erlebten einen Abend, der noch lange nachhallen wird.

Joshua Yaffa und Nathan Thrall bei ihrem Gespräch in Frankfurt

Nathan Thrall und Joshua Yaffa bei ihrem Gespräch in Frankfurt

Und warum das Ganze? Weil der Autor es seit Jahren wagt, als Jude die israelische Besatzungspolitik offen zu kritisieren und das System als zutiefst ungerecht zu brandmarken?

Und was ist das bloß für ein Buch, das für soviel Aufruhr sorgt?

Um das zu verstehen, muss man ein wenig in die Lebensgeschichte des ausgezeichneten Journalisten eintauchen. Nathan Thrall stammt aus einer säkularen jüdischen Familie; seine Mutter und Großeltern waren aus der ehemaligen Sowjetunion in die Staaten emigriert. 1979 in Los Angeles geboren, wuchs er in Berkeley auf. Er arbeitete bereits als Film Editor in L.A., als ein tragisches Ereignis sein Leben komplett auf den Kopf stellte: der Tod seiner Großmutter, die 2003 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam und der er sehr nahe stand. Ohne einen konkreten Plan zu haben, kehrte er in die Bay Area zurück, wo ihm seine Mutter zu seiner völligen Überraschung von einem bislang nie geäußerten Wunsch der Großmutter erzählte: ein gemeinsames Jahr in Jerusalem. Um diesem Vermächtnis gewissermaßen im Nachhinein gerecht zu werden, bemühte er sich um einen Platz bei Birthright Heritage, einer Organisation, die es jungen Juden aus aller Welt ermöglicht, Israel kennenzulernen, und kam so tatsächlich nach Jerusalem. Er war auf Anhieb fasziniert.

Zurück in den Staaten studierte er an der Columbia Universität Politikwissenschaften, reiste erneut nach Israel und lernte an der Universität von Tel Aviv die hebräische und arabische Sprache. Nathan Thrall blieb, und ist seit nunmehr 13 Jahren in Jerusalem zu Hause mit seiner Frau und den drei Töchtern.

Das Vermächtnis der Großmutter war also mehr als erfüllt. Dass sie jedoch mit dem, was ihr Enkel in den kommenden Jahren über Israel zu Papier bringen würde, einverstanden gewesen wäre, wagt selbst Thrall zu bezweifeln. Wie viele jüdische Sowjetemigranten seien auch seine Großeltern pro-israelisch eingestellt und dem Land emotional sehr verbunden gewesen.

Schnell arbeitete sich der Journalist in die Geschichte des Israel-Palästina-Konflikts ein und machte sich mit kritischen Artikeln in großen Zeitungen einen Namen. Selbst vor den Vereinten Nationen wurde er zitiert. Mehr als eine Dekade lang erstellte er als Vorsitzender des Arab-Israeli Projects bei der International Crisis Group, einer renommierten Einrichtung, die sich mit Lösungsvorschlägen zu internationalen Konflikten beschäftigt, Analysen und schrieb Expertisen. Eine Arbeit, von der er heute sagt, dass sie zwar wichtig war, aber nicht das gewünschte Ergebnis gebracht habe. Immer wieder – auch davon erzählt er an diesem Abend – sei er von den Auftraggebern zur Seite genommen und ihm hinter vorgehaltener Hand erklärt worden, dass er zwar richtig liege, um dann ein großes „Aber“ hinterher zu schieben. Und nicht selten habe die Angst, Kopf und Kragen zu riskieren oder als Abgeordneter nicht mehr wieder gewählt zu werden, eine Rolle gespielt. So oder so – der 44jährige sah, dass es offenbar keinen Willen zur Veränderung gab.

Nathan Thrall muss sich vorgekommen sein wie ein moderner Sisyphos.

Dann hörte er von dem furchtbaren Busunglück, das 2012 am Rande von Jerusalem passiert war. Ein Sattelschlepper hatte auf regennasser Straße einen Schulbus voll besetzt mit palästinensischen Kindergartenkindern gerammt, der daraufhin umkippte und Feuer fing. Es dauerte über eine halbe Stunde, ehe Rettungswagen und Feuerwehr zur Stelle waren, für acht Kinder und eine Lehrerin kam jede Hilfe zu spät.

Thralls Neugier war geweckt. Er fragte sich, was aus den Familien, die auf so grausame Weise ihre vier- und fünfjährigen Kinder verloren hatten, geworden war. Er begann zu recherchieren und geriet über Umwege an Abed Salama, dessen Sohn Milad bei dem Unfall ums Leben gekommen war. Abed fasste Vertrauen in den Journalisten und war bereit, ja fast schon begierig, zu reden – auch, weil er sich seinem Sohn auf diese Weise nahe fühlte und so dafür sorgen konnte, dass dessen Name nicht in Vergessenheit geriet.

Die Idee für ein Buch, das die ganze Dramatik des israelisch-palästinensischen Konflikts nicht aus analytischem, sondern aus menschlichem Blickwinkel erzählen sollte, war geboren. „Die ganze Welt schaut immer nur dann auf Israel, wenn dort Bombenanschläge oder Überfälle stattfinden“, beklagt Thrall. Aber niemand sehe hin, was Israels Besatzungspolitik für das tagtägliche Leben tatsächlich bedeute. Ein Busunfall wie dieser hätte sich überall auf der Welt ereignen können, aber was daraus resultierte, lässt sich nur mit der ganz besonderen Situation in Israel erklären. Und eben das macht aus einem tragischen Unglück ein Politikum.

Thrall rekonstruiert in seinem Buch nicht einfach nur emotional den Unfall und seine Begleitumstände. Vielmehr lässt er verschiedene Protagonisten, Palästinenser wie Israeli, zu Wort kommen und stellt deren Leben in einen gesamtgeschichtlichen Kontext. Intifada, der Oslo-Friedensprozess, der Aufbau der palästinensischen Autonomiebehörde, der Siedlungsbau, die terroristischen Anschläge – all das kommt ebenfalls zur Sprache. Ein ganzes Kapitel ist dem Bau der Mauer, der israelischen Sperranlage, und ihrem Architekten gewidmet. Einem steinernen, aber beredeten Zeugnis israelischer Besatzungspolitik.

Sorgfältig recherchiert, zeichnet Nathan Thrall so ein ungeschminktes Bild, das differenziert und ganz bewusst stereotypische Schwarzweißmalerei vermeidet.

Es ist ein unbequemes Buch, eines, das mir viele Fragen stellt, aber keine Antworten gibt. Schon gar keine einfachen.

Ein Buch, das eigentlich nichts erzählt, was man als aufmerksamer und politisch interessierter Beobachter nicht schon längst hätte wissen können, ja sogar müssen. Aber eines, das mit radikaler Schonungslosigkeit vor Augen führt, was es tagtäglich heißt, als Palästinenser auf der falschen Seite der Mauer zu leben.
Kein anderes Buch hat mich in der letzten Zeit derartig fassungslos zurückgelassen, mir seitenweise die Zornesröte ins Gesicht und die Tränen in die Augen getrieben. Und damit genau die emotionale Wirkung erzielt, die der Autor sich insgeheim erhofft und erwünscht hat.

Kann und wird es unter diesen Umständen jemals Frieden geben?

Nathan Thrall ist realistisch genug, um zu wissen, dass er eine Lösung des Konflikts nicht mehr erleben wird. Weder sieht er einen einzigen Staat mit gleichberechtigten Bewohnern, noch zwei oder eine Konföderation am Horizont. „Die ganze Diskussion ist nur eine Ablenkung, eine Karotte, um den Esel am Laufen zu halten“, wird er nicht müde auch an diesem Abend zu betonen.

Und dennoch – ohne einen großen Funken Hoffnung hätte er dieses Buch nicht schreiben können.

Die wenigsten Zuhörer dürften es an diesem Abend in Frankfurt schon gekannt haben. Dass sie trotzdem tief berührt waren, lag nicht nur an den Erzählungen des Schriftstellers, der anschaulich beschrieb, wie es sich anfühlt, wie Abed in einer Stadt wie Anata zu leben: an drei Seiten umgeben von einer 26 Meter hohen Mauer, ohne funktionierende Infrastruktur und Schulen, ohne Spielplätze und Bürgersteige, mit schlechten Straßen, die so eng sind, dass Fahrer die Spiegel ihrer Autos einklappen müssen, damit ein entgegenkommender Bus passieren kann. Und in der man sich jeden Morgen aufs Neue fragen muss, inwieweit man mit dem System kooperiert, indem man für einen israelischen Arbeitgeber oder sogar für israelische Siedler tätig ist.

Es lag vor allem an Nathan Thrall selbst. Da saß einer, der es sich als Außenseiter, als Nicht-Israeli und Nicht-Palästinenser, viel einfacher hätte machen und mit seinem amerikanischen Pass schon längst in seine alte Heimat hätte zurückkehren können – auch um seinen drei Töchtern ein Aufwachsen in einem Land zu ersparen, das von Gewalt und Hass geprägt ist.

Aber Nathan Thrall fühlt sich verantwortlich.

Als Amerikaner, dessen Regierung den Staat Israel jährlich mit Milliarden Dollar und Waffenlieferungen unterstützt.

Als Jude, in dessen Name Netanjahu behauptet, zu handeln.

Als Einwohner Jerusalems, zu dessen palästinensischen Nachbarn er freundschaftliche Kontakte pflegt.

Und zuletzt ganz einfach als Mensch.

Auch dafür wurde er mit einem Pulitzer-Preis geehrt.

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