„Barfly“ von Frauke Buchholz

Die Kurzgeschichte Barfly von Frauke Buchholz hat kürzlich den 1. Platz im Literaturwettbewerb der Gruppe 48 gewonnen. Mit Erlaubnis der Autorin stellen wir euch hier nun die Geschichte zur Verfügung. Im Frühjahr 2021 erscheint ihr Debütroman bei uns, bei dem es sich um einen Kriminalroman handelt, der sich mit der indianischen Kultur und den Spannungen zwischen Indianern und Weißen, und zwischen den verschiedenen Teilen Kanadas befasst. Eine Reihe von ungeklärten Morden an indianischen jungen Frauen ist der Ausgangspunkt für die Ermittlungen. Diese Morde gab und gibt es tatsächlich. Mehr Infos zum Buch folgen.

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Hier könnt ihr euch vom Schreibstil der Autorin überzeugen:
BARFLY

Auf dem Tresen krabbelte eine Fliege. Die schwarzen Beinchen staksten durch den klebrigen Rest einer verschütteten Cola, die durchsichtigen Flügel waren zusammengefaltet und schimmerten silbrig im Lampenlicht. Tripp trapp. Zuckende kleine Bewegungen. Viktor beobachtete eine Weile, wie sie ihren Saugrüssel in die Flüssigkeit tauchte, dann nahm er ein Bierglas, stellte es blitzschnell auf das Insekt und drückte zu. Er spürte den leichten Widerstand und das kleine Knacken und drehte das Glas langsam hin und her. Ein zerquetschter Brei aus Flügelresten, abgerissenen Beinen und einer blutigen Flüssigkeit klebte am Boden, und Viktor wischte ihn mit einem Spüllappen ab, bevor er das Glas in das Becken tauchte. Was Fliegen sind den müß’gen Knaben, das sind wir den Göttern: Sie töten uns zum Spaß. Er blickte kurz auf die Armbanduhr, die er beim Abwaschen neben den Zapfhahn gelegt hatte. Halb eins. Der letzte Gast war schon vor gut zehn Minuten gegangen. Er würde noch ein wenig aufräumen, sich ein Feierabendbier genehmigen und dann für heute Schluss machen. Er sprühte die Spiegelfläche hinter dem Regal mit dem Hochprozentigen mit Glasreiniger ein und sah zu, wie sein Gesicht langsam zwischen herablaufenden Schaumschlieren zerlief. Viktor versuchte einen Moment, seinen eigenen Blick festzuhalten und riss dramatisch die Augen auf.
Mein Vater war mit meiner Mutter einig unterm Drachenschwanz, und meine Nativität fiel unter URSA MAJOR; und so folgt denn, ich müsse rauh und verbuhlt sein.
Er wiederholte das Wort URSA MAJOR und rollte das R; dabei fuchtelte er ein wenig mit den Armen, dann verloren sich die Konturen in einem Film aus Seifenlauge. Als er sich umdrehte, um den Wischlappen zu holen, sah er aus den Augenwinkeln, dass in dem leeren Schankraum jemand stand. Eine junge Frau. Sie blickte zum Eingang, als erwarte sie, dass noch jemand käme oder überlege, sofort wieder zu gehen, dann machte sie eine ruckartige Bewegung mit dem Kopf, wie ein Huhn oder eine Taube, ging ein paar Schritte nach vorne und setzte sich auf den Hocker am Tresen direkt vor ihm. Hallo, sagte sie. Einen Whiskey, bitte. Hallo, sagte Viktor. Er wusste nicht, ob sie ihn beobachtet hatte, doch selbst wenn schon, sie konnte ihn mal. Sie war zu jung. Trotziger Mund. Wenn er sie jetzt nach dem Ausweis fragen würde, würde sie lügen. Sie habe ihn nicht dabei, bla bla bla. Großes Theater. Er kannte die Sorte. Scheiß drauf, dachte Viktor. Ein Whiskey, mehr nicht. Es war spät. Er nahm den Bourbon vom Regal und schenkte ein. Sie sah nicht schlecht aus. Dunkle, ein wenig schräg stehende Augen mit goldenen Sprenkeln, doch vielleicht war das ja nur das Licht. Lange getuschte Wimpern, die ihn an Fliegenbeine denken ließen. Die Augenbrauen etwas zu schmal gezupft, was ihr einen erstaunten und ein wenig hochnäsigen Ausdruck verlieh. Ziemlich unreine Gesichtshaut unter einer zu dicken Make-up-Schicht. Pubertätsakne.
Was heißt URSA MAJOR, fragte sie. Eine Spur von Spott in ihrer Stimme. Der Ärger schwappte hoch wie eine Welle. Das ist aus Shakespeares König Lear, sagte er. Eigentlich bin ich Schauspieler. Ich jobbe hier nur. Er wusste selber nicht, warum er ausgerechnet ihr das auf die Nase band. Er hatte seit Jahren kein Engagement gehabt. Eigentlich hatte er noch nie ein richtiges Engagement gehabt. Und was heißt das jetzt, fragte sie. Gelangweilte Miene. Er hätte sie am liebsten ins Gesicht geschlagen. Vergiss es, sagte er. Wahrscheinlich wusste sie noch nicht einmal, wer Shakespeare war. Eine von denen, die sich nur für Klamotten und Parties interessierten. Schauspieler sind cool, sagte sie und nippte an ihrem Whiskey. Warst Du schon mal im Fernsehen? Sie legte den Kopf ein wenig schief und lächelte ihn an. Sie hatte eine kleine Lücke zwischen den vorderen Schneidezähnen. Ich bin übrigens Vivian, sagte sie. Sie leerte den Whiskey mit einem Zug und schüttelte sich. Brrr, sagte sie und glitt mit der Zunge über die Lippen. Unter ihrem engen T-Shirt zeichneten sich kleine spitze Brüste ab. Ich bin Bühnenschauspieler, sagte er. Er lächelte süffisant. Ich spiele live. Sie kramte in ihrer Hosentasche und legte ihr Handy auf den Tresen. Ihre Augen krallten sich in das Display. Kann ich noch einen haben? Edmund hätte nicht lange gefackelt. Genau das war es, war er an Shakespeare so mochte. Keine Zimperlichkeit. Sich die Dinge nehmen. Egal wie hoch der Preis war. Warum nicht, sagte er, und goss zwei Bourbon ein. Viktor. Cheers. Der Whiskey schmeckte ein wenig nach Rauch und glitt ölig die Kehle hinab. Ihr Blick flackerte unruhig zwischen Display und Eingang hin und her. Er ist ein Scheißkerl, vergiss ihn, sagte Viktor. Volltreffer. Ihr Gesicht fiel zusammen wie ein Soufflé. Wir waren verabredet, sagte Vivian. Er ist nicht gekommen. Und jetzt meldet er sich noch nicht mal. Ihr Mund war jetzt eine kleine Schnute und ihr Lippenstift war verschmiert. Vergiss ihn, sagte Viktor. Hast Du doch gar nicht nötig. Er hörte den Samt in seiner eigenen Stimme. Er hätte gerne einmal den Edmund gespielt. Zu wenig Ausdruck. Als er am Schauspielhaus vorgespielt hatte, hatte ihn die Regisseurin weggescheucht wie eine lästige Fliege.
Schmal gezupfte Augenbrauen. Hochnäsiger Gesichtsausdruck. Hey, sagte er und lehnte sich ein wenig über den Tresen. Er kniff ihr leicht in die Wange. Kopf hoch, Baby. Andere Mütter haben auch schöne Söhne. Er goss ihr halbvolles Glas nach. Glaubst Du an die Sterne? fragte er. Dass sie unser Leben bestimmen? Wieder wusste er selber nicht, warum er sie das fragte. Vivian zuckte mit den Schultern. Keine Ahnung, sagte sie. Sie kicherte, und ihre Wangen waren rot vom Alkohol. Ich bin Jungfrau, sagte sie. Sternzeichen natürlich, fügte sie hinzu. In ihrem Blick lag jetzt etwas Neckisches. Was für ein Sternzeichen bist du? Schütze, sagte er. Meine Nativität fiel unter Ursa Major. Er grinste. Ursa Major ist der größte und hellste offene Sternhaufen am Nachthimmel. Er besteht aus fast allen hellen Sternen des Sternbildes Großer Bär und enthält bis auf Dubhe und Benetnasch sämtliche Sterne des Großen Wagens sowie weitere Sterne in seiner Umgebung. Alle Sterne der Ursa Major-Gruppe besitzen eine ähnliche Eigenbewegung von etwa 14 km/s mit einem Zielpunkt beim Sternbild Schütze. Schütze ist ein Feuerzeichen. Feuerzeichen stehen für Leidenschaft. Er machte eine kleine Pause. Die Elisabethaner glaubten, dass Makro- und Mikrokosmos einander spiegeln, sagte er. Dass die Sterne und das Universum unser Leben und unseren Charakter bestimmen. Er nippte an seinem Whiskey. Du kennst dich ja echt aus, sagte Vivian. Ihre Stimme klang gelangweilt und ein wenig spöttisch und sie blickte wieder auf das Display. Sie leerte ihr Glas und steckte ihr Handy ein. Ich glaube, ich muss jetzt ‚mal los, sagte sie. Sie stand auf und zog ihre Jacke an. Einen trinken wir noch, sagte Viktor. Der geht auf mich. Vivian schüttelte den Kopf. Nein, sagte sie. Danke. Ich muss wirklich los. Ich müsste nur noch mal schnell für kleine Mädchen. Wo ist denn hier das Klo? Er deutete nach hinten und blickte auf ihren Hintern, während sie zwischen den Tischen verschwand.
Dann stand er auf und ging ohne Hast zur Eingangstür. Er schloss ab, steckte den Schlüssel in die Hosentasche und kehrte zum Tresen zurück. Er goss die Gläser wieder voll und wartete. Es dauerte eine Weile, bis Vivian zurückkam. Sie hatte neuen Lippenstift aufgelegt und roch nach einem süßlichen Parfum. Zahlen, bitte, sagte sie. Ich lade Dich ein, sagte Viktor. Nein, sagte Vivian und errötete ein wenig. Doch, sagte Viktor. Ich bestehe drauf. Er machte eine galante kleine Verbeugung wie im Theater und warf ihr einen Handkuss zu. Sie zuckte mit den Schultern. Danke, sagte sie. Mach’s gut. Sie ging zur Tür und drückte auf die Klinke. Sperrstunde, sagte Viktor. Als sie sich umdrehte, sah er die Angst in ihren dunklen Augen. Viktor fühlte eine seltsame Erregung. Die Sterne, Die Sterne bilden unsre Sinnesart, Sonst zeugte nicht so ganz verschiedne Kinder Ein und dasselbe Paar. Edgar und Edmund. Der gute und der böse Sohn. Goneril, Regan und Cordelia. Am Ende sterben alle. Er betonte das Wort sterben und rollte wieder das R, und als es verklungen war, hing die Stille im Raum wie ein Vorhang aus Blei. Komm, setz Dich wieder. Einen trinken wir noch. Dann kannst Du gehen. Vivian zögerte, dann kam sie langsam zurück und nahm wieder am Tresen Platz. Sie zog ihre Jacke nicht aus und saß sehr aufrecht, während sie hastig einen Schluck trank. Als sie ihr Handy aus der Tasche zog, glitt Viktor blitzschnell vom Stuhl und packte ihr Handgelenk. Sie ließ los, und das Handy fiel zu Boden. Viktor nahm ihre Hand und streichelte sie mechanisch. Sie fühlte sich an wie ein kalter toter Fisch. Nicht doch, sagte er sanft. Sie war wie erstarrt, und er hob das Handy auf, legte es auf den Tresen und gab ihm einen leichten Stoß. Es rutschte die glatte Fläche entlang und blieb auf der blank polierten Holzfläche liegen. Das Display blinkte. Wir wollen doch nicht gestört werden, oder? Nur ein kleiner Absacker, sagte er und goss noch einmal nach. Hast du etwa Angst? Vivian lachte, doch es klang unecht und schrill. Quatsch, sagte sie. Der Bastard Edmund glaubt nicht an den Einfluss der Sterne. Er ist ein moderner Mensch, der sich auflehnt gegen das festgefügte Elisabethanische Weltbild. Er ist skrupellos und brutal, und er bekommt immer, was er will.
Viktor stand auf und ging um den Tresen herum. Er blieb dicht vor Vivian stehen. Sie blickte ihn an wie hypnotisiert und rührte sich nicht. Eine herrliche Ausflucht für den Lüderlichen, seine hitzige Natur den Sternen zur Last zu legen! – Mein Vater ward mit meiner Mutter einig unterm Drachenschwanz, und meine Nativität fiel unter URSA MAJOR; und so folgt denn, ich müsse rauh und verbuhlt sein. Er wiederholte die Wörter rauh und verbuhlt, dabei hätte er schwören können, dass sie ihn nicht verstand. Ei was, ich wäre geworden, was ich bin, wenn auch der jungfräulichste Stern am Firmament auf meine Bastardisierung geblinkt hätte. Vivians Blick war jetzt so starr wie die Facettenaugen einer Fliege und sie nippte hektisch an ihrem Drink. Sie hatte die langen dünnen Beinchen, die in einer schwarzen Strumpfhose steckten, eng übereinander geschlagen. Viktor legte seine Hand auf ihren Oberschenkel. Weißt du, was verbuhlt heißt? fragte er. Sie schüttelte den Kopf wie ein unruhiges Füllen. Verbuhlt heißt geil, sagte er. Sie blickte angestrengt in ihr Glas. Jungfrau bist Du, ja? Vivian hob das Glas und trank in kurzen Schlucken aus. Ich möchte jetzt bitte gehen, sagte sie. Ihre Stimme klang ganz klein, und als sie aufstehen wollte, presste er ihren Oberschenkel so fest auf den Hocker, dass sie aufschrie. Sieh dort die ziere Dame: Ihr Anlitz weissagt Schnee in ihrem Schoß; sie spreizt sich tugendlich und dreht sich weg, Hört sie die Lust nur nennen: Und doch sind Iltis nicht und hitz’ge Stute So ungestüm in ihrer Brunst. Du bist ja verrückt, sagte Vivian. Ihre Stimme klang jetzt schrill und ihre Beine zitterten unkontrolliert. Tripp trapp. Zuckende kleine Bewegungen. Lass‘ mich raus. Bitte, flehte sie. Wir sind noch nicht fertig, sagte er. Er legte seine Hand in ihren Schritt. Sein Gesicht war jetzt so dicht vor ihrem, dass er den Alkohol in ihrem Atem, der stoßweise ging, roch. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, und die Gesichtszüge wirkten maskenhaft. Vom Gürtel nieder sinds Centauren, Wenn auch von oben Weib; nur bis zum Gürtel sind sie den Göttern eigen: jenseits alles gehört den Teufeln, dort ist Hölle, Nacht, dort ist der Schwefelpfuhl, Brennen, Sieden, Pestgeruch, Verwesung – pfui, pfui, pfui! – Pah! Pah! Vivians Augen waren weit aufgerissen, und er sah sich selbst im Spiegel ihrer schwarzen Pupillen.
Plötzlich sackte Vivian zusammen und ihr Oberkörper fiel weich wie in Zeitlupe gegen seinen Bauch. Er packte sie unter den Achseln und ließ sie sanft auf den Boden gleiten. Ihr Körper fühlte sich kalt und schwer an, und ihre geschlossenen Lider bebten. Er bettete sie vorsichtig auf den Fußboden, und sie rührte sich nicht. Einen Moment betrachtete Viktor sie, dann ging er zum Spülbecken, drehte den Wasserhahn auf und tauchte den Wischlappen in das kalte Wasser. Er kniete sich über sie und legte ihn auf ihre Stirn. Vivians Augen klappten auf wie bei einer Puppe. Ihre Blicke tauchten für einen Moment schweigend ineinander, dann wandte Vivian den Kopf ab und begann hemmungslos zu schluchzen. Nein, flüsterte sie, nein. Hey, Baby, sagte er und strich über ihr Haar. Alles gut, sagte er, alles gut. Er half ihr vorsichtig hoch und bugsierte sie langsam Richtung Ausgang. Sie zitterte am ganzen Körper, und ihr Gesicht schimmerte bleich unter der zerlaufenen Make-up-Schicht. Er nahm den Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss auf. Du kannst jetzt gehen, sagte er. Edmund. King Lear. Heute hatte der Ausdruck gestimmt. Vielleicht sollte er ja doch noch einmal am Schauspielhaus vorspielen.

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