Das Märchen von dem Kamel, das weinte

Von einer milden hellfarbenen Mutter wurde das starke Fohlen zur Welt gebracht, stellte sich auf seine staksigen Beine, lief, noch ein wenig schwankend, um sie herum, ließ sich sanft belecken und trank von der köstlich fetten Milch, dass es bald wuchs und noch stärker wurde mit beweglichen Lippen, kräftigen Zähnen, schön bewimperten, braunen Augen und einem hohen, von dunklen geraden Haarbüscheln bewachsenen Rücken. Wie es laufen konnte! Und immer größer, immer stärker wurde! Über Steine, Felsen und Sand lief es, unermüdlich und ohne mürrisch zu werden. Heiße Sonne und stechenden Wind – gleichmütig hielt es sie aus, auch wenn es von morgens früh bis spät in die Nacht kein Wasser bekam. Ein Kamel, wie es sein soll! Der in schwarze, von Sand und Staub grau gefärbte Falten gehüllte Herr seiner Mutter verkaufte es aus der Herde, da war es noch jung, jung und ungestüm, an den Händler Halim. Der zog von der Oase Al-Hasa bis nach Dschidda ans Rote Meer, tauschte, verkaufte, lud auf und zog wieder zurück nach Osten.
Halim war kein leutseliger Mann. Zwar schloss er sich zu Beginn den Karawanen seiner Nachbarn an. So war es üblich, denn so fanden die Kaufleute größeren Schutz vor Räuberbanden, die ihnen auflauerten in der Wüste und ihnen alles nahmen, was sie bei sich führten, um sie dann, halbnackt und halb verdurstend, zwischen Sanddünen zurückzulassen. Nicht Halim mit seinem Kamel! Das lief schneller als jedes Reittier der Räuber und brachte seinen Herrn und dessen Waren in Sicherheit. Für Halim war das der Grund, zukünftig allein den Weg durch die Wüste zurückzulegen. Er vertraute seinem Kamel, und das zu Recht. Waren sie unterwegs an einer Karawanserei angekommen, so setzte sich Halim, ohne abzuladen, zu den anderen Händlern, und nur die Sonne war mittags unterwegs. Selten gab es Schatten für das Kamel, das geduldig wartete.
So reisten sie viele Jahre zusammen durch Fels und Sand, Windstille und Sturm. Allmählich wurde dem Kamel der Weg beschwerlicher, die Mittagshitze heißer, und der Weg nach Nadschran, den es so oft fröhlich mit wiegenden Schritten gelaufen war, zog sich mehr und mehr in die Länge. Auf seinem Rücken, auf Ballen und Packen sitzend, fasste sein Herr die Zügel kürzer, schlug ihm das freie Ende um die Ohren und schrie: „Je langsamer du gehst, umso länger gehst du!“ Doch da brach schon die Nacht mit ihren endlosen Sternen herein. Sein Herr kletterte auf den Boden, nestelte den Lederbeutel mit Wasser aus dem Gepäck, nahm ein paar Datteln und ging beiseite, um sich schlafen zu legen. Das Kamel stand mit seiner Last da, stand und ließ den schon hageren Kopf auf die Erde hängen. Es wartete auf den Morgen.
So ging’s nun oft und oft. Halim wurde immer missmutiger, immer verdrossener. Ungeduldig zerrte er das Kamel am Zügel, ohne es in den Schatten zu führen, ließ es, gleichgültig wo, stehen mit allem Gepäck, während er mit den anderen Händlern tauschte und handelte. Wie niedergeschlagen, erschöpft sein Kamel war, kümmerte ihn nicht; er bemerkte es nicht einmal.
An einem sehr heißen Tag gelangten sie nach Medina, einer reichen, hochgebauten Stadt mit vielen Gärten, von der es hieß, dass hier der Prophet, der Gesandte Gottes, seinen Wohnsitz genommen habe. Doch davon wollte Halim, auch wenn er davon gehört hatte, nicht das geringste wissen. Er freute sich über den sauberen Hof mit klarem Wasser und hohen, schattigen Palmbäumen, worin er Rast machte, während er draußen das Kamel in der Sonne stehen ließ, ohne es zur Tränke zu führen, oder ihm einige der schweren Ballen vom Rücken zu nehmen. Schwer senkte es seinen Kopf zu Boden, ohne die paar mageren Büschel Gras auch nur wahrzunehmen, die an der Mauer verdorrten. Nein, es sah einen einfach gekleideten Mann nah herantreten. Unter einem leichten Mantel trug er im Gurt einen Dolch, doch er streckte die Hand aus und legte sie ihm an den Hals. Wie ein Quell, ein verborgener Quell, der plötzlich aufbricht aus der Erde und hinläuft in die Steine, den Staub, so quollen da dem Kamel die Tränen aus den Augen, und es legte den Kopf dem Mann auf die Schulter. Der tat weiter nichts als da stehen, doch er schaute durchs Hoftor zu Halim, der dort im Schatten auf einer Bank lag und schlief, jetzt aber aufwachte, tief traurig seltsamerweise, mit Tränen in den Augen, die er fortwischte, und aufstand und durchs Tor kam. „Gehört dir das Kamel?“, fragte der Mann ihn, und er antwortete: „Ja, mir. Weshalb? Wer bist du?“ – „Siehst du nicht, dass es traurig ist, müde und durstig?“, sagte der Mann, drehte sich um und sagte: „Ich heiße Mohammed.“ Damit ging er davon. – „Dann bist du…“, sagte Halim, stockte, hob die Hand und legte sie dem Kamel an den Hals, griff nach den Zügeln, führte es in den Hof, lud seine Last ab, ließ es trinken und danach ruhen im Schatten. „Ruh dich aus!“, sagte er, „wir bleiben über Nacht. Morgen ist auch ein Tag – so Gott will.“

Alexander Gruber

Alexander Gruber

"Hallo, ich bin Ihr Nachbar, feiere selten Partys, werkle ein bisschen im Garten, und wenn Sie Hilfe brauchen – ich helfe gern, wenn ich kann." So würde es klingen, wenn man neben Alexander Gruber einzöge. Der Autor lebt für das Schreiben, dem er schon seit der Kindheit nachgeht, für das Lesen und für Gespräche. Märchen und "Beiträge zur theatralischen Denklust" sowie naturlyrische Gedichte sind seine Spezialität.
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