Ich, Esel

Auf einer meiner vielen Reisen gelangte ich auch in das Land Sind und eine seiner lebhaften Städte. Da sah ich, als ich umherschlenderte, eine junge Frau, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte, so schön war sie, so schlank gewachsen, so anmutig in all ihren Bewegungen, so liebreizend ihre Augen, so zauberisch ihr Gebaren. Jäh aufwallende Leidenschaft ergriff mich, heißes Begehren erfüllte mich. Ich achtete nicht mehr, wohin ich ging, denn ich folgte nur ihr wie mit Stricken gezogen, bis sie zu ihrem Wohnhaus gelangte und hinter dem hohen Tor verschwand. Tag und Nacht wich ich nicht mehr von diesem Tor, ließ mich von meinem Diener, der mich endlich gefunden hatte, versorgen und belagerte sie förmlich, sodass sie nicht mehr ausgehen mochte, aber mir schließlich einen Boten schickte, der mich hieß, das Tor zu verlassen, und mich vor Gewalttätigkeiten von Seiten ihrer Angehörigen warnte. Doch diesem Boten klagte ich, wie es um mich und meine Leidenschaft stand, und sagte ihm, ich würde nicht von ihrer Türe weichen, auch wenn ich totgeschlagen würde. Nichts änderte sich, ich belagerte das Tor Tag und Nacht, sie durchschritt es nicht mehr. Schließlich ließ sie mir bestellen, sie habe mich im Verdacht, nur im Augenblick verliebt zu sein, sonst aber treulos. Wäre es anders, würde sie mir helfen, ja, mich heiraten, wenn ich ihre Bedingung erfüllte und ihr treu bliebe. Würde ich treulos werden, würde sie mich unbarmherzig bestrafen, ja, mich vernichten. Ich solle entscheiden. Voller Freude nahm ich ihre Bedingung an, gelobte ihr unverbrüchliche heilige Treue, und so wurde sie meine Frau. In süßen Nächten wurde mein Begehren gestillt.
Nach einiger Zeit erhielt sie Besuch von einer Freundin, die ihres Alters war, aber mich viel reizender dünkte. Sie entzückte mich maßlos; mein Herz entbrannte, und so schlich ich ihr nach auf dem Heimweg und harrte tagelang vor ihrer Haustür. Das war ihr lästig, und sie beschwerte sich bei meiner Frau über mich. Die machte mir Vorwürfe, erinnerte mich an mein Treueversprechen und untersagte mir, nur auch in die Nähe jenes Hauses zu kommen, worin ihre Freundin wohnte. Das schreckte mich nicht ab. Da verzauberte mich meine Frau in einen Negersklaven und ich musste niedrigste Dienste tun. Gleichwohl verliebte ich mich in eine schwarzhäutige Sklavin. Jedermann sah, da ich nur einen dünnen Lendenschurz trug, in welchem Zustand ich war, und als ich zudringlich wurde zu der niedrigen Magd, beschwerte sie sich bei meiner Frau.
Sie, als sie das hörte, wurde weiß vor Zorn. Sie verwandelte mich in einen Esel und vermietete mich für schwere Arbeiten, sodass mir die schwersten Lasten aufgebürdet wurden. Aber neben mir ging oft eine schlanke, schmalhufige junge Eselin, die mich in Leidenschaft versetzte. Jedes Mal, wenn ich neben ihr zu stehen kam, schrie ich laut meine Begierde heraus und verlangte sichtlich aufs heftigste nach ihr. Aber mit Stockschlägen wurde ich wieder und wieder davongetrieben.
Eines schönen Tages – meine Frau besuchte die Tochter des Königs jener Stadt und saß mit ihr im schattigen Obergemach – mietete mich ein gebrechlicher alter Mann, für den ich Töpferwaren schleppen musste, die rechts und links in großen Körben verstaut waren. Als ich am Königsschloss vorüberkam, sah ich die junge Eselin, konnte nicht länger an mich halten und strebte schreiend zu ihr hin. Jedermann konnte mir armem, gut ausgestatteten Esel ansehen, wie es um mich stand, und jedermann fing an, auf mich einzuprügeln, sodass die irdenen Krüge und Töpfe alle zerbrachen. Dazu schrie der Alte Mordio, und die Leute lachten und riefen um Hilfe, während die zierliche Eselin vor mir davon lief, und ich schreiend und auf höchste erregt hinter ihr her. Das sah die Königstochter von oben mit an und amüsierte sich hellauf. „Soll ich dir noch etwas erzählen, das drolliger ist, als was du dort siehst?“, fragte meine Frau sie da, und als sie bejahte, sagte meine Frau: „Dieser Esel ist mein Mann!“ Und sie erzählte ihr meine Geschichte. Die Prinzessin war verwundert und lachte doch herzlich, bat aber meine Frau, sie möge meine Verzauberung aufheben und mich meiner Wege ziehen zu lassen. Das tat sie; sie nahm ihren Zauber von mir. Ich wurde wieder ein Mensch und habe die Stadt und das Land stehenden Fußes verlassen.

Alexander Gruber

Alexander Gruber

"Hallo, ich bin Ihr Nachbar, feiere selten Partys, werkle ein bisschen im Garten, und wenn Sie Hilfe brauchen – ich helfe gern, wenn ich kann." So würde es klingen, wenn man neben Alexander Gruber einzöge. Der Autor lebt für das Schreiben, dem er schon seit der Kindheit nachgeht, für das Lesen und für Gespräche. Märchen und "Beiträge zur theatralischen Denklust" sowie naturlyrische Gedichte sind seine Spezialität.
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