Wege aus der Isolation

Bitte stellen Sie sich doch den Schülern selbst vor!
Mit dieser Aufforderung, wohl eher einer Entschuldigung, leider, ein Lehrer sei erkrankt, er könne nicht dabei bleiben, mit dieser Aufforderung ließ mich der Lehrer, der mich in diese Schule zu einer Lesung eingeladen hatte, in dem vollbesetzten Halbrund, einer Art Amphitheater, zurück.
Mich hatte er zuvor dahin platziert, wo die Schauspieler sonst zu agieren pflegen. Wollen Sie einen Stuhl? Oder wollen Sie auf der Stufe sitzen?
Am liebsten hätte ich gar nicht gesessen, sondern mich in ein Mauseloch verkrochen, aber ich sollte ja lesen. So wollte ich also auf der Stufe sitzen, weil auch meine Zuhörer auf Stufen saßen. Jeder Platz im Halbrund besetzt von lebhaften, schwatzenden 14-Jährigen. Natürlich war ich stolz gewesen, dass man mich zu dieser Lesung eingeladen hatte. Aber: Es war meine allererste öffentliche Lesung, und Schulen hatte ich nicht mehr betreten seit meiner eigenen Schulzeit und die lag die Kleinigkeit von 40 Jahren zurück.
Jetzt saß ich hier und sollte von mir erzählen. Von meinem Leben. Das hieß doch: Mich vorstellen.

Ich sagte also meinen Namen, das war das einzige, was selbstverständlich und klar war. Aber ein Name ist schnell gesagt, mir fiel kein Witz dazu ein, kein Zitat, keine nähere Erklärung, die irgendwelchen Sinn gebracht hätte. Also stieß ich noch meinen Geburtsort aus meinem Mund hervor. Dass dieser etwas abseits, jenseits der innerdeutschen Grenze lag, machte die Sache vielleicht interessant, dachte ich zum ersten Mal in meinem Leben, und erstmalig fand ich, dass es da vielleicht doch etwas zu erzählen geben könnte. Aber die Schülerinnen und Schüler vor mir zeigten keine Reaktion. Wenn ich „auf dem Mond geboren“ gesagt hätte, wären sie vielleicht ebenso ruhig vor mir sitzen geblieben wie jetzt, ich hätte es nur genauso selbstverständlich sagen müssen wie dieses Leipzig. Leipzig war für sie nicht vorstellbar und sie wollten sich auf diese Stadt nicht einlassen. Auch saßen zwischen ihnen einige, die in entfernteren und fremderen Ländern geboren sein mochten. Das Wort Leipzig war ebenso schnell gesagt wie mein Name und ebenso schnell im Raum verschluckt. Schon gab es nichts mehr von mir zu sagen.
Was konnte diese Schüler und Schülerinnen bloß interessieren, was persönlich und doch unpersönlich genug war, um in diesen schulischen Rahmen zu passen?
Also: Ich hatte einen Namen, war in einem Ort geboren, und ich war zur Schule gegangen. Wer war das nicht? Ich hatte studiert. Wen interessierte das? Ich hatte geheiratet. Ich hatte Kinder. Aber gerade damit wollte ich mich nicht schon wieder identifizieren. Frau. Heirat. Kinder. Und sonst nichts? Was hatte ich in den langen Jahren bloß gelebt? Was war so, dass ich es erzählen konnte, ohne Gähnen hervorzurufen oder noch schlimmer, die ganze Horde in einen tobenden schwatzenden Haufen zu verwandeln?
Noch ein Satz zur Chemie, der gewiss Befremden hervorrief.
Von Leipzig, dass es 1943 sehr stark zerstört wurde. Das war für die Kinder ein Stück Geschichte. Was hatten sie damit zu tun?
Ich erwähnte die Übersiedlung in den Westen, über die grüne Grenze. Anfänge ohne Wohnraum. Nichts über den Sturz vom bürgerlichen Leben mit allen seinen, wenn auch durch den Krieg stark eingeschränkten Sicherheiten und der Verwandtenschar, ins Leben einer armen Studentin, die vor dem Landtag in Hannover demonstrierte für das, was wir heute BAföG nennen. Nicht mal solche kurzen Erklärungen fielen mir ein.

Auch war ich nicht hergekommen, um über mein Leben Rechenschaft abzulegen. Ich begriff plötzlich, was sich vorstellen hieß: Sich darstellen.
Wenn ich es richtig machte, müssten die Schülerinnen und Schüler gespannt werden, was eine mit so einem Leben zu sagen hat. Meine drei Sätze verliefen sich armselig im offenen, nicht mal durch Wände geschützten Raum und niemand, das wurde mir klar, würde mir zu Hilfe kommen.
Ich war froh, dass trotzdem alle Schüler/Innen ruhig geworden und geblieben waren. Bis auf drei an der Seite rechts außen, die miteinander rangelten und keinerlei Gefühl dafür entwickelten, dass sie nicht allein auf der Welt waren. Zwei Jungen und ein Mädchen, wer würde nun neben wem sitzen.
Sonst herrschte Stille in dem großen Rund, und alle Augen schauten auf mich, die – was sie nicht ahnten – zu ihrer allerersten Lebenslesung hier hereingeschoben worden war, die sich keineswegs auf solche Mengen von Kindern, sondern nur auf einen Klassenraum voll Schüler eingestellt hatte. Aber es gab kein Zurück. Man hatte es nicht für nötig gehalten, mich vorzubereiten, wie man es nicht für nötig gehalten hatte, mich vorzustellen und mit einem einführenden Wort, den Anfang zu erleichtern.
Sie hatten die Schüler und Schülerinnen hierhergeschickt wie zum Kasperletheater. Nur hier gab es noch nicht mal ein Thema. Ich hatte Geschichten ausgewählt. Niemand hatte mich beraten. Ein Thema hätte mir ein Gerüst gegeben und den Kindern das Zuhören erleichtert. So begann ich unvermittelt mit der Geschichte von einem jungen Mädchen, das auf den Oderwiesen Heu wendet. Ich fragte nicht, ob sie wohl wüssten, wo diese Oder fließt.
Ich las und vergaß dabei, dass ich das Mädchen und auch mal jung gewesen war. In mir saß noch immer das würgende Gefühl, dass ich beim Vorstellen meiner Person absolut versagt hatte. Name. Geburtsort. Studium. Nach Westen gegangen. Als sei das mein Leben. Noch nicht mal in kunstfertige Sätze hatte ich die spärlichen Mitteilungen verpackt, sondern hatte einfach diese Worte in den Raum geworfen, als hätten sie eigentlich keine Bedeutung. Von vornherein nahm ich an, niemand würde sich interessieren, den Namen sofort vergessen, einen Wohnort, wie gleichgültig musste ihnen der fast unbekannte Name sein. Warum war ich auf das Angebot, hier zu lesen, eingegangen? Aber eigentlich war ich gar nicht gefragt, sondern einfach zugeteilt worden und ich hatte meine Zustimmung gegeben, ohne genau zu überlegen, ich hatte versprochen, hier zu lesen. Welche Anmaßung!

Aber war nicht schon das Schreiben Anmaßung? Jetzt zog ich mich mit meinen von mir geschriebenen Sätzen aus der Affäre und durch die Zeit. Vor mir in der dritten Reihe saßen zwei Mädchen, deren Gesichter voll Aufmerksamkeit auf mich gerichtet waren. Das Mädchen in meiner Geschichte arbeitete nicht allein auf den Oderwiesen. Man hatte ihr eine Arbeitskraft dazugegeben. Das Mädchen ist unerfahren, nicht nur in der Landwirtschaft, sie, ein behütetes Stadtkind, ist zum ersten Mal länger allein von zu Hause fort, ist in eine Mädchenschule gegangen, hat keine Brüder, lebt jetzt in einer Mädchengruppe in einem Lager.
Dennoch weiß sie genau, dass ihr männlicher Begleiter zwar von einem Gott und von Geistfeuer spricht, aber die Zuwendung zu ihr scheint anderer Art zu sein. Er will sie nicht bekehren. Nein, nur einen Moment lang hatte sie das geglaubt. Ihre Heugabel ist in schneller Bewegung, die Hitze des Tages dehnt sich über die endlose Wiese bis in den endlosen Himmel, der an ein Ende nicht denken lässt.
Aber die Geschichte muss ein Ende haben. Noch sitzen die Schüler/Innen bewegungslos vor mir. Der Himmel hat endlich eine kleine dunkle Wolke ins Blau geschickt. Die Bedrohung ist angekündigt. Himmel, Erde, Heu und flirrende Hitze verflechten sich in der Geschichte mit Wolken, feurigen Blicken und Angst, was mag in den Köpfen vor mir vor sich gehen, die mit ihr das Heu wenden und dem Blick ausweichen, der sie von der Seite trifft, hastigere Bewegungen, nein, keine Angst zeigen, fällt ihr rechtzeitig ein.
Werden sie mir die Geschichte abnehmen, ihr, die kein Leben zu bieten hatte außer Namen, Geburtsort, Studium und einen Weg nach Westen, der nach Flucht klingen könnte und vielleicht auch eine war?
Vielleicht würden diese Schüler und Schülerinnen lieber etwas hören, was ihrem Alter entspricht. Und überhaupt, es gab so viele Leute, die Geschichten erzählen konnten, mir fiel nur wieder ein, dass ich jahrelang Hausfrau gewesen war, vier Kinder groß gezogen hatte, wie man so sagt, und das in einer fremden Stadt. Berufslos, abhängig vom Vater der Kinder, von meinem Mann, für den es allerdings selbstverständlich war, uns alle zu ernähren und wir hatten es ja auch so beschlossen, dass wir eine Gemeinschaft bilden wollten mit verteilten Rollen.
Nur, wer war ich in all den Jahren? Und dass ich nun hier saß, vor diesen Schüler/Innen und alle hatten mir ihre Aufmerksamkeit zugewendet, das erstaunte mich über alle Maßen.
Ich spürte, dass meine Stimme die Worte jetzt sicherer trug, und dass ich öfters aufsehen konnte. Die Drei rechts außen waren noch immer nicht zur Ruhe gekommen, aber da mischte sich jetzt eine ältere Frau ein, also war doch eine Lehrerin unter der Menge. Warum hatte diese mich nicht am Anfang wenigstens in der Runde begrüßt. Immerhin schickte sie jetzt einen der Jungen fort, er trat dabei lautstark auf die Stufen und verschwand.
Das Mädchen lief mit dem Mann und ihrer Heugabel zu den Fahrrädern zurück, die sie in einer Kuhle niedergelegt hatten. Noch einmal wuchsen Angst und Spannung. Sie sind hübsch, lockte der Mann, aber das Mädchen wünschte sich jetzt alles andere als hübsch zu sein, wünschte sich eine zu große Nase, ein zu breites Gesicht, schielende Augen, nur nicht hübsch wollte sie sein. Sie malte Ablehnung in ihre Miene. Der Mann nahm sein Rad, schob es den Hügel hoch, setzte sich drauf. Sie blieb zurück. Keine Gewalt. Kein Mord. Was sollte nun geschehen?
Niemand störte in der großen Runde die Ruhe, die eintrat, als ich schwieg.
Doch ich würde weiterreden müssen.
Ich bin kein Redner. Habe keine Erfahrung in Schulen. Schon gar nicht mit mehreren Klassen zugleich.
Ich wollte niemals Lehrerin werden. Hatte deshalb nicht Germanistik studiert.
Ich bin die letzten Jahre immer im Haus gewesen. Ich war nützlich, manchmal nervös, habe angespornt, ermahnt vielleicht, kaum über meinen Hausrahmen heraus geguckt. Ich kam gar nicht zur Besinnung.
Bis die langen Vormittage kamen, an denen ich allein blieb. Ich hätte sie wohl ausfüllen können. Immer war es irgendwo im Haus schmutzig, unordentlich, aber eines Tages saß ich nur starr auf einem Stuhl und hörte die Zeit tropfen.
Aber schon musste ich Hemden bügeln, Socken zusammenrollen, zurechtlegen, den Koffer vom Boden holen, aufgeklappt auf den Stuhl im Schlafzimmer legen, mein Mann muss plötzlich dienstlich nach Paris, hat gerade angerufen.
Wieso ich Heu gewendet habe? Höre ich jetzt eine Stimme.
Schon mal was von Reichsarbeitsdienst gehört? RAD. Da musste jeder und jede hin. In einem bestimmten Alter. Ein bestimmter Jahrgang. Die Menge der Zuhörer vor mir schweigt zu meinen für sie nicht sehr aufschlussreichen Erklärungen. Na, dachte ich, was RAD ist, weiß doch jeder. Ich hatte mein Alter vergessen, ich habe schließlich gerade Heu gewendet und bin schluchzend vor Erleichterung zusammengesunken, als der Mann mit seinem Fahrrad verschwand.
Bei späteren Lesungen wird man mich genauer fragen. In welchem Alter und wozu der diente, der RAD, und ein Unterton von „Aha Nazi“ wird mitschwingen. Man wird mich fragen, ob ich aus Pommern stamme, wegen der Oderwiesen, und ob ich das damals schon aufgeschrieben habe, und wenn nicht, wann dann.
Und wenn es mir passend erscheint, werde ich erzählen, dass ich die Geschichte zwischen den Kochtöpfen schrieb, dass ich zum Stift griff, die Klöße ins heiße Wasser fallen ließ, Teller auf den Tisch, Salat ins Waschbecken, noch ein paar Sätze aufs Papier, die Geschichte scheint schon fix und fertig im Kopf zu stehen, kommt aber nur beim Schreiben – die Klöße klein stellen, sonst zerfallen sie – kommt nur beim Schreiben was raus aus dem Kopf.
Besser irgendeine Geschichte als das Nichts.
Auch jetzt. Denn bei der Stille kann es nicht bleiben. Die erwartungsvollen Gesichter hier vor mir wollen Neues. Zwar habe ich mir eine Reihenfolge für meine Lesung ausgedacht. Aber kann ich hier die Geschichte einer Trennung lesen? Obwohl, der Lehrer hat gesagt, die Kinder mögen Liebesgeschichten. Das war das einzige, was er mir empfohlen hat.
Aber mir ist es sicherer, das verheiratete junge Paar auf Wohnungssuche zu begleiten. Das war 1948. Zwei Studierende gehen auf Wohnungssuche. Werden in Kellerräume geschickt, über denen ein Haus zusammengebombt wurde. Die Räume notdürftig wieder hergestellt. Feucht. Vielleicht Ratten, denken sie und lehnen ab.
Beim Studentenwerk wird ein Teller Suppe ausgegeben, vorher hat man die Studenten gemessen und gewogen und wenn das Verhältnis Gewicht zu Größe Mangel verrät, dürfen diese an der Schwedenspeisung teilnehmen. Eine neue Adresse, diesmal bekommt das Studentenehepaar – ohne Trauschein damals überhaupt keine Chance für eine gemeinsame Wohnung – in einer Dreizimmerwohnung ein Zimmer angeboten. Die Hauptmieter, eine Frau und ihr Mann haben zwei Zimmer. Mit dem Baby hatten sie allerdings nicht gerechnet, weil sie nur auf Hilfe aus war. Die Studentin sollte Küche, Toilette und Treppenhaus zur Reinigung übernehmen. Was sie natürlich zusagte, für ein Dach über dem Kopf, für das eigene, gemeinsame Zimmer.
Der Wohlstand ist noch weit, heißt die Geschichte und es gab schon mal was zu lachen darin, aber die Kinder blieben ernst, und ich fürchtete, dass alles ihnen fremd blieb. Kannten sie Wohnungsnot? Und das Verhältnis von Mieter und Dazugereisten? Von Einheimischen und Fremden?

Die Gesichter der beiden Mädchen vor mir waren voller Spannung. Das ermutigte mich. Und als zum Schluss die kleine Familie auszieht, drangsaliert von der Hauptmieterin, die keinen Sonntag den Gottesdienst auslässt, wenn zum Schluss die Frage bleibt, ob ihr weiterhin – sie inzwischen Witwe – zwei Räume zugestanden werden, sehen sie nachdenklich zu mir herüber. Ich fühle mich allmählich wie ein Fernsehapparat, der nun rasch für weitere Unterhaltung sorgen muss, damit die Spannung nicht nachlässt. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn erst mal alle Münder und Füße wieder in Bewegung gerieten, und zwar vorzeitig. Keine Fragen. Nein. Als sei den jungen Menschen das alles bekannt. Oder als sei es vorbeigerauscht und fremd.
Nochmals die gleiche Jahreszahl. 1948. Währungsreform. Wisst ihr, was das ist?
Hätte ich doch gefragt. Ich hätte gewusst, ob sie die Geschichte verstehen, wäre nicht geschwommen, in Ungewissheit, wohin meine Worte gehen. Warum machte ich mir diese Gedanken überhaupt? Warum stellte ich nicht die Geschichten einfach vor und basta?
Eine Studentin trägt Zeitungen aus. Nichts Besonderes. Aber sie trägt Zeitungen in einer Stadt aus, die zum großen Teil zerstört ist. Und sie kassiert das Zeitungsgeld persönlich monatlich, sodass sie ihre Abonnenten kennenlernt. Auch in einem Lazarett, das noch immer in einer Schule untergebracht ist, muss sie eine Zeitung ausliefern. Die Studentin weiß nichts von Gesichtschirurgie, hat nicht nachgedacht, was Verwundungen für Spuren hinterlassen können. Der Krieg ist seit drei Jahren vorbei, aber der Abonnent ist ein ehemaliger Soldat, ein junger Mann, der will sich nicht ansehen lassen. Die Nase fehlt ihm. Die Studentin ist jung und vielleicht hübsch, zumindest ansehnlich, und der Soldat zieht sich erschreckt zurück, nachdem er zunächst auf sie zugegangen ist.
Trümmer begleiten die Straßen, schon aufgeräumt, sodass man hindurchlaufen kann, und mitten in Ruinen gibt es Zimmer, in denen Menschen wohnen, die eine Zeitung abonniert haben. In einem Gartenhäuschen wohnt eine Frau, die einen Blumenstrauß verschenkt, an einer Wohnungstür bekommt die Zeitungsausträgerin einen Apfel gereicht, das ist eine große Freude für sie.
Wie nehmen die Kinder diese Geschichte auf? Trümmer? Ein Apfel bedeutet große Freude! Ich frage nach. Aber da sagt nur einer in der hinteren Reihe: Warum schreiben Sie immer von Frauen?
War mir noch gar nicht aufgefallen. Ich erkläre mit Zufall, ich hätte auch andere Geschichten.
Ich würde gern auf die Uhr sehen, aber das könnte Beunruhigung hervorrufen. Ich weiß, es kann noch keine halbe Stunde vergangen sein. Ich habe noch viele Geschichten. Aber welche passt jetzt hierher? Doch die Geschichte einer Trennung?
Warum habe ich nichts von Morden geschrieben? Oder von den großen Kriegen? Oder von sonst was für Scheußlichkeiten, die Spannung vermitteln können. Ich bin ich, denkt es rasch in mir. Und da ist eben das Ende des Krieges, und da kommt nichts von Vergewaltigung vor, sondern eher Erstaunen, dass alles so sang- und klanglos geschieht, auch wenn wir mit Angst im Keller sitzen.s Angst vor Unberechenbarkeiten, die sich in einem Gewitter und einer Detonation entlädt, die zwar das schlimmste befürchten lässt, aber „ein Munitionswagen ist in die Luft geflogen“, heißt dann später die Erklärung. Vorher sitzen alle Hausbewohner die ganze Nacht im Keller, die Dreijährige schläft, alle Erwachsenen horchen auf jedes Geräusch, jede Minute muss damit gerechnet werden, dass die amerikanischen Soldaten in den Keller gestürzt kommen und da hat man genug Schlimmes gehört, jede Minute können sie hier sein. Decken werden nach unten geholt, draußen die Luft ist unruhig, nicht alle Geräusche sind zu deuten.
Am Morgen gibt es ein Telefongespräch mit der Freundin in einem anderen Stadtteil. „Eben fahren amerikanische Panzer durch unsere Straße“. Das berichtet sie. Und ich erkläre, dass im Haus gegenüber, einer Heereswaschanstalt, Militärwagen eingefahren sind. Die Soldaten steigen aus, sehen sich um, kommen auf unser Haus zu. Sie besichtigen die Wohnungen mit Eigentümerblick. Sie wollen Wohnraum beschlagnahmen. Sie interessieren sich keineswegs für die Menschen, die darin leben.
Das kann doch nicht alles gewesen sein, sagt ein Schüler. Es ist überall anders gewesen. Aber auch das ist ein Stück Wirklichkeit. Ich habe es aufgeschrieben, ohne aufzuschneiden.
Vielleicht haben die Schüler die Ängste nicht empfunden, nicht die Unabänderlichkeit dieses Endes, das zwar Erleichterung bedeutete, aber das wir doch nicht gleich übersehen und einordnen konnten in ihren Folgen. Wir waren bemüht, Lebensmittel in diesen Tagen heranzubekommen, wir hatten kein Wasser im Haus, das musste 100 Meter weit herangeschleppt werden. Wir hatten kaum Gas zum Kochen, nur stundenweise Licht.
Es kann nicht alles in einer Geschichte stehen. Und wir bangten um die Männer, die noch „draußen“ waren. Ein Junge aus unserem Haus, 16 Jahre alt, der sollte sich noch an der Panzerfaust erproben.
Undurchdringliche Gesichter vor mir im Halbrund. Welche Bilder stellen sich bei ihnen ein?

Das alles war in meinem ersten Leben. Ich konnte den Schüler/Innen nicht alles erzählen, nicht, dass es Hunger gab und dass wir froren. Kohlen waren Mangelware, wir saßen zu dritt in einem winzigen Zimmer mit Kanonenofen, und Kartoffeln und Brot wurden streng abgezählt für jeden. Im Labor, in dem ich gearbeitet hatte, suchten wir unter den Trümmern nach Resten der Laborausrüstung, aber nicht einmal ein Spatel kam zum Vorschein. Nichts als hoher Schutt war uns geblieben. Ein ganzer Stadtteil in Schutt.
Kennen wir längst, hätten die Kinder vielleicht gesagt, das wissen wir schon. Aber ich bin ja hier in diesem Halbrund nicht um zu erzählen, sondern um zu lesen. Das geformte Wort galt es ins Gesprochene zu übertragen.

Hier nun sollte eine Pause vergönnt sein. Ich muss durchatmen können.
Aber nein, diese Lesung ist auf eine Doppelstunde angelegt. Fragen sollen gestellt werden.
Ich hatte zwar gelernt, andere Menschen zum Erzählen zu bringen, weil ich selbst kein Redner bin, aber hier herrschte nur großes Schweigen. Fragen wagten sich nicht heraus bei dieser großen Runde.

Gehen wir nochmals zurück in das Leben des Kindes. Mitte der 30er Jahre.
Ich muss noch von Anni lesen, von Anni, das war ein jüdisches Mädchen, eines von vielen jüdischen Mädchen in meiner Klasse. Anni hatte mich zum Geburtstag eingeladen. Kleine Kärtchen: Komme um vier Uhr. Anni wohnte in einer Villa, die mitten in einem gepflegten Park stand. Ich hatte manchmal schon durch ein ausgespartes Loch in der Mauer hineingespäht und hätte gern dort gespielt. Doch mein Vater mag Juden nicht, sagte meine Mutter. Er hat geschäftlich Ärger mit ihnen. Komm also vor Vater nach Hause, er braucht nicht zu wissen, dass du zu Anni gehst.
So etwas hatte es noch nie gegeben. Die Eltern waren sonst immer einig. Es gab keine Heimlichkeiten. Doch man hat mir nie etwas erklärt. Ich wusste nicht, was Juden sind. Ich erlebte, dass sie eines Tages aus der Klasse verschwunden waren. Die Plätze zwischen uns blieben leer. Sie fehlten einfach. Ins Ausland verzogen. Sagte man. Mehr nicht. Es schien alles seine Ordnung zu haben. Eine merkwürdige Ordnung.
Die Schüler/Innen schweigen. Es sind einfach zu viele in der Runde. Nur aus der obersten Reihe tönt jetzt die Frage: Was ist aus Anni geworden?
Ich weiß es nicht.
Wieder spüre ich dieses Ungenügen an mir selbst. Dass ich damals nicht genauer gefragt habe und auch heute zu wenig frage? Warum habe ich nicht die Zeit danach genutzt, um irgendetwas zu machen, wieder gut zu machen. Ich fühlte mich verurteilt von mir selbst. Ich wollte nicht mehr lesen. Ich wollte endlich nach Hause gehen. Und mein zurückgezogenes Leben wieder aufnehmen. Aber ich hatte es ja nicht ausgehalten.

In meine Zweifel hinein schrillte die Schulglocke. Noch etwas kurzes, ein Gedicht vielleicht?
Es stellte sich heraus, dass die Schulglocke uns nicht betraf, also hatten wir noch Zeit. Sollte ich doch noch die Geschichte einer Trennung lesen? Weil sie in einem Buch abgedruckt ist, kam sie mir vor, als habe sie ein anderer geschrieben. Und ich las die Geschichte von zwei Liebenden, die sich freiwillig trennen.
Meine Gedanken, die mir beim Lesen durch den Kopf schwirrten, obwohl ich ganz konzentriert die Sätze betonte und völlig bei der Sache war, verursachten mir Unbehagen, das seltsamerweise niemand bemerkte.
Die Geschichte geht nicht gut aus. Sie endet mit einer Flucht nach dem Westen.

Nun hatte ich fast so etwas wie einen Lebenslauf gelesen. Ich glaube, die Kinder klatschten, wohl angestiftet von der Lehrerin, die mir ein paar freundliche Worte zurief, als wir uns alle aus dem Raum heraus bewegten. Die Kinder hätten die Lesung genossen, behauptete sie. Ich taumelte ein bisschen, aber das merkte nur ich. Eine merkwürdige Leere herrschte in meinem Kopf. Ich war es nicht gewohnt und ich wusste nicht, dass man sich nie gewöhnen würde. Es war nicht nur, dass ich aus diesem stillen Haus gekommen war. Es war, dass ich schrieb und immer wieder schrieb. Ohne Auftrag.
Ich überlegte, wie ich beim nächsten Mal der Aufforderung mich vorzustellen nachkommen würde. Ein bisschen mehr als Name, Geburtsort, Studium, Flucht nach dem Westen würde ich sicher zu Worte bringen.

Sigrid Lichtenberger

Sigrid Lichtenberger

Als Jugendliche fiel es Sigrid Lichtenberger oft schwer, Gefühl und Verstand in Einklang zu bringen. Damals begann sie zu schreiben.
Später versuchte sie, durch ihre Gedichte und Erzählungen Antworten auf Fragen zu gestalten, die sie anders nicht beantworten kann.
Erst als ihre Kinder groß waren, konnte sie sich intensiv mit Literatur und dem Schreiben auseinander setzen.
Alles was sie erlebte, setzte sich in ihr zu Worten um. Oft fielen ihr schon frühmorgens im Bett die ersten Zeilen eines Gedichtes ein oder ein Textentwurf.
Wichtig war ihr, durchs Schreiben Erinnerungen festzuhalten, besonders wenn sie sich auf geschichtliche Ereignisse und Begegnungen mit Menschen bezog.
Sigrid Lichtenberger verstarb im November 2016 im Alter von 93 Jahren.
Sigrid Lichtenberger

Letzte Artikel von Sigrid Lichtenberger (Alle anzeigen)

Bildquellen

Kommentar verfassen