Mord im Luftkurort

Als das Navigationssystem verkündete: „Sie haben Ihr Ziel erreicht“, versuchte ich zu ignorieren, warum der Zufall mich ausgerechnet in die Gerichtsstraße führte, hatte ich doch vor, für die nächste Zeit jede Assoziation mit Verbrechen zu vermeiden.

Beim Aussteigen fiel mein Blick unweigerlich auf das mittelalterliche Schloss, das groß und wehrhaft auf dem Felsen thronte, dem die Stadt ihren Namen verdankte. Es leuchtete in der Dämmerung. Gleich das erste Haus in der Reihe hatte die richtige Hausnummer. Ich klingelte. Eine Amsel lugte neugierig unter einem Busch hervor, erbeutete einen Regenwurm und hüpfte flink über den Rasen davon. Im Nebenhaus ging eine Tür auf und ein alter Mann in Gummistiefeln stapfte in meine Richtung. Er warf mir einen misstrauischen Blick zu.

„Grüß Gott“, sagte ich. Er blieb stehen und blaffte: „Um diese Uhrzeit macht Ihnen hier keiner mehr auf!“

„Da bin ich doch recht zuversichtlich“, gab ich zurück. Er sah auf mein Gepäck.

„Ziehen Sie etwa hier ein?“

Er fragte das, als wolle ich einen Raubüberfall begehen.

„So ist es.“

Er kam mir so nah, dass sich unsere Nasen fast berührten. „Wissen Sie eigentlich, wie hier der Müll getrennt wird?“

„Nein“, antwortete ich wahrheitsgemäß.

Er packte mich am Arm. „Dann kommen Sie mal mit.“

„Vielleicht können wir das auf morgen verschieben?“, bat ich.

„Morgen! Nein“, er schüttelte nachdrücklich den Kopf, „das müssen Sie sofort lernen!“

Zum Glück öffnete endlich meine Vermieterin und rettete mich vor dem Verrückten.

„Kommen Sie doch bitte herein.“

Sie nickte dem Alten zu. „Guten Abend Herr Pitzer“, und schloss schnell die Tür hinter mir.

Sie war im Alter meiner Mutter, trug eine beige Hose mit Bügelfalten, eine orangefarbene Bluse und Filzpantoffeln.

„Willkommen in Braunfels, ich bin Frau Schmidt-Hövels.“

„Ronny Rieder“, stellte ich mich vor. Sie wollte nach dem Koffer greifen, aber ich war schneller. Dann führte sie mich in ein Wohnzimmer mit gelben Wänden und blauem Teppichboden, bodenlangen Tüllgardinen und einem Fernseher, der ohne Ton lief. Zwei Sessel bildeten mit dem Sofa ein goldfarbenes Plüschtriptychon. In einem verlor sich ein älterer Knabe und schielte mich mit einem Auge an. Das andere Auge sah aus dem Fenster. Wahrscheinlich behielt es die Amselpopulation im Blick.

„Herr Schmidt-Hövels, mein Mann.“

Er rappelte sich auf und gab mir die Hand. Anschließend führte sie mich hinauf in die Wohnung, die für die nächsten acht Wochen mir gehörte. Sie bestand aus zwei großen Dachzimmern, einfach möbliert, aber picobello sauber. Sie zeigte mir noch, wo ich Handtücher fand, und ließ mich allein. Ich legte mich aufs Bett und schloss die Augen.

„Sie gehen auf Reha“, hatte mein Hausarzt gesagt, als ich ihn mit Symptomen eines Nervenzusammenbruchs konsultierte.

„Sie bekommen striktes Arbeitsverbot und machen eine schöne Gruppentherapie.“

Als ich anmerkte, dass ich mich für eine Kur mit 41 Jahren noch viel zu jung fühle und Gruppen nicht leiden könne, bestand er auf einer Ortsveränderung.

„Braunfels ist genau das Richtige für Sie. Ein traditioneller Luftkurort.“

Meinen Einwand, mit meiner Lunge sei alles in Ordnung, wischte er beiseite.

„Papperlapapp, es geht darum, dass Sie auf andere Gedanken kommen. Da ist es schön ruhig und Sie können sich erholen.“

Ich bekam langsam Hunger und ging nach unten. Frau Schmidt-Hövels empfahl mir ein weit über die Grenzen von Braunfels hinaus bekanntes italienisches Restaurant. Ich folgte ihrer Wegbeschreibung bis zum in einem mächtigen Klinkerbau untergebrachten Amtsgericht. Danach ging es steil bergauf durch die Borngasse. Hühner, die in einem Vorgarten scharrten, waren die einzigen Lebewesen, denen ich begegnete. Ein Leichenwagen fuhr langsam vorbei und parkte in einer Einfahrt. Ein Mann im schwarzen Anzug stieg aus. Er nickte mir höflich zu.

„Ist das der Weg zum Restaurant Napoli?“, fragte ich.

Er kam mir ein Stück entgegen. „Genau richtig. Neu hier?“

„Kurgast. Ronny Rieder aus München.“

„Ambrosius Möller, Braunfelser in vierter und letzter Generation.“

Bevor ich den genealogischen Aspekt hinterfragen konnte, sagte er: „Ich muss noch den Wagen waschen. Morgen habe ich endlich einen Auftrag.“

„Nicht viel Geschäft?“

„Die Leute hier sind zäh wie Schuhleder.“

Er spuckte aus. Die Langlebigkeit seiner Mitmenschen schien ihn zu verbittern.

„Das liegt wahrscheinlich an der guten Luft“, meinte ich.

„Früher hatten die Leute noch den Anstand zu sterben.“

„Irgendwann erwischt es jeden“, versuchte ich ihn zu trösten.

Er neigte nachdenklich den Kopf, wandte sich wortlos um und machte sich am Wagen zu schaffen.

Ein Stück weiter warb das Gasthaus Strack mit frischem Hähnchen. Wenn ich etwas noch mehr liebe als italienische Küche, dann sind es Grillhähnchen.

Im Lokal war nichts los. Meine Befürchtung, der mangelnde Zulauf an Gästen erlaube Rückschlüsse auf die Qualität der Küche, war unnötig. Das Essen war so gut, dass ich beim Zahlen in Aussicht stellte, bald wieder zu kommen.

„Ich bin nämlich gerade erst angekommen.“

„Sie sind neu zugezogen?“ Das klang nach einem Pleonasmus.

„So in der Art.“

„Wo wohnen Sie?“

„Hier im Ort.“

„Wo genau?“

Ich überlegte. „In der Nähe vom Amtsgericht“, verkündete ich stolz, bereits ein Bauwerk der Stadt zu kennen. Fast fühlte ich mich als Einheimischer.

„In welcher Straße?“

Auch das wusste ich.

„In der Gerichtsstraße.“

„Welche Hausnummer?“

Das war jetzt dumm. Die hatte ich zwar ins Navi eingegeben, aber sofort danach vergessen.

„Es ist ein Reihenhaus“, versuchte ich mich herauszureden.

„Welches haben Sie gekauft: 173 oder 174?“

„Ich habe nichts gekauft. Ich habe eine Ferienwohnung gemietet.“

„Schmidt-Hövels werden froh sein über einen Mieter, sie müssen ja langsam mal die Unkosten ihres Umbaus hereinbekommen.“

Ich fragte mich, woher sie das alles wusste.

„Gut, dass Sie nicht gekauft haben“, beschied sie. „Die Häuser stehen schon eine Weile leer. Kein Wunder, neben dem Pitzer möchte ich auch nicht wohnen.“

Ob sie den Abfallbeauftragten meinte? Mit dem Hinweis, sie habe jetzt Feierabend, komplimentierte sie mich hinaus und schloss hinter mir ab. Ich sah auf die Uhr. Kurz vor neun. Zu früh, um nach Hause zu gehen. Das Schloss war hell orange angestrahlt. Ich schlenderte die Straße entlang. Ambrosius Möller hatte seinen Anzug gegen alte Jeans und ein geripptes Unterhemd getauscht, das gut entwickelte Muskeln entblößte. Er polierte den Wagen und als er mich sah, winkte er mir zu wie einem alten Bekannten.

„Ronny. Schon auf dem Heimweg?“

„Weißt du, wo man hier noch ein Bier bekommt?“

Er lachte und warf seinen Lappen in die Ecke.

„Klar. Komm rein. Ich müsste noch eins im Kühlschrank haben.“

In einem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer bot er mir einen Platz an und ging Getränke holen. Er schien ein Faible für Aquarelle zu haben. Die einzige Ausnahme bildete die Fotografie einer jungen Frau auf einem altmodischen Damenrad.

Es stellte sich heraus, dass Ambrosius Möller 55 Jahre alt war und allein lebte, was er einerseits bedauerte, aber andererseits als glückliche Fügung ansah, denn wenigstens musste kein Sohn das schlecht gehende Geschäft übernehmen. Als ich gestand, ebenfalls noch nicht die Richtige gefunden zu haben, huschte ein Schatten über sein Gesicht.

„Eine hätte es schon gegeben.“

Ich sah ihn erwartungsvoll an.

„Es hat nicht sein sollen“, war jedoch der einzige Kommentar, den er dazu geben wollte. Also unterhielten wir uns über das Wetter, das die nächsten Tage gut sein sollte, und über meine Pläne, wandern zu gehen. Drei Biere später brach ich auf und war nicht schlecht erstaunt, als er anbot, mich zu begleiten.

„Bei uns werden abends die Straßenlaternen ausgestellt. Nicht, dass du dich verläufst.“

Es war tatsächlich stockfinster und ohne ihn wäre ich wahrscheinlich irgendwo einen Abhang herabgestürzt. Vor dem Haus der Schmidt-Hövels empfahl er sich und verschwand in der Dunkelheit.

 

„Gehen Sie raus in die Natur“, hatte mein Arzt empfohlen. „Lassen Sie Ihr Notizbuch in München. Das einzige Papier, das Sie in den nächsten Wochen anfassen, ist eine Wanderkarte.“

Frau Schmidt-Hövels hatte keine.

„Es tut mir leid, aber mein Mann und ich sind ja nicht mehr gut zu Fuß“, entschuldigte sie sich. „Aber in der Kurverwaltung können Sie eine kaufen.“

Kaum hatte ich die Haustür zugezogen, steckte der komische Kauz von nebenan seinen Kopf aus dem Fenster.

„Schon so früh auf den Beinen, junger Mann?“

„Sie ja auch“, gab ich fröhlich zurück.

„Kommen Sie mal in mein Alter. Dann werden Sie erleben, wie es ist, wenn man nachts nicht schlafen kann!“

Er knallte das Fenster zu, um gleich danach hinter mir herzulaufen.

„Warten Sie!“

Ich blieb stehen, was sich als Fehler herausstellte.

„Wo gehen Sie hin?“, blaffte er.

Ich verspürte nicht die geringste Lust auf eine Unterhaltung und antwortete knapp: „Wandern.“

„Pah! Früher war ich jeden Tag unterwegs. Verdammte Beine. Versagen ihren Dienst. Wohin wollen Sie?“

„Zur Touristinformation.“

Inzwischen waren wir an der Straße angelangt. Hinter dem Scheibenwischer meines Clio klemmte ein Zettel:

„Sehr geehrter Autofahrer, wir machen Sie darauf aufmerksam, dass Sie hier nicht parken dürfen. Sie werden dafür erstmalig mit einer Strafgebühr von 20,- Euro belegt. Bei Wiederholung behalten wir uns vor, das Fahrzeug abzuschleppen.“

Das war ja ein netter Willkommensgruß.

„Ich musste das Ordnungsamt verständigen. Hier ist nämlich kein öffentlicher Parkplatz.“

Zufrieden rieb sich der alte Mann die Hände. Die waren anscheinend noch voll funktionsfähig.

„Sehr freundlich“, murmelte ich, knüllte den Bescheid zu einem kleinen Ball zusammen und schnipste ihn weg.

„Das ist Umweltverschmutzung“, schrie er.

„Selber schuld“, dachte ich und ließ ihn stehen.

Den ganzen Tag lang marschierte ich durch Felder und Wälder und fotografierte jede Menge Vögel, Hasen und Rehe. Als ich abends mein temporäres Zuhause erreichte, war ich zwar hundemüde aber so entspannt und zufrieden wie seit Jahren nicht mehr.

Der Clio stand noch da. Den Strafzettel hatte jemand aufgehoben, glattgestrichen und wieder hinter den Scheibenwischer geklemmt. Ich ließ ihn stecken.

Frau Schmidt-Hövels fing mich auf dem Weg nach oben ab und lud mich zum Abendessen ein. Damit wir uns besser kennen lernen, jetzt, wo wir unter einem Dach wohnten. Ich duschte, zog mich um und erschien pünktlich um sieben im Erdgeschoss.

Sie hatte den Tisch hübsch gedeckt, ihren Mann ans Kopfende verfrachtet, von wo er mich zyklopenhaft anstarrte und gleichzeitig das geschäftige Hin- und Hereilen seiner Gattin verfolgte. Es gab hessische Spezialitäten und zu meiner großen Freude ein kühles Bier.

„Sagen Sie, ist es tatsächlich verboten, vor dem Haus zu parken?“

„Oh, ich habe keine Ahnung. Wir haben ja schon lange kein Auto mehr. Warum fragen Sie?“

Ich erzählte ihr die Geschichte.

„Ach, der Herr Pitzer. Es tut mir leid, dass er Sie belästigt, ich rede morgen mal mit ihm.“

„Was hat er eigentlich für ein Problem?“

Sie reichte mir erst umständlich Brot und Wurst, doch dann siegte die Lust am Tratschen.

„Er hat einfach immer etwas zu meckern. Er hat sich mit allen Nachbarn zerstritten. Jetzt sind alle außer uns weggezogen. Seit seine Frau nicht mehr da ist, wird er immer schlimmer.“

„Sie hatte wahrscheinlich ihre Gründe“, sagte ich unverbindlich.

„Sie ist gestorben“, erklärte sie und wechselte dann schnell das Thema, indem sie fragte, was ich beruflich mache.

„Ich bin Schriftsteller.“

„Wie interessant.“

„Ich schreibe Kriminalromane.“

„Das ist ja toll. Ihre Arbeit ist doch bestimmt aufregend. Wo spielen denn Ihre Krimis?“

„Ich lasse mich gern von meiner Umgebung inspirieren.“

„Oh. Werden Sie jetzt etwas über Braunfels schreiben?“

„Rede keinen Unsinn, Lieselotte.“

Es war das erste Mal, dass ich Herrn Schmidt-Hövels sprechen hörte. Er wandte sich an mich: „Glauben Sie mir, hier passiert nie etwas.“

Es klang ein bisschen so, als würde er es bedauern.

 

Am nächsten Morgen wollte ich mit meiner Leica und der Wanderkarte ausgerüstet wieder auf den Weg machen. Der Parkplatz an der Straße war leer. Mein Auto war weg. Empört marschierte ich zum Haus von Pitzer und klingelte Sturm.

Er machte nicht auf. Sicher war er zu feige, mir unter die Augen zu kommen. Ich wollte klopfen, als die Tür nachgab.

Ich rief in den Hausflur: „Herr Pitzer, ich hätte Sie gern kurz gesprochen.“

Ich weiß bis heute nicht, warum ich hinein ging. Vielleicht, weil ich einmal gelesen hatte, dass es genau genommen keinen Hausfriedensbruch darstellt, wenn die Tür offen ist.

Ich fand ihn im Wohnzimmer. Er würde sich nie mehr über etwas beschweren. Er hing neben einem bronzenen Kronleuchter. Sein Handgelenk war kalt und ohne Leben. Ich stolperte hinaus und rief mit meinem Handy den Notruf. Offenbar gab es hier tatsächlich keine Kriminalität. Es gab nämlich auch keine Polizei.

Ich solle dableiben und nichts anfassen. Die Kripo aus Gießen sei in einer halben Stunde da. Ich hockte mich auf einen abgesägten Baumstumpf und dachte nach. Bei schockierenden Erlebnissen sei es das Beste, sich ihnen zu stellen, hatte mein Arzt gesagt. Außerdem durfte ich mich als Krimiautor nicht vor dem Tod fürchten. Also ging ich zurück ins Haus. Ich fotografierte den Toten. Ich fotografierte den Raum, Tisch und Sofa, sogar die Bilder an den Wänden. In der Küche standen zwei Gläser auf einem Abtropfgitter. Ich sah sogar in den Mülleimer, vielleicht, weil dem Alten dieses Thema so am Herzen gelegen hatte. Dann kehrte ich zurück zu meinem Baumstumpf und wartete.

Die Polizisten stellten sich als Brunner und Becker vor. Becker ging sofort ins Haus. Brunner fragte: „Sie haben angerufen?“ Als ich nickte, forderte er: „Ausweis!“

Er steckte ihn ein und folgte seinem Kollegen. Ich folgte Brunner. Ich fand, es roch langsam merkwürdig, aber bestimmt bildete ich mir das ein. Als Becker meine Anwesenheit bemerkte, fuhr er mich an: „Warten Sie draußen.“

Ich wartete draußen. Nach einer Weile hielt ein Auto an der Stelle, wo gestern noch mein Renault gestanden hatte. Ein Mann mit Metallkoffer stieg aus und ging in Pitzers Haus. Ich schlich zum Fenster und lauschte.

„Sieht aus wie Suizid“, stellte er fest.

„Todeszeit?“, fragte einer der Beamten.

„Irgendwann zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens.“

Dann kam Ambrosius Möller mit einem Gehilfen. Als sie den Sarg an mir vorbei trugen, nickte Möller mir zu. Ich fand, er sah zufrieden aus. Becker und Brunner kamen hinterher und stellten sich vor mir auf.

„Was hatten Sie im Haus zu suchen?“

Ich erklärte es Ihnen.

„Und Sie glauben, Herr Pitzer hat Ihr Auto abschleppen lassen?“

Da war ich mir sogar ziemlich sicher.

„Wann bekomme ich es eigentlich wieder?“

„Nicht unsere Baustelle“, sagte Becker und warf mir meinen Ausweis zu.

„Kommen Sie morgen aufs Präsidium und unterschreiben Ihre Aussage.“

 

Mein gelber Clio stand auf dem Parkplatz der Post. Er schien sich wohlzufühlen unter den gleichfarbigen Wagen. Die Stadtverwaltung, wo ich meine Strafe begleichen wollte, hatte Mittagspause. Ich setzte mich auf eine Bank und sichtete die Bilder. Pitzer hatte ein Kinderspringseil und einen einfachen Knoten verwendet. Ich fand, dass sein Kopf in einem merkwürdigen Winkel zur Seite hing. Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagener Reisekatalog. Wer machte sich kurz vor seinem Tod noch Gedanken über Urlaub? Nachdem ich alle Bilder betrachtet hatte, kam ich zu dem Schluss, dass ich sie den Polizisten zeigen musste.

 

Ambrosius Möller wusch wieder den Wagen.

„Na Ronny, den Schock schon verdaut?“

„Wenn du darauf spekulierst, mit mir deinen nächsten Kunden zu bekommen, muss ich dich enttäuschen.“

Er lachte und schüttete einen Eimer Wasser über das Dach.

„Komm doch mal wieder auf ein Bier vorbei.“

Ich nickte.

 

Am Abend hatte sich die Neuigkeit bereits herumgesprochen und war das Thema im Gasthaus.

„Aufgehängt hat er sich, der alte Griesgram. Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut“, sagte ein älterer Mann. Er teilte sich den Tisch mit einem anderen Mann.

Aus der Küche drang das Klappern von Tellern. Ich stand auf und ging hinüber.

„Mein Name ist Ronny Rieder. Ich bin Schriftsteller. Darf ich mich kurz zu Ihnen setzen?“

Sie lehnten immerhin nicht ab und so zog ich mir einen Stuhl heran.

„Schröter“, stellte sich der erste vor.

„Brand“, sagte der andere.

„Angenehm. Sie sprechen doch gerade über Herrn Pitzer, habe ich recht?“

Sie sahen sich an. „Woher wissen Sie das?“

„Ich habe ihn gefunden.“

Das haute sie um. Brand leerte sein Bier in einem Zug.

„Warum meinen Sie hat er das getan?“, fragte ich.

„Ich glaube er war einsam“, orakelte Schröter.

„Red doch keinen Unsinn, Ulrich, er hat es doch mit niemandem ausgehalten.“

„Vielleicht tat es ihm leid, immer so ein Ekel zu sein.“

„Dann hätte er sich nur ändern brauchen.“

„Ich sage dir, den hat sein schlechtes Gewissen geplagt. Und ihm fehlte die Frau.“

„Die war dem doch so was von egal. Gewissen, Gefühle. Das waren Fremdworte für ihn. Nein, ich vermute, er litt an einer unheilbaren Krankheit.“

„War Herr Pitzer denn in ärztlicher Behandlung?“, unterbrach ich ihre Spekulationen. Sie sahen mich an, als käme ich vom Planeten Venus und hätte mich gerade vor ihren Augen materialisiert. Die Bedienung kam und brachte mein Essen.

„Machen Sie uns doch noch eine Runde“, bat ich. Flink brachte sie uns drei gut eingeschenkte Gläser Bier.

„Prost, meine Herren“, sagte ich. Wir stießen an.

„Vielleicht hatte er Geldprobleme?“, schlug ich als Diskussionsgrundlage vor.

„Der war doch stinkreich“, sagte Ulrich.

„Und geizig. Jetzt, wo er tot ist, wird seine Tochter eine Menge erben.“

„Was ist mit seiner Frau? Hat sie ihn verlassen?“, fragte ich scheinheilig.

„So kann man es auch nennen. Aufgehängt hat sie sich.“

Diese Tatsache bot Schröters Reuetheorie neue Nahrung. Ich verspeiste mein Hähnchen und spülte es mit dem Rest Bier herunter, klopfte auf den Tisch und empfahl mich.

„Tschüss“, sagten sie einstimmig. Die Bedienung wünschte mir einen schönen Abend, vielleicht auch deswegen, weil ich ihr ein großzügiges Trinkgeld gab.

 

Das Präsidium war ein properer Neubau, in dem sich Becker und Brunner ein modern eingerichtetes, geräumiges Büro mit Südfenster teilten, vor dem eine Topfpflanze um ihr Überleben kämpfte. Die beiden Beamten versuchten, den täglichen Stress mit dem Verzehr von Sahnetorte zu kompensieren.

„Das sind Sie ja endlich. Setzen Sie sich dahin“, sagte Becker. „Erzählen Sie mal der Reihe nach.“

Ich redete und er tippte. Zwischendurch schlang er den Rest des Kuchens hinunter. Dann legte er meine Aussage auf den Tisch und befahl: „Durchlesen und unterschreiben.“

Ich unterschrieb.

„Das war’s dann, Kumpel“, sagte Becker und pulte ungeniert in seinen Zähnen.

„Haben Sie schon die Ergebnisse der Obduktion?“, fragte ich.

Beide sahen mich an, als sei mir gerade ein zweiter Kopf gewachsen. Brunner lachte und hustete Kuchenkrümel. Becker fuhr mich an: „Wir sind hier nicht im Fernsehen. So etwas kostet verdammt viel Geld. Geld, das wir nicht haben.“

Ich holte meine Leica heraus, um ihnen die Bilder zu zeigen.

„Sie haben fotografiert? Sind Sie krank, oder was?“

„Ich schreibe Kriminalromane. Da, sehen Sie sich doch dieses Bild an. Sein Genick ist gebrochen.“

„Das ist das Risiko, wenn man sich aufhängt.“

Ich erläuterte ihm den Zusammenhang zwischen Fallhöhe und zu erwartender Todesursache. Dieses Wissen hatte ich mir für einen meiner Romane angelesen.

„Um einen Genickbruch herbeizuführen benötigt man eine Höhe von über 1,80 Meter. Außerdem wird die Seillänge exakt anhand von Größe und Gewicht ermittelt. Bei Pitzer hätte ihm das Seil erst das Blut abgedrückt, wodurch er ohnmächtig geworden wäre und danach die Luftzufuhr unterbrochen. Er wäre erstickt.“

„Das ist ja alles unheimlich interessant, aber der Doc hat Suizid attestiert.“

„Haben Sie einen Abschiedsbrief gefunden?“

„Das geht Sie nichts an.“

„Welchen Grund hätte er gehabt, sich umzubringen?“

„Was weiß ich. Der Mann war alt.“

„Alter ist doch kein Grund sich den Tod zu wünschen.“

„Täuschen Sie sich nicht.“

„Seine Frau hat sich ebenfalls erhängt. Finden Sie das nicht einen seltsamen Zufall?“

„Nein. Finde ich nicht. Sie hängt sich auf. Er hängt sich auf. Das kommt vor. Kein Grund zur Besorgnis.“

Er deutete zur Tür.

„Wir sind hier nicht in einem Ihrer Romane, sondern in der wirklichen Welt.“

„Wussten Sie, dass statistisch gesehen zwei von drei Tötungsdelikten unentdeckt bleiben?“

Das kümmerte ihn nicht. Er zuckte nur mit den Schultern und sah weg.

 

Von Frau Schmidt-Hövels bekam ich eine Tasse Kaffee, die ich auf ihrer Terrasse mit Schlossblick trinken durfte, während ihr Mann seinen Mittagsschlaf hielt. Unweigerlich kamen wir wieder auf Pitzer zu sprechen.

„Seine Frau hat zwar nie ein schlechtes Wort über ihn verloren, aber man sah ihr an, dass sie oft weinte. Dabei war sie so eine nette Person.“

„Was hat er getan?“

„Er war ein Tyrann.“

„Wann ist sie eigentlich gestorben?“

„Das war im letzten Herbst.“

Ihre Miene verdüsterte sich und ihr Kinn zitterte bedenklich. Schnell wechselte ich das Thema und bat sie, mir von den anderen Nachbarn zu erzählen. In Nummer 173 hatten die Wuttkes gelebt, eine ständig wachsende, lebhafte Familie. Als ich sie danach fragte, gab sie mir, ohne nach dem Grund zu fragen, deren neue Adresse und bat mich: „Grüßen Sie den Mario recht herzlich von mir. Er wird froh sein, dass dem Verkauf seines Hauses nun nichts mehr im Wege steht.“

Sie schlug sich die Hand vor den Mund. „Entschuldigung, das ist mir so herausgerutscht.“

 

Mario Wuttke war auf Arbeit, aber seine Frau bat mich herein, nachdem ich mich als Interessent für ihr Reihenhaus ausgab. Sie war höchstens 30, blond und unübersehbar schwanger.

„Warum sind Sie eigentlich umgezogen?“, war meine erste, für einen Immobilienkäufer durchaus naheliegende Frage.

„Wir haben drei Kinder und durch den Lärm fühlten sich manche Leute belästigt. Hier haben wir einen großen Garten.“

„Ehrlich gesagt, von nervigen Nachbarn habe ich die Nase voll. Vielleicht ist Ihr Haus dann doch nicht das Richtige für mich.“

„Oh nein“, unterbrach sie mich hastig. „Dort leben sehr nette ältere Leute. Wollen wir einen Besichtigungstermin vereinbaren?“

„Gern“, log ich.

Ein Telefon läutete und sie bat mich zu warten. Ich betrachtete die zahlreichen Familienfotos. Alle Kinder waren das, was ich mir unter niedlich vorstellte. Der Ehemann hatte schütteres Haar, einen Walrossbart und blickte finster drein, als hasse er es, fotografiert zu werden. Frau Wuttke kam zurück und bot mir ein Treffen am Wochenende an.

„Mein Mann arbeitet für eine Umzugsfirma und ist viel unterwegs. Samstags könnte er dabei sein.“

„Ach. Das ist ja praktisch. Wie heißt denn die Firma?“

Sie sah mich erstaunt an.

„Ich muss ja auch bald umziehen. Da könnte ich eine gute Spedition gebrauchen.“

„Ach so. Die Spedition heißt Hessenblitz.“

„Was für ein schöner einprägsamer Name. Fahren die denn auch bis München?“

„Aber natürlich. Am Montag waren sie in Köln, dienstags in Hamburg und im Moment ist er auf dem Weg nach Augsburg.“

Wir verabredeten uns für 16 Uhr.

„Und nun muss ich sausen, der Kindergarten macht gleich zu.“

Ich rief Becker an.

„Sie schon wieder“, knurrte er wenig begeistert.

„Ja. Ich habe inzwischen mit ein paar Leuten gesprochen. Sie erinnern sich, dass wir uns fragten, wem nutzt sein Tod?“

„Ach, fragten wir uns das?“

„Kein Grund sarkastisch zu werden.“

„Wir sind ja hier auch nicht blöd. Wir lassen den Doc den Toten noch mal untersuchen. Also, geben Sie Ruhe, verstanden?“

 

Pitzers Tochter trug eine Brille und einen Damenbart. Ihre Designerjeans und die Seidenbluse sahen aus, als hätten sie mehr gekostet, als ich in einer Woche verdiente. Sie stellte sich als Hannah Cordes vor und bat mich nach kurzem Zögern herein. Im Wohnzimmer trafen wir auf ihren Mann Leonard, der rauchend in einem Fernsehsessel fläzte und Zeitung las.

„Was können wir für Sie tun?“, fragte Leonard und legte die Zeitung weg.

„Nun, eigentlich bin ich gekommen, um Ihrer Frau mein Beileid auszusprechen.“

„Wie aufmerksam. Kennt sie Sie?“

Ich wandte mich an Hannah.

„Wann haben Sie Ihren Vater eigentlich das letzte Mal gesehen?“

„Wir hatten keinen besonders engen Kontakt. Er lebte sehr zurückgezogen.“

„Dabei kam es mir so vor, als hätte er kurz vor seinem Tod noch Gäste gehabt.“

Sie warf ihrem Mann einen Blick zu.

„Gäste?“, fragte er. „Das sähe meinem Schwiegervater aber gar nicht ähnlich.“

„Plante Ihr Vater, in den Urlaub zu fahren?“

„Er verabscheute Reisen. Meine Mutter träumte immer davon, am Strand zu liegen, aber er hat das stets abgelehnt. Warum wollen Sie das eigentlich alles wissen?“

Sie sah mich skeptisch an.

„Berufsbedingte Neugier. Ich bin Schriftsteller.“

„Ich glaube, es wird langsam Zeit, Schatz.“

Leonard deutete auf seine Uhr. Ich bemühte noch schnell meine Geschichte, ich sei auf Haussuche. Leonard stand auf.

„Danke für Ihr Interesse. Wir melden uns, sobald die Formalitäten erledigt sind.“

Ich gab ihm meine Handynummer und empfahl mich.

 

Langsam kam ich in einen erholsamen Trott. Vormittags ging ich wandern, hielt dann einen ausgiebigen Mittagsschlaf und trank gegen vier Uhr mit Frau Schmidt-Hövels Kaffee. Sie war eine wandelnde Chronik und ließ mich bereitwillig an ihrem Wissen über den Ort und seine Bewohner teilhaben. Am Samstag mussten wir unser Kaffeekränzchen vorziehen, damit ich meinen Besichtigungstermin einhalten konnte.

„Sie lassen mir aber einen kleinen Vorsprung“, bat ich und sie nickte eifrig.

Das Haus der Wuttkes stellte sich als das genaue Ebenbild des Hauses meiner Vermieter heraus. Ich heuchelte angemessene Begeisterung. Als wir eine halbe Stunde später mit der Besichtigung fertig waren und im Vorgarten noch über den Preis diskutierten, tauchten Hannah und Leonard Cordes auf.

„Hannah. Was machst du denn hier?“, fragte Frau Wuttke.

„Herr Rieder wollte sich das Haus vom Vater ansehen. Aber sag bloß, eures auch? Herr Rieder, was hat das zu bedeuten?“

Ich versuchte zu beschwichtigen.

„Nehmen Sie es als sportliche Herausforderung. Machen wir einfach bei Ihnen weiter. Dann können Wuttkes ihr Angebot noch einmal überdenken.“

„Also das ist ja wirklich die Höhe“, erboste sich Mario, aber seine Frau war die bessere Geschäftsfrau und gebot ihm zu schweigen.

Pitzer war ein Ordnungsfanatiker gewesen. Das Bett war akkurat gemacht. Seine Handtücher hingen gefaltet über der Stange. Man fand weder Staubflusen noch schmutzige Wäsche. Der Rundgang endete im Wohnzimmer. Ich bat auch die Wuttkes herein und wartete, bis sich alle im Raum versammelt hatten.

„Vielen Dank für Ihre Zeit. Leider kommen beide Häuser nicht für mich in Frage.“

Genau in diesem Moment tauchte Frau Schmidt-Hövels auf und verkündete: „Herr Rieder hat sich nämlich schon für ein anderes Objekt entschieden.“

Jetzt war der Aufruhr perfekt.

„Lieselotte. Wollt Ihr etwa auch verkaufen?“, rief Hannah. Mario Wuttke lief rot an und schnauzte: „Was soll das ganze Theater?“

„Wenn ich Sie noch um einen Moment Geduld bitten darf“, sagte ich, „wir warten nur noch auf einen Bekannten.“

Wie aufs Stichwort erschien Ambrosius Möller, grüßte in die Runde und stellte sich ans Fenster.

„Also, schießen Sie los, Mann: Warum haben Sie uns überhaupt herbestellt?“, forderte mich Cordes auf und steckte sich eine Zigarette an.

„Leonard!“, tadelte ihn seine Frau. „Du weißt doch, dass du hier nicht rauchen darfst.“

„Wen kümmert es denn noch, der Alte ist tot.“

„Womit wir beim Thema wären. Wie Sie alle wissen, habe ich Herrn Pitzer gefunden. Nach dem ersten Schock siegte meine professionelle Neugier und ich fertigte einige Tatortfotos an.“

Sofort setzte empörtes Gemurmel ein.

„Lassen Sie mich bitte fortfahren. Auf diesen Fotos sieht man mehrere interessante Dinge.“

Ich wandte mich an Hannah Cordes.

„Hatte Ihr Vater eine Putzfrau?

„Nein.“

„Trotzdem ist hier alles klinisch sauber und aufgeräumt. Bis auf zwei benutzte Gläser in der Küche.“

„Was interessieren uns denn die Gewohnheiten meines Schwiegervaters?“, mischte sich Leonard ein.

„Sie werden es gleich erfahren. Sehen Sie auf den Tisch, bitte.“

Alle Blicke folgten meinem Zeigefinger.

„Hannah, würden Sie den Katalog nehmen.“

Sie tat, was ich verlangte.

„Und nun lesen Sie uns bitte die Vorderseite vor.“

„15 Tage alles inbegriffen. Sie haben die Wahl.“

„Was steht ganz unten?“

„Frühling/Sommer 1980.“ Sie sah auf. „Was hat das zu bedeuten?“

„Das frage ich Sie. Was war an diesem Jahr so besonders?“

„1980 haben meine Eltern geheiratet“, überlegte Hannah.

„Wurde eine Hochzeitsreise gemacht?“

„Nein“, sagte sie nachdenklich.“

„Waren Ihre Eltern überhaupt einmal im Ausland?“

„Nein. Das hätte mein Vater niemals zugelassen.“

„Lassen wir das zunächst einmal so stehen und kommen zu der viel wesentlicheren Frage: war es tatsächlich Selbstmord?“

Sie brauchten einen Moment, um das zu verarbeiten.

„Was wollen Sie damit andeuten?“ Leonard starrte mich wütend an. „Dass ihn jemand ermordet hat?“

Einen Moment lang waren alle still. Dann brach Hannah in Tränen aus. Frau Wuttke sagte: „Mir ist schwindelig“, und wurde von meiner Wirtin zum Sofa geführt. Nur Ambrosius Möller blieb erstaunlich teilnahmslos, vielleicht weil die Todesursache für einen Bestatter belanglos ist.

Mario stellte die naheliegende Frage: „Also, wer war es?“

„Jeder von Ihnen hat ein Motiv.“

Alle starrten mich an. Ich fuhr fort.

„Herr Pitzer war ein notorischer Querulant. Ich musste selbst erleben, wie er seinen Mitmenschen das Leben schwer machte. Er vergraulte Ihnen jeden potentiellen Käufer. Mit jedem Tag, den er lebte, verloren Sie Geld.“

„Aber deswegen bringen wir niemanden um“, sagte Leonard Cordes.

„Sein Geld hätten Sie gut gebrauchen können, da Sie sich mit dem Kredit für Ihr Haus übernommen haben.“

„Sie sind doch vollkommen verrückt.“

„Nein. Ich glaube, jemand hat ihm das Genick gebrochen und anschließend versucht, den Mord zu vertuschen.“

„Damit scheiden meine Frau und ich ja wohl aus. Meine Frau ist schwanger und ganz sicher nicht in der Lage, einen Mann alleine zu heben. Und ich war unterwegs.“

Mario Wuttke machte Anstalten zu gehen.

„An diesem Abend hätten Sie es leicht nach Hause geschafft. Ich habe in der Spedition angerufen. Sie waren tagsüber zwar in Köln, aber das ist nur anderthalb Stunden von Braunfels entfernt.“

„Das ist doch eine Unverschämtheit. Ich höre mir diesen Unsinn nicht länger an.“

Hannah meldete sich zu Wort.

„Warum ist eigentlich Herr Möller hier?“

Ambrosius Möller hatte den alten Katalog in die Hand genommen. Er legte ihn beiseite und öffnete das Fenster.

„Ich glaube, die Damen brauchen frische Luft“, sagte er.

„Lassen Sie uns noch einmal zum Jahr 1980 zurückkehren. Es war das Jahr, in dem ein junges Mädchen mit Namen Elisabeth einwilligte, den viel älteren Helmut Pitzer zu heiraten. Sie hatte lange gezögert, denn es gab noch einen anderen Bewerber. Den sie zwar liebte, doch sie konnte sich nicht mit seinem Beruf abfinden. Also entschied sie sich für den soliden, aber griesgrämigen Beamten Helmut. Der andere Mann musste im Laufe der Jahre mit ansehen, wie seine große Liebe vor die Hunde ging. Als sich Elisabeth umbrachte, musste der einstige Verehrer jeden Gedanken aufgeben, Elisabeth je zurück zu erobern. Er hatte nur noch seine Erinnerungen. Bevor Elisabeth ihn verließ, hatten sie eine Reise geplant. Pitzer dagegen schlug Elisabeth jeden Wunsch ab. Jetzt war sie tot und würde nie das Meer sehen. Er beschloss, Pitzer aufzusuchen. Als er ihm vorwarf, schuld an Elisabeths Tod zu sein, gab es natürlich Streit. Am Ende war Pitzer tot.“

Ich machte eine Pause.

„Der Mann wollte den Mord vertuschen und ließ es, in Anspielung auf Elisabeths Tod, so aussehen lassen, als habe sich Pitzer erhängt. Aber er beging einen Fehler.“

„Welchen?“, fragte Hannah Cordes.

„Pitzer starb zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens. Um diese Zeit ist die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet. Von draußen konnte also kein Licht ins Zimmer fallen. Doch der Kronleuchter brannte auch nicht, wie man auf meinen Fotos sieht. Wie hätte Pitzer sich im Dunkeln ein Seil über den Kopf ziehen, auf einen Stuhl steigen und den Haken an der Decke finden können? Das ist der Beweis, dass jemand nachgeholfen hat. Als er sein Werk vollendet hat, löschte er das Licht und verschwand in der Dunkelheit.“

„Er war ein Schuft! Er hat Elisabeth auf dem Gewissen!“

Ambrosius Möller stieß einen Schrei aus und sprang aus dem Fenster. Mario Wuttke und Leonard Cordes wollten ihm nach, aber ich hielt sie zurück.

„Überlassen Sie ihn den Profis.“

Ich zeigte ihnen mein Handy.

„Die Polizei hat die ganze Zeit mitgehört.“

Draußen schien die Sonne. Die Vögel pfiffen. Becker und Brunner hatten Ambrosius Möller, der sich kräftig wehrte, Handschellen angelegt und bugsierten ihn zu ihrem Wagen. Becker winkte mir zu, dann fuhren sie davon.

Mir war ein wenig wehmütig zumute, während ich ihnen nachsah. Nun hatte ich meinen einzigen Freund in dieser Stadt verloren.

Heike Blum

Heike Blum

Zum Schreiben steht Heike Blum gern schon ganz früh auf. Dann ist sie konzentriert und kreativ und nicht abgelenkt von der Hektik des Tages. Noch vor dem Frühstück, bewaffnet nur mit einer Tasse Tee, kann es sein, dass sie einen Mörder schon sein erstes Opfer finden lässt. Anfang, Ende und Charaktere stehen zu Beginn jedes neuen Romans fest und bilden das Gerüst, in dem ihre Figuren auch immer wieder ein Eigenleben entwickeln dürfen. Wenn die Autorin dann nach einem erfüllten Tag des Schreibens zum Joggen geht oder mit ihrem Mann am Isarufer flaniert, tankt sie Kraft und neue Inspiration.
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