Morgen wird nicht

Sie könnte das Wort „Volksschädlingsverordnung“ schreiben. Ich könnte sie auch anders anfangen lassen.

„Mein Sohn, du sollst wissen, dass ich Hals über Kopf verliebt war. Dass ich so jung, der Mann so charmant war. Dass ich schwanger wurde. Dass ich durch ihn ins Milieu geriet. Dass ich viel zu spät aufwachte. Dass ich mich von deinem Vater getrennt habe. Dass er ein Zuhälter ist. Dass du ohne Vater und ohne Mutter aufwachsen wirst.“

 

Es geht auf Mitternacht zu. Sie hat nicht viel Zeit. Ich könnte sie ihrem Sohn von der Gutemannstraße in Mannheim erzählen lassen. Ich könnte hinzufügen, dass der Name sich geändert hat, dass sie heute Lupinenstraße heißt, dass das Gewerbe das gleiche geblieben ist. Rita, das ist die Mutter, die ich den Abschiedsbrief schreiben lasse, betreibt mit ihrer Freundin Hedwig ein Bordell. Fünf Frauen arbeiten für sie. Ich könnte sie von den Schikanen der Behörden erzählen lassen, sie würde berichten, dass sie zweimal wöchentlich zum Abstrich auf Geschlechtskrankheiten einbestellt wurde. Sie würde vom Ausgegrenztsein erzählen.

„Mein Sohn, du sollst wissen, dass ich Spiel- und Sportplätze und Grünanlagen nicht betreten durfte, dass Theater und Lichtspielhäuser verboten waren, Gaststätten, Cafés.“

 

Der Zeiger der Uhr nähert sich der Zwölf. Gleich fängt der neue Tag an. Ich könnte sie mit der Bombennacht Mitte April anfangen lassen. Dass sie die Nacht im Luftschutzbunker verbringen musste. Dass viele Häuser in der Gutemannstraße brannten. Dass eine Bombe in die Nummer 14 einschlug, ihr Haus. Dass die Schäden zum Glück nicht so schlimm waren. Dass es das Nachbarhaus schlimmer erwischt hatte. Dass nur noch die Grundmauern standen.

 

„Am Morgen kamen zwei Männer. Ich kannte die beiden. Sie arbeiteten für den Besitzer des Nachbarhauses, der auch ein Bordell betrieb. Die zwei Helfer gingen in den noch brennenden Keller und packten einige Körbe voll mit Spirituosen und Wein. Sie hielten sich nicht lange im Keller auf. ‚Einsturzgefahr, das ist uns zu gefährlich‘, sagte der eine. Der andere stellte vier Flaschen Wein auf den Küchentisch. Alle unsere Frauen waren da. Ich feierte meinen dreißigsten Geburtstag. Jetzt weiß ich, dass es mein letztes Geburtstagsfest war. Wir öffneten die Flaschen. Die Stimmung war ausgelassen. Für kurze Zeit vergaßen wir sogar die Tiefflieger.“

 

Der Zeiger hat die Zwölf überschritten, der neue Tag hat angefangen. Den Sonnenaufgang wird Rita nicht mehr erleben. Sie muss Abschied von ihrem Sohn nehmen. Wie gerne hätte sie ihn noch einmal bei sich gehabt. Die Zeit drängt. Ich muss sie weitererzählen lassen.

 

„Am Nachmittag stieg ich mit Hedwig in unseren Keller hinunter. Wir wollten uns die Schäden anschauen. In der Mauer zum Nachbarkeller war ein großes Loch. Zwischen der Glut fanden wir Weinflaschen, Lebensmittel und Präservative. Wir dachten uns nichts dabei, als wir mitnahmen, was wir tragen konnten.“

Sechs der Weinflaschen werden bei der Verhaftung von Rita und Hedwig noch ungeöffnet in der Ecke der Küche gefunden. Die Präservative, die sie an ihre Frauen verteilten, sind zum Zeitpunkt der Verhaftung längst aufgebraucht.

 

Der Zeiger der Uhr nähert sich der Zwei. Rita hat noch drei Stunden und einige Minuten Zeit. Erst vier Monate später, im August, erstattet der Nachbar Anzeige. Er beklagt sich, dass es bitter und hart genug sei, wenn man bei einem solchen Unglück Hab und Gut im Wert von über 90 000 Reichsmark verliere. Um so mehr habe es ihn getroffen, dass er von solchen Parasiten auch noch um das Letzte beraubt worden sei. Ich könnte Rita erzählen lassen, wie sie und Hedwig am 7. August verhaftet und in Einzelhaft gesperrt werden.

 

„Mein Sohn, geht es dir gut? Was erzählen sie über mich? Gerne hätte ich dich noch einmal gesehen. Ich habe höflich angefragt, ob ich Besuch empfangen dürfe. Es wurde abgelehnt.“

 

Ich könnte Rita von den endlosen Verhören erzählen lassen, von den Schlägen, die ihr Gesicht entstellten, vom Prozess im November. Der Prozess, der nur zwei Stunden dauerte und bei dem das Urteil schon vorher feststand. Ich könnte sie erzählen lassen von den beiden Helfern, die, anfangs selbst angeklagt, nun als Kronzeugen auftraten, vom Staatsanwalt, der vorrechnete, dass drei Präservative 80 Pfennige kosteten, die gestohlene Menge einen Wert von 150 Reichsmark habe, das sei keine Bagatelle.

 

Kurz nach Vier klopft es an der Zellentür. Es ist der Priester. Rita will ihn nicht sehen. Der Priester schlägt ein Kreuz über dem Guckloch und ärgert sich, dass er mitten in der Nacht aufstehen musste. Wegen dieser Dirne. Ich könnte Rita vom Richter erzählen lassen, der sie und Hedwig wegen Plünderei nach Paragraf eins der Volkschädlingsverordnung zum Tode verurteilt, wegen zwei Großpackungen Präservativen, zwei Gummischürzen, einer Flasche Maschinenöl, zwei Kanistern Leinöl, sechs bis acht Pfund Zwiebeln, zwei Dosen Gurken, fünfzehn Dosen Gemüse, zehn Bündeln Holz, zehn bis fünfzehn Flaschen Wein. Ich könnte Rita aus der Urteilsbegründung zitieren lassen. Dass, wer sich an Hab und Gut der geschädigten Volksgenossen vergehe, sich außerhalb der Volksgemeinschaft stelle. Dass nicht umsonst in Mannheim überall Plakate angebracht seien mit der Aufschrift „Plünderer werden mit dem Tode bestraft“. Ich könnte sie vom Antrag des Staatsanwaltes berichten lassen. Dass das Weihnachtsfest bevorstehe, dass eine öffentliche Bekanntmachung durch Maueranschlag – doppelt auffällig in den Trümmern der Stadt – wenig wünschenswert sei und bis nach dem Fest zurückgestellt werden sollte. Ich könnte hinzufügen, dass Ritas Sohn kein Grab wird besuchen können. Dass die Leichen von Rita und Hedwig der Anatomie in Heidelberg übergeben werden. Dass Ritas Schwester nur die Kleider der Hingerichteten ausgehändigt bekommt. Ich könnte hinzufügen, dass der Richter nach dem Krieg seine Pension bezieht, dass der Staatsanwalt Karriere als Landgerichtsdirektor in Mannheim macht. Ich könnte Rita von der Angst erzählen lassen, der Angst vor dem einen Augenblick.

 

Es ist halb fünf. Gleich werden sie Rita holen. Um Viertel vor fünf wird sich der Henker vom ordnungsgemäßen Zustand des Hinrichtungsgerätes überzeugen. Um fünf werden sie ihr die Haare abschneiden, ihren Nacken ausrasieren. Um zehn nach fünf werden sie Rita in den Innenhof führen. Um elf nach fünf wird der Henker sie festschnallen. Um zwölf nach fünf wird das Beil fallen. Der anwesende Arzt wird die Todeszeit bescheinigen.

Unmittelbar danach werden sie Hedwig holen.

Ich führe Ritas Hand. Die Hand zittert. Als sie den ersten Buchstaben schreibt, lässt das Zittern nach.

 

„Mein Sohn, ich vermisse dich“, schreibt Rita auf das Blatt. Es ist der 22. Dezember 1943. Auf dem Gang hört sie Schritte.

Walter Landin

Walter Landin

Walter Landin braucht das Schreiben und ist froh, durch seinen Ruhestand nun mehr Zeit dafür zu haben. Und so sitzt er immer häufiger am Schreibtisch, wenn er nicht gerade mit Schnauzerdame Emmi die Wälder durchstreift oder seinem Enkelkind beim Wachsen zusieht. In seinen frühen Werken verarbeitete er viel Persönliches aus seiner Jugend: die totgeschwiegene NS-Zeit etwa oder das Aufwachsen in einem kleinen katholischen Dorf in der Pfalz. Heute hat der pensionierte Lehrer zu diesen Themen mehr Distanz gewonnen und kann über andere Dinge schreiben. Durch seine Begeisterungsfähigkeit kommen die Einfälle dann oft ganz von selbst.
Walter Landin

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