Glühwein, Bier und Berliner

von Hans Herbst, aus »La Sonrisa«

Weihnachten droht mal wieder. Im Radio »Ihr Kinderlein kommet« und ähnliche Sülze. Die sollen mir mit den Kinderlein bloß vom Hals bleiben, die Blagen hier im Haus reichen mir. Nicht, dass sie zu viel Krach machen, Kinder sind nun mal laut, waren wir auch, nichts dagegen, aber manchmal gehen sie mir doch auf die Nerven und dies war so ein Tag. Also raus aus der Bude und mal sehen, was auf dem Weihnachtsmarkt los ist, Ecke Heußweg-Osterstraße, nicht schlecht das kleine Ding, ganz familiär, alle nett, ­keine Abkoche, Nachbarschaft, man kennt sich.
»Tach, Willi, schmeckt der Glühwein?«
»Klar …, rülps, äh, Klasse.«
»Na, bitte. Hallo Elli, der Lütte wieder gesund?«
»Qietschfidel, und du?«
»Kann nicht klagen, die Hühneraugen machen sich. He, was muss ich da sehen? Ali, alter Sünder, Finger weg vom Alkohol.«
»Sag mal, spinnst du? Mit den paar Prozent ist das rote Brause. Prost.«
Das sind heimatliche Klänge und man fühlt sich zu Hause.
Ich geh runter, und vor der Tür hantiert Kevin an seinem Skateboard herum. »Tach, Kevin, was liegt an?«
»Rad blockiert, voll Scheiße das Ding, die Wichser da bauen nur Scheiße.«
»Welche, äh, Wichser?«
»Die Schlitzaugen.«
Kevin ist dreizehn Jahre alt und meint schon den Durchblick zu haben. Sein Vater ist Informatiker und seine ­Mutter macht Yoga. »Gib mal her das Ding.« Ich ­grabe mein Schweizer Taschenmesser aus der Tasche, ­klappe den Schraubenzieher aus den roten Griffschalen und bringe das Skateboard in Ordnung. Kevin starrt auf mein Werkzeug und ich klappe die anderen Preziosen aus. Zwei ­Messer, Korkenzieher, Säge, Dorn, Kreuzschrauber, Schere, ­Feile und Zahnstocher. »Geil«, sagt Kevin, »nicht von den ­Schlit­z­augen, oder?«
»Nee, von den Schweizern.«
»Was sind Schweizer?«
»Was sind Schlitzaugen?«
»Die sind voll Scheiße.«
Der Informatiker macht vermutlich zu viele Überstunden und die Mutter hat sich schon ins Nirwana geyogat. Soll ich alter Blödmann jetzt hier einen Vortrag halten? Nicht nötig, Kevin ist schon auf seinem Rollbrett unterwegs. Aber er wird nicht vergessen, dass ich das Ding in Ordnung gebracht habe und wenn’s mal mühselig werden sollte, könnte ich ihn zum Bierholen schicken.
Ich trabe los und auf dem Gehsteig dann das übliche Problem. Radfahrer. Der Gehsteig ist schmal und der Radfahrer ist eine Radfahrerin, groß und jung und nett anzusehen. Ich will keinen Ärger und mache ihr Platz, sie fährt ganz langsam, lächelt mich an, und ich sage höflich: »Ladys first«, und das Lächeln vertieft sich. Kann ja sein, dass sie Englisch versteht, dann habe ich ihr vielleicht den Tag gerettet. Na ja, eine gute Tat am Tag darf schon sein.
Und dann der Weihnachtsmarkt. Es ist mollig warm für Dezember, mittelblauer Himmel, die Damen zeigen Bein, und das weihnachtlichste am Weihnachtsmarkt ist ein Weihnachtsmann, der solide schwitzend herumsteht und sich eine Flasche Bier durch den Bart schiebt. Es gibt ein Kinderkarussell, eine Würstchenbude, drei Buden mit Süßkram und natürlich die Glühweinbude und die ist die größte. Alles ganz übersichtlich. Ich kaufe mir erstmal einen Berliner, ich mag diese dicken Kugeln mit der fetten weißen Glasur, die so süß ist, dass einem schlecht wird, und Marmelade mittendrin, die noch süßer ist und ­einem wird noch schlechter, und es ist ein Vergnügen, in diese Dinger reinzubeißen und sich hinterher das fettige Maul abzu­wischen. Mit dem Berliner gehe ich rüber zur Glühweinbude, Glühwein und Berliner, eine Mischung für ganze Männer. Oder vielleicht will ich mich einfach nur umbringen, keine Ahnung. Glühwein mit Schuss natürlich, eine Ladung Rum in das Gebräu, anders bringt man es gar nicht runter. Ich nage an meinem fettigen Süßteil und neben mir sagt einer: »Immer wenn ich, örps, Berli… äh, liner seh, hicks, muß ich an Willi Bra…, nee, nich an den, den nich, den annern, rülps, Kenne…, genau, Kennedy denkn, wo der in seine Rede gesaacht hat, hat, er hat gesaacht, ähh, was hat der, richtich, er hat gesaacht, ich will ein’n Berliner.«
»Aha.«
»Genau.«
Achtung, denke ich, jetzt gut aufgepasst, der Tag verspricht, richtig schön zu werden. Ich will den Herrn neben mir genauer ins Auge fassen, ein kleiner Dicker ohne Ex­tras, und wen sehe ich über seine Platte hinweg? Herbert von Kabeljau. Meine Güte, wie kann das sein? Unsere Kneipe gibt es schon lange nicht mehr, die ganze Mannschaft ist verschwunden, vermutlich vor Kummer gestorben, Fritz, der Tresenmann, soll in irgendeiner Hundehütte an der Dove-Elbe hausen, und wer tritt hier in mein trübes Blickfeld? Chefdirigent von Kabeljau, wie immer mit dezenter Eleganz, weißes Hemd, den zerschlissenen Burberry lässig offen, die alte Aktentasche mit den Notenblättern und dem Taktstock dabei, den einstmals braunen Hut gegen das rechte Ohr geschrägt und dem Gesichtsausdruck eines Mannes, dem sein Leibdiener davongelaufen ist, kommt er da über den Platz geschunkelt. Und direkt auf mich zu, er hat mich gesehen, und dann sagt er: »Für Dezember viel zu warm, schmeckt da der Glühwein überhaupt?«
Aha, alles klar, habe verstanden. »Herbert«, sage ich, »darf ich dich auf einen einladen, dann kannst du es selbst herausfinden.«
Bei Herbert muss man die Form wahren. »Nun ja, hm, hm, na gut, wenn es dich glücklich macht.«
»Und wie, Herbert, und wie.«
»Aber mit Schuss«, schiebt er schnell hinterher. Als er dann seinen Rüssel in die rote Tunke taucht und andächtig schlürft, ist das Problem warmer Wintertag und heißer Glühwein nicht mehr aktuell.
»Herbert«, sage ich, »dieser Herr hier«, ich deute auf den kleinen Dicken, der friedlich vor sich hinrülpst, »hat ­gerade behauptet, Kennedy habe damals in Berlin nicht gesagt, ›ich bin ein Berliner‹, sondern ›ich will einen Berliner‹. Was sagst du dazu?«
Herbert nuckelt an seinem Glühwein und sagt: »Denen gebricht es hier an Großzügigkeit.«
»Bitte?«
»Der Schuss ist ziemlich dünn ausgefallen.«
»Okay, noch einen Schuss für den Herrn, bitte.« Das stimmt ihn versöhnlich, Künstler sind sensibel.
»Berlin«, sagt er, »ich war auch mal in Berlin …«
»Ich weiß, Herbert, wo du mit Simon Rattle zusammen die Berliner Philharmoniker …«
»Sir Simon«, unterbricht er mich.
»Natürlich, ihr habt zusammen die Philharmoniker dirigiert und dabei ist dir dein Zylinder über die Augen gerutscht und du standest im Dunkeln.«
»Genau, eine musikhistorische Katastrophe.«
»Aber hier geht es nicht um deinen Zylinder, sondern um Kennedy, der in Berlin …«
»Nach dem bei uns die Kennedybrücke benannt ist?«
»Richtig.«
»Ist doch großartig, wenn eine Brücke nach einem Musiker benannt wird.«
»Wie war das?«
»Nigel Kennedy, der Geiger, kennst du natürlich nicht, weil du keine Ahnung von Klassik hast, ausgezeichnet, der Mann, große Klasse, mit dem würde ich gerne mal die »Vier Jahreszeiten« machen, meinen Taktstock habe ich ja dabei.«
Ich wische mir mein fettiges Maul, das den Berliner erledigt hat, und denke, dass es vielleicht sinnvoll wäre, Herbert mit noch einigen Glühwein zu versorgen, mit Schuss, versteht sich, und dann einen Dialog zwischen ihm und dem kleinen Dicken anzuschieben. Es könnte etwas Interessantes dabei herauskommen, Nigel Kennedy geigte auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses die »Vier Jahreszeiten« und sang dabei »ich will einen Berliner«, irgendetwas in der Art. Ich wollte zur Tat schreiten und das Getränk bestellen und siehe da, wer erscheint auf der Bildfläche? Sigi, die permanente Revolution. Er trägt immer noch die Baskenmütze mit dem roten Stern vorne dran, die gefleckte Kampfhose, und unter seiner Lederjacke mit Sicherheit das amtliche Che-Guevara-Hemd. In seinen Fusselbart haben sich ein paar graue Strähnen gemischt. Er hebt die rechte Faust und grölt: »Viva la Revolutzioon.« Ein Hamburger, wie Herbert und ich. Herbert hebt sachte eine Augenbraue und macht: »Tz, tz, tz.« Sigi nestelt die alte Feldflasche mit dem Filzüberzug vom Gürtel und nimmt einen Zug, dass es nur so gurgelt. Es ist mit Sicherheit der gute, alte Rumverschnitt, den er sich da einlaufen lässt, aus Solidarität mit Kuba, wie er immer behauptete, Hansen Blau heißt das Zeugs und ist etwas für Leute, die sich vor nicht allzu viel mehr fürchten müssen und Magenwände aus Beton haben. Oder gar keine.
»Sigi«, sage ich, »was macht die Weltrevolution?«
»Ist in Arbeit.« Ein einfacher, klarer, schöner Satz. Er hakt die Flasche wieder an den Gürtel und fummelt in seinen Taschen herum. Vermutlich sucht er das revolutionäre Kleingeld. Er betrachtet dann aufmerksam die Münzen in seiner Hand und fragt: »Was kostet ein Glühwein?«
»Zweifuffzich.«
»Und mit Schuss?«
»Dreifuffzich.«
»Irre, Mann, kann sich der Proletarier doch gar nicht leisten.« Und bestellt flugs einen mit Schuss.
Nun will ich natürlich seine Meinung zu dem Berlinerproblem hören und trage es vor, wobei ich auf den kleinen Dicken deute. Der peilt in sein Glas, wobei er es dicht vor sein linkes Auge hält und das rechte dabei zukneift. Das Glas ist leer. Und Sigi nimmt sich der Berlinerfrage an und doziert: »Kennedy war nie ein Berliner, der war ein ­Vertreter des Großkapitals, der von revolutionären Kräften, ähh, emiliniert worden ist. Mausetot.«
Herbert zuckt zusammen und jault: »Waaas? ­Kennedy ist von uns gegangen, er geigt nicht mehr, mein Gott, dann fallen die »Vier Jahreszeiten« mit ihm flach? Furchtbar, furchtbar ist das, welch ein Verlust, ich fasse es nicht, ähh, könntest du mir auf den Schreck vielleicht noch einen Glüh…«
»Klar, Herbert, ist gemacht.«
»Aber mit Schuss, ja, jetzt brauche ich wirklich etwas Starkes, sonst stehe ich den Tag nicht durch.« Damit meint er einen doppelten Schuss. Sigi starrt ihn an, wie man wohl einen Baum anstarrt, der mit den Wurzeln nach oben wächst. Oder einen Menschen, der in der einen Hand eine brennende Zigarette hält und in der anderen eine ebensolche Zigarre und sich an beiden bedient. »Herbert«, sagt er vorsichtig, »alles okay mit dir?«
»Der Schmerz«, haucht Herbert, »der Schmerz«, und saugt heftig an dem Glühwein. Und dann: »Verdammte Scheiße, jetzt hab’ ich mir die Schnauze verbrannt.« Er hustet stark. Und revolutionäre Kräfte hatten Kennedy emiliniert. Hochinteressant. Der kleine Dicke peilt immer noch in sein leeres Glas und weint. Ich lasse ihn weinen. Sigi deutet auf Herbert und sagt: »Hat er mit Kennedy gegeigt oder wie soll ich das verstehen?«
»Vielleicht«, sage ich, »oder vielleicht auch nicht, kommt ganz drauf an.«
»Genau. Und was faselt er da von den vier Jahreszeiten, die flachfallen? Ich mein, heutzutage mit der ganzen Umweltverschmutzung aus der kapitalistischen Industrie ist ja alles möglich, oder? Mit der modernen Technik, oder? Hinterhältige Flugmaschinen und so und peng, keine Jahreszeiten mehr. Muss man sich mal in’n Kopp tun. Wahrscheinlich wollen die damit den Sozialismus ausrotten, komplett. Aber nicht mit mir, sag ich dir, mit mir nicht.« Er nimmt einen größeren Schluck von seinem Glühwein und gibt einen Schuss Hansen Blau aus der Feldflasche dazu. »Mit mir nicht, Alter.«
Wie es scheint, ist mit Sigi die Berlinerfrage auch nicht zu klären. Aber vielleicht mit der Dame, die sich gerade mit einigem Zögern vom Würstchenstand löst und ihre fetten Finger leckt. Die dicke Waltraut. Sie hat uns wahrgenommen und kommt rübergewalzt, ihre Massen in einen weiten Fummel gehüllt, der wie ein Dreimannzelt bei Sturm um sie herumflattert und einen mächtigen Schal um den Hals. Sie macht ganz den Eindruck einer ­Königinmutter, der ihre Leibärzte geraten hatten, sich nicht zu erkälten.
»He«, schreit sie, »was ist hier los? Klassentreffen? Der Glühwein ruft und alle, alle kommen? Mensch, Herbert, du siehst klasse aus, immer in Bewegung, was? Beim Dirigieren schlank geblieben.« Damals pflegte Herbert bei uns in der Kneipe die Stones und ähnlich Kaliber zu dirigieren. Er lächelt geschmeichelt und deutet, ganz alte Schule, eine Verbeugung an und wäre dabei fast vorneüber gekippt. Glühwein mit doppeltem Schuss ist kein Kleinkram. »Und du, Sigi, du wolltest doch immer nach Kuba wegen Idio… nee, Ideololo…, meine Fresse, wegen Politik und so.«
»Nicht so laut, Waltraut«, Sigi blickt sich schnell nach allen Seiten um und senkt dann die Stimme. »Ich bin bereit, aber der Befehl zur Abreise ist noch nicht durch.«
»Befehl?«
»Na klar, von ganz oben.«
»Wer soll dir denn einen Befehl von ganz oben geben? Der Weihnachtsmann?«
»Mensch, bist du blöd.« Er sieht sich noch einmal nach allen Seiten um, hält eine Hand seitlich an den Mund und flüstert: »Der Commandante, wer sonst.«
In Waltrauts kleinen Augen stehen ein paar Fragezeichen und sie sagt: »Die sollen da verdammt guten Rum haben.«
»Das auch«, sagt Sigi.
Und dann beschäftigt Waltraut sich mit mir. »Na, alte Socke, immer noch Whisky, Bier und junge Mädchen?«
»Junge Mädchen nur zum Frühstück«, sage ich, und sie lacht und einige Glühweingäste zucken sichtbar zusammen. Ich mache sie mit dem Berlinerproblem bekannt und sie hebt einen Zeigefinger. »Du bringst mich auf eine Idee.« Und entschwebt zur Süßkrambude. Wie es scheint, ist dies nicht der Ort, um Probleme von Weltgeltung zu lösen.
Aber das mit dem Klassentreffen war nicht ganz falsch, nur, es ist das Fragment einer einstmals stolzen Klasse. Wo sind sie geblieben, Lotto-Werner, Jürgen Okawamumbo, Susi mit den langen Beinen, ach, war sie süß, Rabatt-Rudi, der Fahle Heinzi, Kupplungs-Günther, Otto der Karpfen, Fritz, Cognac-Lisl und meinetwegen auch Herr Hansen vom Ordnungsamt? Vom Sturm des Lebens an fremde Küsten gespült? Wer weiß das schon. Unsere Kneipe war ja in die Grütze gegangen, weil dem Inhaber der Laden nicht mehr zeitgemäß vorgekommen und er von Opel auf Audi umgestiegen war und anfing, Tag und Nacht Ray Ban Sonnenbrillen zu tragen und sich die Nase zu pudern. Fritz wurde entlassen und so ein Jungdynamiker mit gegelter Haartolle zog ein und baute um. Der schöne, alte Tresen flog raus, die alten Holztische, die Geschichten erzählen konnten, wenn es ganz still war, das Flaschenregal und die alte Bierzapfanlage, die noch mit Kohlensäure lief und langsam gezapfte Biere mit schöner Krone produzierte, wie es sie heute nicht mehr gibt. Und dann fiel ein sogenannter Stardesigner über die Räume her und jetzt hocken sie da, die Stardesigner und Stararchitekten und Starfriseure und Starköche und Staridioten und wir sind außen vor. Ist nicht mehr unsere Welt, und die Preise auch nicht. Weil wir alt geworden sind? Hat damit nichts zu tun. Im Gegensatz zu den Einheitsköpfen mit ihren blondierten Hühnern da in der Starlounge, Lounge heißt das Ding jetzt, sind wir Individuen und haben Stil. Immer noch.
Okay, altes Haus, das reicht, nur keine Sentimentalitäten, lieber noch einen Glühwein mit doppeltem Schuss. Oder besser nicht? Das süße Zeug klebt mir die Zunge wie mit Patex gegen den Gaumen. Ob die hier auch Bier haben? Haben sie, gerettet. Kühl und frisch und leicht bitter erledigt der Stoff den klebrigen Süßkram. Und Sigi sagt zu Herbert: »Du solltest mal einen Marsch komponieren, der die Massen mitreißt, so umpfda umpfda umpfda rums bums rums tätärätä tätärätä zong dong bong undsoweiter, das wär doch mal was, und die Leute sagen, geiler Marsch, voll sozialistisch.« Herbert hat mittlerweile den dritten Glühwein mit Doppelschuss weggesteckt und nuschelt: »Also so was«, mit diesem klassischen Unterton aristokratischer Herablassung, und Sigi sagt: »Genau so was, haargenau.« Herbert hebt nur eine Augenbraue und sagt gar nichts. Waltraut kommt zurück und ich frage: »Wo ist der Berliner?«
»Hab ich schon verschluckt, gleich zwei. Die haben hier auch Bier, wie ich sehe?« Kaltes Bier auf zwei fettige, süße Berliner, da erkennt man doch gleich den echten Gourmet. Wir sind immer noch eine gute Mannschaft.
Kindergeschrei dringt an mein Ohr. Was ist los? Freibier, nackte Weihnachtsengel, Jesus? Der Krawall kommt von dem kleinen Karussell herüber, es ist in Betrieb, dreht sich, die kleinen Autos, der Feuerwehrwagen mit der Glocke, die Kutsche, die kleinen Pferde, Drehorgelmusik leiert und, Moment mal, das kann nicht angehen, ich brauche eine neue Brille, hab mich verguckt, oder? Ich rücke die Brille zurecht und stelle fest, dass ich mich nicht verguckt habe. Auf einem der kleinen Pferde hockt, man denkt es nicht, Kupplungs-Günther. Die Kinder feuern ihn an und er gibt richtig Gas, hat sich weit nach vorn gebeugt, haut dem Tier die Sporen in die Weichen und schreit: »­Yippieee.« Er reitet eindeutig in scharfem Galopp über die Prärie, vielleicht sind Indianer hinter ihm her. Wir stehen ganz still und beobachten gebannt seinen wilden Ritt, hoffentlich fällt er nicht runter, er hält die Zügel zu locker. Was wird sein, wenn der Gaul mit ihm durchgeht? Aber er hat ja seinen Motorradhelm auf, jetzt reißt er ihn vom Schädel, mein Gott, Günther, wie leichtsinnig, und schwenkt ihn wild in der Luft herum wie die Cowboys ihre Hüte bei den Rodeos. Er ist wohl weg von der Prärie und zeigt seine Reitkünste, ruckelt auf und ab, aha, der Gaul bockt, aber Günther hält sich eisern im Sattel und die Kinder schreien: »Yipieee«, und die Glocke von der kleinen Feuer­wehr bimmelt, die Drehorgel legt noch einen Zahn zu und hat jetzt den Can Can von Offenbach am Wickel. Ich verschlucke mich an meinem Bier, Herbert sagt: »Also so was«, und dann dreht sich das Karussell langsamer, dem Offenbach geht die Puste aus, immer langsamer, und dann steht es still und Günther steigt aus dem Sattel. Dabei fällt ihm sein Helm runter. Er hebt ihn auf, die Kinder schreien »Hurra«, er hebt die Hände zum Boxergruß, und der Helm fällt ihm runter. Den Kindern gefällt das und sie schreien: »Noch mal reiten, noch mal reiten.« Günther wedelt mit einem Zeigefinger und zeigt dann auf seinen Arsch, womit er wohl andeuten will, dass er sich das edle Teil durchgeritten hat. Er setzt den Helm wieder auf, so ein voluminöses Ding mit einem Augenschutz, ein Visier sozusagen, das er hochklappt, und bahnt sich einen Weg durch die Masse seiner Fans. Waltraut wedelt wild mit den Armen und er sieht uns und kommt herüber. »Meine Güte«, sagt Herbert, wobei er sich um klare Aussprache bemüht, »warum hast du diesen Affenzirkus da veranstaltet?«
»Warum nicht?«, fragt Günther.
Darauf hüte ich mich, eine ähnliche Frage zu stellen. Mich hätte nicht gewundert, wenn er gesagt hätte: »Ich wollte mal ne Runde reiten.«
»Günther, ich glaube, du bist einer, der die Massen begeistern kann, wir sollten mal’n paar Takte miteinander reden.« Sigi, die permanente Revolution, wer sonst.
»Keine Zeit für so was.«
»Warum nicht?«
»Muss mich ums Geschäft kümmern.« Hoppla, wenigstens einer von uns, der es zu was gebracht hat. Macht Günther jetzt auch Haushaltsauflösungen?
»Bin jetzt Frisör«, sagt er, »Spezialist für Glatzen.«
Na bitte.
»Heidi hat’n Frisörladen aufgemacht, und wenn so’n Typ reinkommt, der ne Glatze will, wollen ja viele heutzutage, und Heidi hat grad keine Zeit, weil sie so ner alten Dame ne Dauerwelle reinschraubt, bin ich dran. Paarmal mit’n Rasenmäher über die Birne, blankpoliert, zack, ­fertig, elf Mark, kann jeder Idiot, brauchst du nich mal für inne ­Lehre gehn.«
Na, das ist doch was, Kupplungs-Günther der Erfolgsmensch, hätte ich nie gedacht. Wie man sich doch täuschen kann. Nur seine Stimme klingt ein bisschen verschwommen, weil der Helm auch den unteren Teil des Gesichtes bedeckt und nur die Augen frei lässt. Integralhelm heißen diese Dinger, wenn mich meine Fachkenntnis nicht täuscht. Soll ich ihm das Berlinerproblem vortragen? Ob er je von Kennedy gehört hat? Oder gelesen? Als Glatzenfrisör ist er ja nun im Geschäftsleben zugange, was vielleicht günstigen Einfluss auf seine politische Bildung hat. Ich bin noch am Überlegen, als mir etwas einfällt. Wie ist dieses Treffen hier eigentlich zustande gekommen? Zufall, oder war da etwas verabredet? »Leute«, sage ich, »wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen, alle waren verschwunden, und jetzt trifft sich hier die Hälfte der alten Mannschaft. Wie ist das zustande gekommen?«
»Ganz einfach«, spricht Chefdirigent Herbert von Kabeljau mit Tremolo in der Stimme, »wir sind auferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel«, er deutet auf die Glühweinbude, »sitzend zur Rechten des Weihnachtsmannes zu richten über Würstchen, Glühwein und Berliner.« Seine Aussprache war etwas undeutlich, aber das ändert nichts an der Schönheit des Textes. Ich hatte nicht gewusst, dass Herbert religiös ist.
»Geiler Spruch«, sagt Günther und nickt heftig mit dem Kopf. Dabei klappt sein hochgestellter Augenschutz, sein Visier, runter, das dunkel ist wie eine Sonnenbrille und den Rest des Gesichtes verdeckt. Jetzt, denke ich, ist der Moment gekommen, ihn mit dem Berlinerproblem zu konfrontieren. Das ist schnell getan und sehr bald kommt es dumpf aus dem Helm: »Der war doch geil auf die Weiber, Marilyn Monroe und so, und wahrscheinlich hat der gesagt, ich will eine Berlinerin, hä, hä, hä, hä.« Wenn älter werden auch klüger werden bedeutet, hier ist der Beweis erbracht. Eine Stimme, der man deutlich die Jahre mit Bier und Branntwein anhört, ich kenne mich damit aus, übertönt meine Betrachtungen. »Leute, ich geb’ einen aus.« Köpfe drehen sich und wer steht da und grinst? Lotto-Werner. Ich kapier überhaupt nichts mehr. Lotto-Werner, fein in Schale, mit Schlips und geputzten Schuhen und nagelneuen Zähnen. Ich hatte ihn anders in Erinnerung, ganz anders. Ich erinnere mich, wie er mich mal um ein Bier angehauen hat, weil seine Alte ihn auf Diät gesetzt hatte, will heißen, das Taschengeld gestrichen. »Mensch, Werner, alte Socke«, grölt Günther aus seinem Kopfschutz, »hast du im Lotto gewonnen?«, und Werner sagt: »Wer ist denn der Schwachkopf ?«
»Rat mal«, sage ich und Werner kraust die Stirn und dann lacht er. »Na klar, Günther, Mann, fast hätte ich dich nicht erkannt.«
Wie hat er das jetzt gemacht? Die Stimme kann’s nicht gewesen sein, die klang wie aus einem Gully. Ach ja, ganz einfach, Günther trägt immer noch die alte Lederjacke, Stiefel und speckige Jeans, sein Status als Geschäftsmann hat auf seine Kleiderwahl keinen Einfluss gehabt. Aber wie kommt Werner zu seinem feinen Zwirn? Der ­Mantel könnte von der Kleiderhilfe sein, aber nicht die neuen Zähne, die durch sein breites Grinsen blinken. »Hab nicht im Lotto gewonnen«, sagt er, »hab mich scheiden lassen.« Meine Güte, Werner müsste jetzt so gegen siebzig sein und trennt sich von seiner Alten, vermutlich wegen divergierender Ansichten über das häusliche Bruttosozialprodukt. Respekt. »Und hab neu geheiratet«, fährt er fort, und sein Grinsen wird noch breiter. Aha, und die Dame ist bei Kasse. Gut gemacht, Werner. Er schmeißt eine Runde, und Herbert nuschelt natürlich: »Doppelten Schuss.« Günther will gar nichts, weil er noch fahren muss, er muss das wiederholen, weil sein Geblubber aus dem Helm einigermaßen undeutlich ist, aber sonst ist alles ganz normal. Wir heben feierlich die Gläser und trinken, und dann kommen, geht ja nicht anders, die Weißtdunoch-Geschichten. Wie Herbert Herrn Hansen vom Ordnungsamt so ins Kreuz gehauen hat, dass dem das Gebiss mitsamt Zigarre rausgeflogen und über den Tresen gesegelt ist, wo es in die Spüle klatschte, oder wie Rabatt-Rudi mit einem Baby ankam, und wir dachten, er hätte es geklaut oder wie Fritz zu Herrn Hansen sagte, er heißt Fritz the Cat und der sagt, buchstabieren Sie das mal und Fritz sagt SEKÄT. Oder wie Jürgen Okawamumbo gesagt hat, Jesus hatte aber einen längeren Bart als Che Guevara. Jeder hat eine Geschichte auf Lager und wir lachen und kichern und kriegen uns überhaupt nicht mehr ein. Waltraut schmeißt die nächste Runde, Herbert trinkt auf Ex, verbrennt sich wieder das Maul und fällt um. Der Budenwirt beugt sich über den Tresen und sagt: »Den müsst ihr aber wechräumn.« Wir hieven ihn wieder auf die Füße und er sagt sehr klar und deutlich: »Ein Bier bitte.« Sein Hut hat bei dem Fall etwas gelitten und ich beule ihn aus, setze ihn wieder an seinen Platz. Wir besorgen ihm dann einen Kaffee, er trinkt ihn, ohne allzu viel zu verschütten, und sagt: »Bin nicht mehr im Training.«
So nach und nach holen sich alle einen Kaffee, bis auf Günther, der seinen Kopfputz wohl nicht verlassen will, und mir wird klar, wir sind alle nicht mehr im Training. Nicht mehr in Form, um es deutlich zu sagen. Und irgendwann sind alle weg, tschüs, man sieht sich, wenzeremos, Sigi natürlich, ich muss mal auf’n Pott, Waltraut, Alter, wenn du mal’n Haarschnitt brauchst, hä hä, der Glatzenspezialist, und ich steh da an dem Tresen von der Glühweinbude, und der kleine Dicke ist auch verschwunden.
Ich gehe nach Hause, und vor der Tür treffe ich ­Kevin. Er werkelt jetzt an seinem Fahrrad herum und grinst. »Ich hab dich aufm Weihnachtsmarkt gesehen, du warst da mit’n paar Leuten. Ich glaub’, ihr habt ordentlich Quatsch gemacht, ihr wart nämlich ziemlich gut in Form, viel ­besser als die anderen, die da rumstanden.«
»Danke, Kevin.« Ich hatte doch gewusst, dass es ein schöner Tag werden würde. Später fällt mir ein, dass ich Werner gar nicht mit dem Berlinerproblem bekannt gemacht habe. Na, vielleicht im nächsten Jahr.

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Ein Gedanke zu “Glühwein, Bier und Berliner

  1. „(… )und das weihnachtlichste am Weihnachtsmarkt ist ein Weihnachtsmann, der solide schwitzend herumsteht und sich eine Flasche Bier durch den Bart schiebt.“

    Klasse, besser kann man’s nicht ausdrücken. 🙂

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