Der Wunschzettel

Zu Weihnachten darf man sich etwas wünschen. Ich wünsche mir wie immer eine Kiste Rotwein. Nichts Besonderes, vielleicht einen Chateau Margaux 1er Cru Classé. Da gibt es die Flasche schon für unter 100 Euro.
Ich werde diesen herrlichen Bordeaux wie immer nicht bekommen. Und ehrlich gesagt nervt es mich zunehmend, dass ich zu Weihnachten nie bekomme, was ich mir wünsche. So wünsche ich mir ja auch schon lange, dass es einigen Leuten endlich an den Kragen geht.
Sie kennen das bestimmt. Dieses Gefühl, dass endlich mal einer was tun müsste, damit der angeblich so nette Nachbar zur Rechten oder der stadtbekannte Fiesling oben aus dem Dorf endlich mal das bekommen, was sie verdienen. Einen auf die Finger nämlich.

Mir reicht es jedenfalls. Ich werde nicht länger warten. Ich werde mir die Kiste Chateau Margaux bestellen. Gleich morgen. Und ich werde sie mir vorknöpfen. Diese Leute, die immer ungeschoren davonkommen.

Ich wohne in Brackwede. Hier werde ich anfangen. Hier gibt es genug zu tun. Zeit für die Bescherung.

Der Ort meiner ersten weihnachtlichen Wunscherfüllung wird direkt an der Hauptstraße liegen. Ein weißer Lieferwagen wird vorfahren. Der Fahrer wird sich nicht die Mühe machen, eine Parklücke zu finden. Das wäre ja sowieso ein aussichtsloses Unterfangen. Er wird in zweiter Reihe parken. So, dass er die nächste Straßenbahn der Linie 1 in Richtung Endstation Senne blockieren wird. Das alleine wäre ja schon ein mörderischer Spaß. Der Straßenbahnfahrer wird fluchen, das nutzlose Ge­bim­mel aus seinem Führerhaus wird die Aufmerksamkeit der Passanten erregen. Die Fahrgäste in der Bahn werden laut aufstöhnen. Die Autofahrer, hoffnungslos eingekeilt und ihrer ach so geliebten Mobilität be­raubt, werden fluchen. Perfekt. Alle Aufmerksamkeit auf den Fahrer. Möge die Show beginnen.

Und die Show geht so: Der Zusteller steigt aus: „Ent­schul­digen Sie, weiß irgendjemand, wo ich diesen Mann finde?“ Er hält ein Paket hoch, darauf ein Adressaufkleber. Die Passanten schauen genau hin.
„Ja, ja. Das ist hier. Hier, die Hausnummer. Der wohnt hier, im zweiten Stock, glaube ich.“ Der Zusteller stellt sich etwas begriffsstutzig an und wiederholt schön laut, damit es auch wirklich jeder mitbekommt:
„Also, dieser Herr hier, der dieses Paket bekommt, wohnt hier oben, zweiter Stock.“
„Ja, ja. So ist es“, mischt sich ein zweiter oder dritter Passant ein. Auch aus dem Haus sind mittlerweile Menschen herunter auf die Straße gekommen. Das schrille Klingeln der Straßen­bahn und die hupenden Autofahrer zeigen Wirkung.
Einige der Passanten, sicher auch die Mieter, richten ihre Aufmerksamkeit schließlich auf den weißen Lieferwagen.
„Uranus – Erotikversand. Diskrete Lieferung garantiert“, steht drauf.
Der Zusteller hat es jetzt eilig und wirft das Paket einem der Mieter zu.
„Keine Angst, ist nicht schwer. Ist so ’ne aufblasbare Sex­puppe drin. Geben Sie ihm die und richten Sie Ihrem Nach­barn schöne Grüße vom Uranus-Erotikversand aus. Danke, dass er Kunde bei uns ist.“
Sprichts, springt in seinen Lieferwagen, hupt kurz und verschwindet.
Die Insassen der Straßenbahn, die kurz ausgestiegen sind, um alles besser mitzukriegen, beeilen sich, wieder in den Wa­gen zu kommen. Die Straßenbahn fährt weiter, gefolgt von den wütenden, kopfschüttelnden Autofahrern.
Einige Passanten, vor allem aber die Mieter aus dem Haus, bleiben noch länger stehen.
„Was war denn das?“, fragt ein älterer Herr mit Hut.
„Ist das wirklich für den Typ aus dem zweiten Stock?“ Die Mieterin aus dem Dritten hatte nur kurz eine dünne Strick­jacke übergeworfen, bevor sie auf die Straße gelaufen war, um der Ursache des Trubels unten nachzugehen. Jetzt friert sie, kann sich aber nicht entscheiden, wieder ins Warme zu gehen.
„Sieh an, sieh an; ’ne Gummipuppe. Wer hätte das von ihm gedacht“, fasst der bärtige Student aus dem ersten Stock das Geschehen zusammen. Ihn hatte die laute Episode aus dem Schlaf gerissen. Es ist erst kurz nach elf Uhr.
„Ferkel!“ Das kommt von der Frau des Hausmeisters, die ihr Leben der Sauberkeit verschrieben hat und für die Ferkel deshalb ganz oben auf der Skala der schlimmen Schimpf­wör­ter steht.
„Da steht noch was an der Seite geschrieben!“ Obwohl noch nicht ganz wach, ist dem Studenten die handgeschriebene Notiz am Paket nicht entgangen.
Der Mieter, immer noch verdutzt das Paket in der Hand haltend, dreht dieses nun vorsichtig und langsam um, als hätte er die Befürchtung, die Gummipuppe könnte bei einer unvorsichtigeren Bewegung explodieren oder – schlimmer noch – sich selbst aufblasen und in voller Schönheit dem Karton entsteigen. (Der Mieter hat eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was in dem Karton ist, kann das aber aus verständlichem Grund hier jetzt nicht kundtun).
Mit einem leichten Timbre in der Stimme liest er seinen Mitmietern und der sonstigen interessierten Öffentlichkeit vor:

Liebe Hausbewohner, Ihr lieber Nachbar ist übrigens auch ein ganz unverschämter Spanner. Heben Sie Ihre Köpfe und beachten Sie die zwei Margeriten-Bäumchen vor seinem Küchenfenster. Sie dienen ihm als hervorragendes Versteck für sein Tun. Mittels Fernrohr und Fernglas (letzteres sogar mit Restlichtverstärker) verschafft er sich tiefe Einblicke in nahezu sämtliche Fenster des Hauses gegenüber. Seien Sie doch bitte so freundlich und informieren Sie Ihre Mitbürger auf der anderen Straßenseite. Am besten sofort. Und sollten Sie nicht darüber nachdenken, ob Sie mit einem dermaßen verdorbenen Individuum weiter unter einem Dach leben wollen?
Liebe Grüße von Ihrem Uranus-Erotikversand.

Gute Show soweit. Guter Schlussgag. Wenn er wirkt, werden die Hausbewohner jetzt viel zu tun und zu besprechen haben. Ein Teil wird sofort eine Art Taskforce bilden, mit einer ordentlichen Portion Wut ausgestattet die gegenüberliegenden Wohnungen aufsuchen und in einer Art Erstschlag­strategie so viele Bewohner wie möglich sofort vor dem Un­hold warnen. Die jetzt gar nicht mehr bibbernde, sondern vor Entrüstung erhitzte Frau mit der leichten Strickjacke wird ihre Wohnung für den Abend zur Verfügung stellen, damit die Einheit derer, deren Augen über den miesen Cha­rak­ter ihres Mitmieters jetzt geöffnet sind, gezielte Maßnah­men gegen eben diesen zu planen beginnen kann.
Und oben am Küchenfenster im zweiten Stock wird ein Schatten unruhig hin und her wandern – unzureichend versteckt hinter zwei prachtvollen Margeriten-Bäumchen.

Viel Spaß bei dem, was jetzt über dich hereinbricht, Ferkel aus dem zweiten Stock. Du hast es dir verdient.

So oder so ähnlich wird es passieren. Sie nennen es vielleicht einen harmlosen, vielleicht einen geschmacklosen Streich. Nicht würdig, an dieser Stelle überhaupt Erwähnung zu finden. Nun gut. Vielleicht finden Sie es ja auch richtig, dass da mal jemand was auf die Finger bekommt. Der Kerl aus dem zweiten Stock jedenfalls ist schon länger fällig. Eine Freundin hat mir von ihm erzählt. Ich hab ihn mir schon mal vorgeknöpft, aber gut zureden hilft offenbar nicht. Deshalb also so. Das hilft bestimmt.
Das finden Sie gut? Das kann man ruhig mal machen, denken Sie? Okay, schauen wir mal, wie weit Sie mir folgen werden.
Denn für mich ist dieser Streich nur eine Fingerübung – zum Aufwärmen sozusagen. Und zum Lernen.
Wichtig ist die Wahl der Waffen und der richtige Ort, sie einzusetzen. Wo bekommt man mehr Öffentlichkeit als in dieser vermaledeiten Brackweder Hauptstraße. Halte den Ver­kehr auf und du bekommst alle Aufmerksamkeit, die du brauchst. Der Lieferwagen macht die Sache dann richtig rund. Buchstaben zum Aufkleben sind schnell gedruckt. Die Leute glauben, was sie sehen. Wenn man es ihnen denn unter die Nase hält. Darauf kann man bauen – und aufbauen.

Denn das nächste Opfer ist eine viel härtere Nuss.

Im Frühjahr kommenden Jahres, es wird eher April sein als März, wird das Telefon in der Polizeiwache Süd am Südring in Brackwede klingeln. Wenn alles so klappt, wie ich mir das vorstelle, wird der Anruf an einem Montag eingehen – so gegen 6:30 Uhr in der Früh.
Der diensthabende Wachführer wird den Anruf entgegennehmen und sicher lange nicht vergessen.
„Hier Mann!“, die Stimme am anderen Ende der Leitung wird mit Sicherheit sehr erregt klingen.
„Hier Polizei!“, wird der Wachführer in aller Ruhe entgegnen.
Gut so. Alle auf ihre Positionen! Denn es ist angerichtet. Vorhang auf, das Spiel beginnt.

„Hier Mann. Mit Hose ohne!“ Die Stimme der Frau am Tele­fon klingt schrill.
Der Beamte richtet sich in seinem abgegriffenen Drehstuhl auf, justiert sein Headset und atmet tief durch.
„Was genau möchten Sie melden? Wer sind Sie und wo?“
„Ich Ioulia. Helfen machen sauber Schule. Und Halle für Turn. Auf Platte Ping-Pong sitzt alter Mann. Mit Hose ohne.“
Der Wachhabende hält kurz das Mikrofon seines Headsets zu und winkt zwei Beamte, die sich auf ihre frühmorgendliche Streifenfahrt vorbereiten, zu sich.
„Fahrt mal bitte schnell zum Gymnasium runter. Da treibt sich offenbar ’nen Exhibitionist rum. Bei den Tischtennis­platten.“
Dann wendet er sich wieder der aufgeregten Frau zu: „Wir schicken jemanden hin. Ist der Kerl noch da?“
„Kerl noch da. Kann auch nicht weg. Muss bleiben.“
Der Beamte runzelt die Stirn: „Wieso? Was haben Sie mit ihm gemacht? Warum kann der nicht weg?“
„Ich nichts gemacht. Aber Mann ist fest mit Schnur. Und Kleber vor Mund. Und Arsch ganz nackt auf kalte Platte.“
„Bleiben Sie, wo Sie sind.“, raunt der Beamte. „Wir sind gleich bei Ihnen!“

Ioulia Papadopoulou tut, wie ihr geheißen. Die 46-jährige Griechin ist mit den Nerven am Ende. Wie jeden Morgen ist sie die erste gewesen auf dem Schulgelände.
Sie gehört zum Reinigungsteam vor allem für die Sporthalle des Gymnasiums. Sie wohnt nicht weit. Geht morgens von der Sauerlandstraße über den Sportplatz zur Turnhalle. Fast hätte sie sich gar nicht nach rechts zu den Tischtennisplatten umgedreht. Sie tut es aber doch. Und bereut es jetzt zutiefst.
Der Trubel, der um sie herum herrscht, überfordert sie. Die Auffindesituation des Opfers, wie das im Polizeijargon so unübertroffen heißt, hat unmittelbar zu einem beeindruckenden Aufmarsch der Staatsgewalt geführt. Mehrere Streifenwagen und ein Rettungswagen der Feuerwehr haben sich augenblicklich auf den Weg gemacht und füllen nun das Dreieck zwischen Gymnasium, Sportplatz und Dreifach-Turnhalle. Das wiederum hat sämtliche Schülerinnen und Schüler nicht nur des Gymnasiums, sondern auch der benachbarten Realschule an­gelockt. Alle bemüht, einen guten Blick auf die Ereignisse rund um die Tischtennisplatten auf dem Schulhof zu bekommen. Wer das Glück hat, früh genug dagewesen zu sein, ist jetzt stolzer Besitzer einiger Handy-Videos, die den armen ältlichen Herren in seiner unfreiwillig komischen Pose zeigen. Die ersten haben schon ihren Weg ins weltweite Netz gefunden.
Was sie zeigen, hat schon einige „likes“:

Schwenk runter vom Kopf des Unglückseligen. Graues Haar, wirr abstehend. Weit geöffnete Augen, sich rasch hin und her bewegend. Schwarzes, extra breites Gewebeband über dem Mund. Die schmalen Schultern deutlich nach hinten gebogen. Kamera­bewegung um den Mann herum nach hinten und an den Armen nach unten, bis die Hände ins Bild kommen. Sie umfassen das niedrige Gitter aus Metall, dass der Beton-Tisch­tennisplatte als Netz dient. Langsamer Ranzoom auf die Hand­gelenke. Weiße Kabelbinder.
Kameragang zur Seite und (je nach Mut des Handy­be­sitzers) nach unten: schneller, meist verwackelter Reiß­zoom auf den nackten Hintern.

Mittlerweile haben Rettungssanitäter den Mann aus seiner misslichen Lage befreit. Die Kabelbinder durchgeknipst und vorsichtig den derben Klebestreifen von seinem Mund entfernt. Ihm von der Tischtennisplatte heruntergeholfen. Ihm eine wärmende Goldfolie um die Schultern gelegt. Und seine Hose hochgezogen.
„Wie geht es Ihnen? Was ist passiert?“
Der ältere Mann grinst.
„Joghurt. Ich habe Appetit auf Joghurt.“
Einer der Rettungssanitäter leuchtet dem Mann zunächst ins rechte, dann ins linke Auge.
„Wer sind Sie? Können Sie mich verstehen?“
„Erdbeer-Joghurt wäre nett.“
Ohne Rücksicht auf die vielen Fragen, die die zwei Krimi­nal­beamten, die vom Polizeipräsidium in der Kurt-Schu­macher-Straße zum Ort des ominösen Geschehens geschickt worden sind, bestehen die Rettungssanitäter auf dem sofortigen Abtransport des offenbar verwirrten Mannes in die Notaufnahme des Klinikums Rosenhöhe.
„Ohne Wenn und Aber. Der Mann ist völlig durch den Wind. Ich glaube, der steckt bis obenhin voll mit irgendeinem heftigen Zeug. Der ist so high, der merkt gar nicht, wie fertig er ist. Na ja, sitzen Sie mal die halbe Nacht mit dem nackten Arsch auf einer Betonplatte.“
„Wieso die halbe Nacht?“, will der Kriminalbeamte wissen.
„Mindestens. Der arme Kerl hat Frostbeulen am Hintern.“

Zwei Tage vergehen, bis der ältere Herr wieder ansprechbar ist. Bis dahin sind auch die Frostbeulen verheilt, und die Polizei kann die Identität des Mannes klären.
Johann Balduin Schwelm, der Name ist an dieser Stelle aus verständlichen Gründen geändert, oder genauer gesagt, Doktor Johann B. Schwelm betreibt eine Praxis für Allge­meinmedizin nicht weit von der Brackweder Kirche entfernt. Ein netter, ältlicher Onkel Doktor ist er, beliebt und bekannt. Jetzt, als einer der berühmtesten Patienten des Krankenhauses, entwickelt er allerdings ein eher kratzbürstiges Verhalten. Er will raus hier, leidet unter seiner momentanen Bekanntheit als „der Mann von der kalten Platte“, denn natürlich ist seine rätselhafte Geschichte der talk of the town. Die sozialen Netz­werke funktionieren schnell und perfekt. Die modernen im World Wide Web und die nicht minder effizienten innerdörf­lichen, kurz Klatsch und Tratsch genannt.
Zudem sieht er sich den Fragen der beiden Herren vom Kriminalkommissariat 11 eher hilflos ausgeliefert. Er hat Schwierig­keiten mit erhellenden Antworten. Er weiß schlicht nicht, was passiert ist.
„Der Patient leidet an retrograder Amnesie“, erklärt der behandelnde Arzt den unzufriedenen Ermittlern.
„Er hat einen Schock erlitten und zudem war er vollgestopft mit Drogen. So wie es aussieht, hat er sich die Drogen übrigens nicht selber verabreicht. Er hat leichte Hämatome am Kinn. Mit anderen Worten – jemand hat ihm offenbar den Mund aufgehalten und ihm den Cocktail eingeflößt. Und was für einen Cocktail.“

Läuft doch ganz gut so weit. Ich habe es ja auch gut vorbereitet. Jetzt hängt vieles von der Reaktion der Polizei ab. Aber ich bin mir sicher, dass die Beamten das Geschehen als Freiheits­be­raubung und Körperverletzung werten werden und entsprechend ernst nehmen.
Sie werden sicher ein paar Tage brauchen, um den Ablauf zu rekonstruieren. Dann aber werden sie davon ausgehen können, dass das Opfer beim Zusperren seiner Praxis überrascht wurde, dass man ihm offenbar eine Mütze über den Kopf gestülpt, die Drogen verabreicht und ihn in ein Auto verfrachtet hat. Und dann auf der Ping-Pong-Platte abgesetzt hat. Und die Hosen runtergezogen hat.
Ein Sexualdelikt werden die Ermittler zu diesem Zeitpunkt bestimmt schon ausschließen können, nachdem sich Herr Doktor, sicher unter schärfstem Protest, einer entsprechenden Untersuchung unterzogen hat.
Aber sie werden sich immer wieder die Frage stellen, wer dem netten Onkel Doktor das alles angetan hat. Und vor allem warum.
Nun, dann sollte ich die Beamten nicht allzu lange auf die Beantwortung dieser Frage warten lassen. Weiter geht’s.
Einbruch fällt normalerweise nicht in den Zuständigkeits­bereich des Kriminalkommissariats 11. Wenn die Kollegen von der K-Wache, die einen wenig spektakulären Einbruch in einer Versicherungsagentur in der Brackweder Fußgängerzone aufnehmen, sich dazu entscheiden, den Ermittlern, die im Fall des „Mannes von der kalten Platte“ aktiv sind, eine Notiz zukommen zu lassen, muss das also einen guten Grund haben. Und der Grund ist die Beute:

Aktennotiz zum Einbruch Treppenstraße.
Geschädigter: Speitel und Partner, Versicherungsmakler.
In der Nacht zum Dienstag wurde die Kellertür zu oben bezeichnetem Gebäude aufgehebelt. Der oder die Täter drangen in die Geschäftsräume des Geschädigten im Erdgeschoss ein. Durchsucht wurden offenbar mehrere Aktenschränke und Regale mit Ordnern. Wertsachen wurden nicht entwendet. Nach Aussage des Geschäftsführers Herrn Detlev Speitel fehlt nur ein einziger Aktenordner. Dieser Ordner enthielt sämtliche Vertragsunterlagen den Kunden Dr. Johann B. Schwelm betreffend.

„Irgendwer hat es auf unseren Doktor abgesehen, das ist mal klar.“

Der die Ermittlung leitende Kriminalhauptkommissar vom KK11 hat eine kleine, aber illustre Runde zu der Dienstbe­sprechung zusammengerufen.
„Und ich bitte um die nötige Ernsthaftigkeit!“, ermahnt er seine Kollegen. Er spürt bei ihnen eine gewisse Grund­heiter­keit wegen des obskuren Falls des „Mannes von der kalten Platte“.
„Erpressung. Das riecht nach Erpressung. Da setzt jemand unserem Doktor die Pistole auf die Brust. Schüchtert ihn erst ein. Besorgt sich dann Unterlagen, die den Arzt vielleicht irgendwie in Schwierigkeiten bringen können. Wahr­schein­lich geht es um Geld. Wie immer.“

„Hat was für sich, die Theorie. Nur, warum macht er das dann so öffentlich?! Wenn ich jemanden erpressen will, dann tue ich das ja wohl eher im Verborgenen. Und präsentiere mein Opfer nicht mit nacktem Arsch auf ’ner Tisch­tennis­platte.“
„Also Rache. Ganz stinknormale Rache. Da will einer unseren Doc lächerlich machen. Und das ist ihm ja auch ganz gut gelungen.“
„Dann versteh ich aber die Nummer mit dem Einbruch nicht.“ Allgemeines Schweigen.

Nun, den Ermittlern kann geholfen werden.
Schade nur, dass dies wahrscheinlich wieder auf Kosten des ohnehin schon angeschlagenen Nervenkostüms unserer unschuldigen Ioulia geht.

Frau Papadopoulou hat sich mittlerweile so gut es geht von ihrem Schock erholt. Sie geht wieder ihrer Arbeit nach. Nimmt wieder den gleichen Weg Richtung Turnhalle wie vor dem einschneidenden Erlebnis. Zwei Tage hat sie sich allerdings nicht getraut, den Blick an der entscheidenden Stelle nach rechts zu wenden. Stur geradeaus schauend hat sie die Tisch­tennisplatten ignoriert. Man weiß ja nie – und die Bilder vom Mann auf der kalten Platte kriegt sie eh nicht aus dem Kopf. Wie auch? Schließlich haben sie zahllose Journalisten in den vergangenen Tagen dazu gedrängt, sich genau diese Bilder immer wieder ins Gedächtnis zurückzurufen und sie möglichst anschaulich zu schildern. In Radio- und Fernsehmikro­fone. RTL war da und die Öffentlich-Rechtlichen auch. „Nun schildern Sie schon, gute Frau. Und was war dann? Gehen Sie hier lang und schauen Sie nicht in die Kamera … Stopp. Nochmal.“

Nochmal. Die Ärmste.
Es gibt aber auch niemanden, der sie warnen könnte. Na ja, fast niemanden natürlich.
Die Polizisten der K-Wache, die am Vorabend einen weiteren mehr als seltsamen Diebstahl aufzunehmen haben, jedenfalls nicht.
Dieser Diebstahl schlägt zwar den Einbruch in der Ver­sicherungs­agentur, mit dem sie wenige Tage zuvor zu tun hatten, um Längen. Rückschlüsse auf das, was damit verbunden sein könnte, lässt er aber nicht zu. Ort des dreisten Diebstahls: die Straße Am Windfang am Brackweder Berg. Den Ein­gangsbereich der Schießanlage der Brackweder Schützen dort ziert seit ewigen Zeiten eine Mini-Haubitze. Warum, weiß man nicht oder will es gar nicht wissen. Die Schützen jedenfalls finden das verrostete Eisending offenbar nett und dekorativ.
Und ebendieses Relikt aus einer längst vergangenen Zeit ist nun weg. Verschwunden. Gestohlen. Die Schützen trauern. Und toben. So etwas kommt für sie gleich nach Majestäts­be­leidigung.
Die Beamten üben sich in Beschwichtigung und sprechen von einem Dummen-Jungen-Streich. (Einem längst überfälligen, wie der ortskundige Beamte seinem Kollegen später zuflüstert). Und sie sprechen davon, dass das Korpus Delikti bestimmt schnell wieder auftaucht.
Nun, in diesem Punkt sollen sie Recht behalten.
Und weil es gleich am nächsten Morgen wieder auftaucht, kann einem die unschuldige Ioulia Papadopoulou wirklich leidtun. Und das meine ich ganz ehrlich. Denn Ioulia sieht sich ein zweites Mal genötigt, bei der Polizei anzurufen:
„Hier Mann auf Rohr!“
„Hier Polizei – ganz Ohr!“
„Hier Ioulia Papadopoulou – ich angerufen schon mal – wegen Mann mit Hose ohne.“

„Ja – ich erinnere mich, Frau Papadopoulou. Wer täte das nicht. Und, was haben Sie heute Schönes gefunden?“
Der Beamte kann einfach nicht glauben, dass wieder etwas Verrücktes passiert sein soll. Kann einfach nicht sein. Nicht in Brackwede.
Kann doch.
„Mann sitzt auf Rohr wie auf Pferd. Gleiche Stelle wie Mann mit Hose ohne. Ich gehe Hause.“

„Nein, warten Sie. Bleiben Sie, wo Sie …“
Zu spät. Ioulia Papadopoulou will nicht mehr telefonieren. Den Tränen nahe, will sie nur noch nach Hause und sich in ihrem Wohnzimmer verschanzen.
Man wird sie sicher länger nicht mehr zu Gesicht (oder vor eine Fernsehkamera) bekommen.

Dieses Mal sind die Beamten schneller und cleverer. Mit Decken versuchen sie, die heranstürmenden Handyfilmer zu Schulbeginn an ihrem Treiben zu hindern. Natürlich funktioniert das nicht zu 100 Prozent. Deshalb tauchen vielleicht weniger Filmdo­ku­mente im Internet auf, diese dafür werden aber um so häufiger angeklickt.

Wackelige Totale von recht weit weg. Großer Mann sitzt auf kleiner Haubitze. Kamerafahrt von dem verrosteten Rohr hoch auf das dumm grinsende Gesicht. Ein Bein rechts, ein Bein links vom Rohr.
(Erinnert einige wenige Literaturkenner unter den Schü­lern an das Bild von Münchhausen auf der Kanonen­kugel. Nur, dass es diesmal halt das Kanonenrohr ist).
Großaufnahme von den Händen. Mit Kabelbindern auf dem Rücken hinter dem Schutzschild fixiert. Direkt oberhalb der Räder.

„Wenigstens hat er seine Hose an. Sieht schon so unanständig genug aus“, sagt der Beamte des KK 11 beim Anblick des Unglücklichen, der – man ahnt es schon – überhaupt nicht un­glück­lich wirkt. Er grinst.
„Wahrscheinlich will er auch Erdbeer-Joghurt.“
Will er nicht. Er möchte einfach nur weiterfliegen.
Sagt er jedenfalls, als ihn die Rettungssanitäter in ihren Wagen packen.

Große Runde im Polizeipräsidium Bielefeld an der Kurt-Schumacher-Straße. Der stellvertretende Polizeipräsident hat geladen, der Leiter der Pressestelle ist auch anwesend. Die zwei Ermittler vom KK 11 sowie der Leiter des Kommissariats.
„Könnten mir die Herren bitte mal erklären, was hier vor sich geht?“
Der Stellvertretende ist noch nicht lange im Amt und hat ein ungutes Gefühl wegen der Vorgänge in Brackwede.
„Und es sollte eine Erklärung sein, die man gut der Presse verkaufen kann. Die rennen uns die Bude ein. Ich hab jetzt auch die Überregionalen am Hals. Brisant und Explosiv und so.“
Der Pressesprecher würde viel lieber seiner bevorstehenden Pensionierung entgegensehen als den zahllosen Kameras, die mehr über den „Mann auf der kalten Platte“ und den „Mann auf der Haubitze“ erfahren wollen.
„Das zweite Opfer ist der Besitzer einer Apotheke im Ort. Ein ganz ehrenwerter Bürger der Stadt. Beliebt, schon ewig hier am Ort, hatte sogar mal einen Sitz in der Bezirks­ver­tretung. Tja, und nun sitzt er da, auf dem Rohr. Vollgedröhnt bis oben hin. Abgefüllt wie unser Onkel Doktor. Kontakte zum ersten Opfer gibt es natürlich zuhauf. Alte Brackwede-Connection. Gleiche Schule und beide haben sich nach dem Studium hier niedergelassen. Alte Freunde. Aber das ist ja auch nicht verboten.“
Der Ermittler vom KK 11 schildert das alles ganz sachlich. Der Spaß an dem Fall ist ihm mittlerweile sicher gänzlich abhanden gekommen. Sein Kollege ergänzt die Sachlage.
„Der Apotheker saß rittlings auf diesem lächerlichen Kanonenrohr. Im Rohr selber steckten rund fünfzig Seiten Papier. Es handelt sich offenbar um die Versicherungsunter­lagen von seinem Kumpel, dem Doktor, die bei dem Einbruch in der Versicherungsagentur abhanden gekommen sind. Vor allem Abrechnungen über Kapitallebensversicherungen.
„Rohrpost sozusagen.“ Die Bemerkung des Pressesprechers erntet vielfache böse Blicke, aber auch mindestens ein verstecktes Grinsen.
„So wie es aussieht, ist unser Doktor ein schwerreicher Mann. Alles ganz legal soweit. Aber man kann sich schon fragen, wie ein einfacher Allgemeinmediziner soviel Geld in Kapitalanlagen stecken kann. In eine der Versicherungen ge­hen monatlich mehr als tausend Euro.“
Sein Kollege ergänzt: „Beide Opfer sind nahezu an derselben Stelle gefunden worden. Zwischen Realschule und Gym­na­sium. Beide sind dort geradezu präsentiert worden. Die Papiere des Doktors zwischen den Beinen des Apothekers. Irgendwer will uns irgendwas mitteilen.“
„Und was bitte? Und vor allem: wer ist dieser Blödmann?“
Des stellvertretenden Polizeipräsidenten ungutes Gefühl hat durch den Verlauf der Dienstbesprechung nicht abgenommen. Im Gegenteil.
Der Pressesprecher mischt sich – sonst gar nicht seine Art – ein zweites Mal ein: „Ehrlich gesagt ist es mir ziemlich egal, wer der Typ ist. Ich will nur, dass er aufhört, Schlagzeilen zu produzieren. Finden wir heraus, was er will. Beenden wir das für ihn, und er wird hoffentlich Ruhe geben.“
Dieser Vorschlag gefällt dem Kommissariatsleiter gar nicht.
„Es kann doch nicht sein, dass wir uns von diesem Kasper vorschreiben lassen, was wir zu tun haben.“
„Kann wohl sein. Denn dieser Kaspar hat soviel öffentlichen Druck aufgebaut, dass uns gar nichts anderes übrig bleibt …“
„Also, was haben wir?“, übernimmt der Stellvertretende wieder das Kommando. „Nehmen wir nur mal für kurze Zeit an, wir würden gegen den Doktor und den Apotheker ermitteln. Was sind die Fakten?“
Der aus Brackwede stammende Ermittler fasst zusammen: „Beide kennen sich gut. Beide arbeiten im Gesundheitswesen. Zumindest einer von ihnen verdient ungewöhnlich viel Geld. Beide werden uns an der gleichen Stelle präsentiert. Zwischen den Schulen, der Turnhalle und dem Sportplatz und beide stecken bis obenhin voll Drogen.“
„Reicht das aus, um gegen die beiden zu ermitteln – Ob­servierung, Hausdurchsuchung und das ganze Pro­gramm?“, will der Stellvertretende wissen.
Allgemeines Kopfschütteln.
„Nun, dann werden wir wohl oder übel warten müssen, bis unser Freund sich ein nächstes Mal zu Wort meldet.“
„Der ist nicht unser Freund“, murrt der Kommissariats­leiter. „Das ist ein Spinner, der uns für seinen ganz persönlichen Rachefeldzug benutzt.“
„Mag schon sein, aber irgendwas scheint mit unseren beiden Medizinern tatsächlich nicht ganz koscher zu sein. Bohren Sie mal nach, in aller Diskretion, versteht sich.“
Spricht der Stellvertretende und entschwindet. Sein un­gutes Gefühl hat sich nochmals verstärkt. Gegen Hono­ratioren der Stadt, noch dazu in Brackwede, zu ermitteln, ist eigentlich nie eine gute Idee.

Langsam wird es Zeit, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Dazu scheint mir das OTS mehr als geeignet. Das OTS ist ein internes Nachrichtensystem der Polizei. Was immer sie der Presse mitzuteilen hat, erscheint im OTS. Polizeiberichte, Fahn­dungs­photos, Einladungen zu Pressekonferenzen. Die Presse liest es im OTS. Dabei ist das System eine Einbahnstraße. Die Polizei schreibt, und die Abonnenten lesen. Andersherum geht es nicht. Eigentlich.

Der Polizei-Pressesprecher überprüft allmorgendlich, was seine Kollegen und die Beamten der Leitstelle über den Tag ins System gestellt haben. Dabei soll er auf eine Meldung stoßen, die ihm den Tag gründlich vermiesen wird.

Bielefeld – Brackwede (OTS)
Beamte der Polizeiwache Süd werden sich auf Anweisung des KK 11 am kommenden Mittwoch gegen 23 Uhr vor der Praxis des Dr. Johann B. Schwelm einfinden. Zweck des Einsatzes: Ob­servation des Gebäudes, Zugriff und Festnahme mehrerer verdächtiger Personen sowie Sicherstellung von Beweismaterial.
Zur anschließenden Pressekonferenz wird in den großen Sit­zungssaal im Präsidium Kurt-Schumacher-Straße geladen. Bild- und Tonaufnahmen möglich.

„Nein, nein und nochmals nein. Das können wir nicht machen!“ Der Kommissariatsleiter ist außer sich.
„Ich werde keinen Einsatz gegen unbescholtene Bürger befehlen, nur weil es dieser selbst ernannte Robin Hood will. Und wie kommt der Kerl eigentlich in unser System?“
„Das ist jetzt zweitrangig. Glücklicherweise ist die Meldung ja nur an uns gegangen. Ich hatte erst Angst, der Typ hätte es offen ins OTS gestellt. Dann hätte ich RTL gleich wieder vor den Füßen gehabt.“
Der Pressesprecher hat für sich eine Entscheidung getroffen. Er will in der großen Runde, die sich sofort nach dem Eintreffen der OTS-Meldung zusammengesetzt hat, durchsetzen, dass man jetzt aktiv wird und die Sache beendet.
„Wir deklarieren es als erweiterte Schutzmaßnahme. Der Doktor wurde ja schon einmal Opfer eines Überfalls. Deshalb haben wir uns entschieden, ihn locker zu beobachten und gegebenenfalls zu schützen. To serve and to protect. Wie die Sache auch ausgeht, wir sind die guten Jungs.“
„Und Robin Hood freut sich ’nen Loch in den Bauch …“
„Und wennschon. Wenn was dran ist an seiner Geschichte, finden wir es am Mittwochabend raus.“
Das ungute Gefühl des Stellvertretenden hat die Dimen­sion einer Kolik angenommen.
„Machen. Ganz dezent. Ganz vorsichtig. Aber machen.“

Sie observieren Gebäude und Grundstück in drei Zweier­teams. Eines im Lieferwagen ein Stück die Straße herunter. Eines in der Garageneinfahrt schräg gegenüber. Ein Paar als Spaziergänger.
Die beiden im Lieferwagen sind die Ermittler vom KK 11. Ihr Chef, der Kommissariatsleiter, nimmt an dem Einsatz nicht teil, will aber informiert werden, falls sich etwas tut.
Um Punkt 23:00 Uhr nähert sich eine unbekannte Person dem Praxiseingang. Er klingelt nicht. Er klopft. Der Doktor öffnet sofort die Tür, lässt den Mann mit einem kurzen Kopfnicken hinein. Das alles lässt sich vom Lieferwagen aus gut sehen.
„Ruhig bleiben. Kein Zugriff. Team eins: Seht zu, dass ihr näher ans Haus kommt. Durchs Fenster an der rechten Seite kann man in die Praxis schauen. Team zwei: Bleibt bei der Garage.“ Der Ermittler aus Brackwede hat das Kommando bei dem Einsatz.
Der unbekannte Mann verlässt bereits nach wenigen Minuten wieder das Haus. Der Doktor schließt hinter ihm die Tür.

Jetzt muss ich mich auf die Neugier und den Instinkt der Polizisten verlassen, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die Ermittler es zulassen werden, den unbekannten Mann einfach so gehen zu lassen.
Man wird ihn stellen. Man wird es zumindest versuchen. Denn der Unbekannte wird garantiert versuchen, abzuhauen. Es wird ihm hoffentlich nicht gelingen.
(Die Polizeiarbeit ist gemeinhin besser als ihr Ruf. Nur im Fernsehkrimi stellen sich Beamte beim Verhaften einer Person immer so selten dämlich an).
Sie werden ihn also packen, auch wenn er versucht wegzulaufen. Denn er wird allen Grund haben, nicht in die Hände der Polizei zu geraten. Ich habe ihn schließlich selber ausgesucht.

Simon Petri, genannt Sam, ist ein stadtbekannter Drogen­dealer. Einschlägig vorbestraft, weil er kleinere Mengen Kokain an Kids aus reichem Hause verdealt. Doch seit kurzer Zeit will Sam mehr. Er will im ganz großen Geschäft mitmischen. Es geht um Heroin. Er soll den Boden bereiten für eine Gruppe Albaner, die in Westfalen Fuß fassen will.
Bei der Leibesvisitation finden die Beamten aber weder Koks noch Heroin, dafür aber einen unglaublichen Mix an Pillen, Pulvern und Dragees. Alles verschreibungspflichtige Me­di­ka­mente und zudem höchst problematisch. Antide­pressiva, Methadon, Morphium, Amphetamine – alles, womit man Kör­per und Geist dopen kann. Oder gefährliche Rausch­zu­stände provoziert.
Sams Erklärung, die er den Beamten noch in der Nacht gibt, ist hektisch, allumfassend und nachvollziehbar. Denn er weiß, was für ihn auf dem Spiel steht, wenn die Polizei von seinen neuen Plänen Wind bekommt. Er will so schnell wie möglich aus dieser Sache heraus und nicht für einen blöden Botengang, den er übernommen hat, in den Bau wandern.
„Der Typ sprach mich an der Tüte an, am Bahnhof vorne, Sie wissen schon. 200 Euro, wenn ich ein Päckchen für ihn abhole bei diesem Doc. Keine Namen, keine Fragen, Sie wissen schon. Der Doc wusste Bescheid, dass ich komme. Alles ganz easy, Sie wissen schon. Der gibt mir das Päckchen. Ich raus. Das wars. Ehrlich.“
„Ja, ja, wir wissen schon. Nehmt ihn mit ins Präsidium. Er soll uns eine passable Beschreibung des Kerls liefern.“ Dem leitenden Ermittler ist jetzt klar, was als nächstes passieren muss.
Er greift zum Telefon. Der Kommissariatsleiter antwortet sofort.
„Wir knöpfen uns jetzt den Doktor vor. Wollen Sie dabei sein?“
„Was werfen Sie ihm vor?
„Illegalen Handel mit Medikamenten.“
„Ich komme.“

So oder so ähnlich wird es passieren. Sie werden den ehrenwerten Doktor in die Mangel nehmen. Sie werden einen prall gefüllten Giftschrank finden. Und sie werden Unterlagen finden. Eine Art geheime Buchhaltung. Aus der wird hervorgehen, dass der Doktor seit Jahren mit Medikamenten dealt. Und zwar für einen kleinen, aber feinen Abnehmerkreis. Seine Kunden: Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums und der Realschule, dazu einige Sportler aus dem Brackweder Sport­verein SVB. Kinder und Jugendliche. Kaum einer älter als 20. Die jüngsten Kunden nicht einmal 14 Jahre alt. Dem Doktor ist das alles egal. Wer genug zahlt und die Klappe hält, bekommt von ihm, was die Kids wollen. Um besser zu sein, schneller oder stärker, oder um sich aus ihrer Realität für ein paar Stunden herauszuschießen. Wenn der Doktor etwas nicht besorgen kann, hilft sein alter Kumpel, der Apotheker aus.
Skrupel? Fehlanzeige!
Kurioserweise hat der schwungvolle Handel offenbar angefangen, als sich Mitte der 80er ein paar Eltern an den Doktor wandten, ob der nicht etwas Leistungssteigerndes hätte für ihre Kinder, die in der Schule nicht so recht mitkommen konnten. In Mathe oder Bio vielleicht oder beim Sport, wenn es darum ging, ob Sohnemann gut genug sein würde, um in die Tennis- oder Fußballmannschaft der großen SVB-Familie aufgenommen werden zu können. Der gute Doktor half. Und die Kids kamen in schöner Regelmäßigkeit wieder. Am Ende auch, ohne dass die Eltern etwas davon wussten. Eine Gene­ration steckt es der nächsten. Und Onkel Doktor verdient längst mehr durch seinen Drogenhandel als durch seine ohnehin nicht überragenden Leistungen im allgemeinen Ge­sund­­heits­wesen.

Das alles wird sich durch die Lektüre der akribisch geführten Akten des Herrn Doktor ergeben, mit der die ermittelnden Beamten vom KK 11 zwei kopfschüttelnde Tage verbringen. Was sie nicht verstehen, werden ihnen zwangsweise der Arzt und der Apotheker erläutern, die sicher längst beide wegen Verdunkelungsgefahr in Untersuchungshaft sitzen. Und beide werden nach entsprechend harten Vernehmungen Rede und Antwort stehen.
Doch eine Sache werden auch sie ihnen nicht erklären können. Sämtliche Akten aus den 80ern und 90ern bis hin zum Jahr 2003 werden ihnen vollständig vorliegen. Namen, Emp­fänger, Mengen.
Die Unterlagen ab dann aber werden manipuliert sein. Mengen, Art der Medikamente und was gezahlt wurde, alles weiterhin gut lesbar. Die Namen der Empfänger aber herausgerissen oder unkenntlich gemacht.
„Robin Hood will offenbar nicht, dass wir gegen die Empfänger der Drogen vorgehen. Was für ein Sozialroman­tiker.“
„Ja, mag sein. Aber doof ist er nicht. Die Fälle bis 2003 liegen zu weit zurück, als dass wir den Käufern einen Strick daraus drehen könnten. Und um den Doktor und seinen Kumpel dranzukriegen, reicht es ja trotzdem allemal.“
„Ist dir aufgefallen, dass es bei den neueren Unterlagen einen Käufernamen gibt, den er nicht unkenntlich gemacht hat?“
„Tom Brecht. Ich hab ihn schon durch den Computer laufen lassen. Geboren 1997 in Brackwede. Schüler des Gym­nasiums, Mitglied der SVB-Leichtathletik-Abteilung.“
„Tom Brecht stirbt am 30.7.2013 im Alter von 16 Jahren an plötzlichem Herzversagen. Die Blutuntersuchung ergibt einen vielfach überhöhten gamma-Gt-Wert. Seine Leber gleicht der eines 60-jährigen Alkoholikers. Er ist zudem voll mit einer Ecstasy-ähnlichen Substanz. Der Gerichtsmediziner geht in seinem Bericht von monatelangem Medikamenten­miss­brauch aus. Woher der Junge die Medikamente hatte, konnte nie geklärt werden.“
„Nun, jetzt wissen wirs. Und damit wird es richtig teuer für den Onkel Doktor. Dafür wandert er ein.“
„Ist es das, was unser Robin Hood wollte?“
„Ich denke schon.“
„Und dafür der ganze Aufwand?“
„Hätten wir ihn sonst jemals gepackt?“

Geschafft! Mein ganz persönlicher Rachefeldzug für die vielen, die dank dem Giftschrank des netten Doktors in eine elendige Drogenkarriere geraten sind.
Und für einen Freund, der seinen Sohn verloren hat.

Als mir Peter Brecht vom Tod seines Sohnes erzählte und von der Sache mit dem Medikamentenmissbrauch, den er sich beim besten Willen nicht erklären konnte, hatte ich sofort den Verdacht: Der Doktor ist weiterhin aktiv. Ich kenne ihn. Als ich jung war, habe ich mich selbst bei ihm bedient.

Ich ging zu ihm, er erkannte mich sofort wieder. Ich sprach ihn auf den Tod des 16-Jährigen an, er zuckte mit den Achseln. Da wusste ich es. Und ich wusste, dass ich etwas unternehmen muss.
Er fragte mich, ob ich etwas brauche. Und ich sagte ja. Und mir war klar: Dieses Mal bekommt er es selber zu schlucken. Und mehr.
Ihm spät abends vor seiner Tür aufzulauern, wird sicher der schwierigste Part des Plans. Ich muss ihn überwältigen und ihm die Drogen verabreichen, ohne dass er mich erkennt. Wer hat schon Übung in so etwas?
Ihn dann endgültig zur Strecke zu bringen, wird sicher einfacher. Ich bin ja jetzt wieder sein Kunde, werde mir bei ihm auch das Zeug holen, dass ich dann dem Apotheker verabreiche. Er wird keinen Verdacht schöpfen. Und dann werde ich ihm sagen, dass ich das nächste Mal nicht selber kommen kann, sondern einen Boten schicke. Dann die Einladung per OTS an die Polizei. Und dann hat es sich hoffentlich ausgedoktert.
Mit dem Vater von Tom werde ich über meinen Plan übrigens nie reden können. Er weiß, was richtig und was falsch ist. Und was ich machen werde, ist falsch. Schäbige Selbstjustiz ist das, würde er sagen. Wo kämen wir denn da hin, wenn das jeder macht?
Es macht aber nicht jeder. Gut so. Reicht ja auch, wenn ich es mache.
Denn eins ist sicher: Wenn dieser Plan klappt, ist das nicht das Ende. Es ist der Anfang. Ich kenne noch so viel mehr Leute, die Dreck am Stecken haben und trotzdem ungeschoren davonkommen. In Brackwede. Aber nicht nur da.
Mal sehen, wer nächstes Jahr zu Weihnachten auf meinem Wunschzettel steht.

Thorsten Knape

Thorsten Knape

Bei seiner Arbeit als TV-Reporter hat Thorsten Knape es andauernd mit realen Geschichten von Menschen zu tun. Deshalb weiß er auch, was eine gute Story ist. Um die manchmal bewegenden, manchmal schockierenden Eindrücke zu verarbeiten, hat er für sich als Ausgleich das Schreiben entdeckt. Will man dieser Tätigkeit nachgehen, bedarf es allerdings Disziplin und eines Rückzugsortes. Den hat er in einem alten Weinbauernhof in Frankreich gefunden, der von ihm und seiner Frau seit 8 Jahren restauriert wird. Der von Neugierde angetriebene Reporter ist bemüht, aus jedem Tag das Beste zu machen.
Thorsten Knape

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