Campari-Orange

In den deutschen Zeitungen, die er am Strand kaufen konnte und deren Papier nach Sand, Meer und Sonne roch und sich ganz trocken anfühlte, standen einige kleinere Artikel über den Vorfall. Nichts Großes. Er vermutete Absicht dahinter. Die angeblichen Opfer wollten so wenig Öffentlichkeit wie möglich.

Er lag auf dem Bett und sah über die schlecht gestrichene Balustrade des Balkons auf das Meer. Sonnenflecken bewegten sich auf dem Wasser wie ein riesiger Schwarm winziger, glitzernder Vögel. Es war heiß. Er griff nach dem Roman neben sich, las einige Seiten, konnte sich von der Geschichte aber nicht gefangen nehmen lassen. Er ging ins Bad und warf sich händeweise Wasser ins Gesicht. Kalt war das Wasser hier nie. Er sah seine Brust im Spiegel an, und sein Geschlecht, und war fassungslos – darüber, was er getan hatte, darüber, dass er es bis auf diese Insel geschafft hatte und darüber, dass er allein war und keinerlei Befriedigung empfand.

Ralf nahm die Campariflasche aus dem Kühlschrank, den Orangensaft und einige Eiswürfel. Er goss erst den Saft ein, ließ dann das Eis ins Glas gleiten und schüttete vorsichtig den Campari auf die Eiswürfel. Das Rot des Campari und das Orange des Saftes standen zweifarbig übereinander im Glas. Er ließ das so und trat in die Sonne auf den Balkon hinaus. Er konnte hinunter sehen auf die Tische vor der Bar, deren Metallplatten silbern leuchteten. Vor dem Hotel verlief die wenig befahrene Straße, die nach links ins Städtchen führte und nach rechts am Strand entlang bis zum Fuß der Berge. Der Strand war viel schmaler als in den Reiseführern beschrieben. Ein paar Palmen bogen sich als wollten sie ins Wasser greifen. Ralf fühlte sich, als sei er nicht nur aus Deutschland geflüchtet sondern auch aus der Zeit. Hier auf dem Balkon an seinem Zimmer mit den abblätternden hellblauen Wänden war nicht 2010. Alles fühlte sich fremd und unbekannt an, und es wäre ihm schwer gefallen zu sagen, wer er war. Er steckte den Strohhalm ins Glas, trank vom Campari, dann vom Orangensaft und tippte den Halm auf einen Eiswürfel und sog die Kälte ein. Die Firma sei einem Täuschungsmanöver zum Opfer gefallen, hatte in der Zeitung gestanden. Dass die ganze Firma eine Täuschung gewesen war, dass alle Angestellten getäuscht worden waren und bitter hätten bezahlen müssen, stand nirgends. Er war damals noch mit der Geschäftsführungsassistentin verlobt, Katinka. Durch ihre Position und ihre Geschicklichkeit erfuhr sie über die Machenschaften in der Chefetage und darüber, wie verrückt und größenwahnsinnig das Familienunternehmen in den letzten Jahren geführt worden war. Sie redete immer weniger mit Ralf, verließ ihn und bändelte mit dem Chef des Unternehmens an. Der Konkurs der Firma wurde intelligent und kriminell verschleppt. Zu dieser Zeit, als die ersten Leute entlassen wurden und “Big Boss“ sich einen neuen Bentley kaufte, lernte Ralf Franziska kennen. Er stürzte sich in diese Liebe. Aber dann musste er sie wegen seiner Flucht zurücklassen. Einem Täuschungsmanöver zum Opfer gefallen? Er lachte kurz. Wut und Verzweiflung und das plötzliche Erkennen, dass auch er nie etwas gesagt, nie aufbegehrt hatte. Bis hierher war er gekommen.

Er zog sich an und ging hinunter zur Bar. Er bestellte Kaninchen und Bier. Der Wirt, stets ein fleckiges Handtuch über der Schulter, sagte immer, er zapfe gutes deutsches Pilsener. Aber Ralf hatte einmal zugesehen, als die Fässer vom Lkw auf Fallsäcke geworfen wurden, und diese Fässer kamen ganz sicher nicht aus Deutschland. Die Kellnerin brachte ihm das Essen und den Bierkrug und fragte auf Spanisch, wie es ihm gehe. Er wusste es nicht, also sagte er „Gut“ und fragte, wie es ihr gehe. „Gut“, sagte sie, und er vermutete, dass das nicht stimmte. Der Wirt berichtete über sie, sie habe lange versucht, sich als Spanierin auszugeben, aber wegen ihres Akzentes glaube ihr das niemand, es habe allerdings auch nie jemand etwas gesagt. Nach dem Essen las Ralf in seinem Roman und sah ab und zu die Straße zu den weißen Häusern des Städtchens hinab. Er erkannte Franziska sofort. Hochgewachsen und schwarzhaarig kam sie die Straße hinab, eine geblümte Tasche über der Schulter und einen Rollkoffer hinter sich, der über die Unebenheiten wackelte. Sein Herz stockte. Er lief ihr entgegen und nahm den Koffer. Er sah ihr in die Augen. Er wusste, wie klein diese Augen wurden, wenn sie lachte, wie traurig und verloren sie gucken und wie viel Begeisterung sie versprühen konnten. „Wie hast du mich gefunden?“ „Ich bin ein cleveres Mädchen.“ „Das warst du immer.“ Er führte sie die Straße hinab zum Hotel. Die Kellnerin sah ihm hinterher, als er den Koffer die Treppe hinauftrug und auf Franziskas lange Beine starrte.

Franziska sah sich in dem Zimmer um und hob belustigt die schwarzen Augenbrauen. „Nicht gerade ein Grandhotel“, sagte sie. „Du hast mal von dieser Insel geredet.“ Sie setzte sich aufs Bett und sah auf das Meer. „Wie viel ist es?“
„Sechshunderttausend“, sagte er. „Oh“, sagte sie. „Sechshundert…“ Sie wedelte mit den Händen. „Dafür muss eine alte Frau lange stricken.“ Er polierte zwei Gläser, hielt inne und ging mit den Gläsern in der Hand zu ihr und küsste ihren Mund. Sie kniff ihm in die Brust, und er erinnerte sich an ihren Duft von damals. Er küsste sie wieder und wieder und spürte, dass ihr Mund lachte, während er sie küsste. Er goss Orangensaft in die Gläser, ließ Eiswürfel hinein und traf mit dem Campari das knisternde Eis. Er reichte Franziska ein Glas. Sie rührte es mit dem Strohhalm um, und die aufeinander stehenden Farben vermischten sich zu einem dichten Orange.
„Wie soll es weitergehen? Mit uns und den Sechshunderttausend?“ fragte sie. „Ich will mit dir schlafen.“ „Danach, meine ich.“ „Ich weiß es nicht. Keine Ahnung.“ „Wenn wir denken, dass wir damit durchkommen“, sagte sie, „ist das dann eine Lüge?“ „Wahrscheinlich“, sagte er. „Aber wir tun es trotzdem?“ fragte sie und schob die Träger ihres Kleides von den Schultern. Er sah ihre Brüste an. „Ja, wir… wir denken es trotzdem.“ „Sag mir, bin ich immer noch die Frau, die du am meisten liebst? Bin ich immer noch die Schönste? Und interessanteste?“ „Ja. Ja, bist du.“ „Trotz allem?“ Er küsste ihre Nase und ihre Brüste und das Campariglas war kühl in seiner Hand. Er zog sich aus. Sie streichelte sein Haar. Sie stand auf und ließ das Kleid hinab gleiten. Ihr kleiner Penis stand steif aufrecht.
„Bisher konntest du dich nicht daran gewöhnen“, sagte sie.
„Das macht nichts“, sagte er. Er ließ das Glas in der Hand kreisen, bis die Farben sich vermischt hatten und trank es in einem Zug aus. Sie legte sich neben ihn.
„Wenn ich jetzt vor lauter Liebe sage, dass ich bleibe – verlass dich bitte nicht darauf. Ich weiß ja selbst kaum, wer ich bin“, sagte sie. „Du bist hier“, sagte er. „Du bist der eine, der mich nicht verlassen hat – erst, als du ein böser Bube wurdest und ganz, ganz schnell verschwinden musstest“, sagte sie.
„Warum sollte ich dich verlassen?“ Er küsste ihre Brüste.
„Wo ist das viele schöne Geld?“ fragte sie. „Unterm Bett.“ Sie lachte hell. „Ehrlich?“ „Wenn ich es sage.“

Am nächsten Morgen war sie fort. Die Reiseasche, die unter dem Bett gelegen hatte, lag mitten im Zimmer. Alles Schranktüren standen offen. Er hatte das Geld in einer Höhle am Fuß der Berge versteckt. Er ging hinab und bestellte Kaffee. Er wollte traurig sein, war es aber nicht. Die Kellnerin fragte, wie es ihm gehe und wo die Dame sei. „Die Dinge klären sich“, sagte er. „Sie ist schon wieder weg?“ fragte die Kellnerin. „Eine so schöne Frau.“ Ihr Haar hatte die Farbe von nassem Sand, ihre Augen waren grün und aufmerksam.
„Ich fände es nett, wenn Sie wenigstens mit mir Deutsch reden würden“, sagte er. Sie sah über die Schulter aufs Meer. „Möchten Sie fort von hier?“ fragte er. „Irgendwie möchte ich immer fort“, sagte sie. Er musste lachen. „So melancholisch?“ fragte er. „Sie sehen auch nicht aus wie einer, der das Glück gepachtet hat.“ Er nahm einen großen Schluck Kaffee. Im Süden schmeckte der Kaffee entgegen allen Behauptungen immer besser als in Deutschland. „Mir stehen viele Wege offen, oder gar keiner“, sagte er. „Klingt interessant.“ „Geht so. Sagen Sie, wenn Sie einen Campari-O trinken, vermischen Sie ihn oder lassen Sie ihn getrennt?“ „Getrennt. Ist wenigstens etwas.“ „Wenn Sie fort könnten von hier, wohin würden Sie gehen wollen?“ „Ich weiß nicht. Bali vielleicht.“ „Bali? Da war ich auch noch nicht. Rufen Sie mir ein Taxi, ich fahr zum Flughafen und besorge uns die Tickets.“ „Was soll das denn jetzt?“ „Sie sind zu nichts verpflichtet. Wie heißen Sie?“ „Esmeralda…. na ja, Bettina. Bettina Meyer.“ „Also, Bettina Meyer, sind Sie die Frau, die spontan mit einem fremden Mann nach Bali reist?“ Sie setzte sich, faltete die Hände auf dem Tisch und sah ihn lange an. „Ich überlege es mir.“ Sie ging in den Schankraum zurück, und er konnte nicht sehen, ob sie telefonierte.

Er rückte aus dem Schatten in die Sonne, sah auf das blau goldene Meer und wartete. Nach einer Stunde fuhr ein staubiger Wagen vor, irgendeine uralte Karre. Der schnauzbärtige Taxifahrer hatte einen Mercedesstern mit Klebestreifen auf dem Kühlergrill befestigt. Ralf lachte, vielleicht würde es klappen.

Andreas Kollender

Andreas Kollender

Wenn Andreas Kollender nicht schreibt, wird er unzufrieden, das war schon immer so. Deshalb verzichtete er als Junge zwei bis drei Mal in der Woche auf das Fußballspielen, setzte sich an den Schreibtisch und schrieb Piratengeschichten. Aus den Piraten sind heute Menschen geworden, die Widerstand leisten und dafür den Kopf hinhalten müssen. Und anstatt nur einzelne Tage mit Schreiben zu verbringen, sitzt er inzwischen – auch ganz ohne Chef – täglich morgens um 8:15 Uhr in seinem Arbeitszimmer. Dabei gibt es auch noch so viele andere Dinge, für die es sich lohnt, mal nicht in die Tasten zu hauen: Familie, Freunde, kleine Reisen, seine Literaturgruppe „centralefünf“, Theater, Doppelkopf, gutes Essen, die Natur, Sonnenschein und, und, und … Doch irgendwie bekommt der optimistische Schreiberling das alles unter einen Hut.
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