Der Russe

Er sprach kein Wort Deutsch. Die Männer und Frauen im Frühaufsteher sahen ihn seit Monaten immer wieder in die Kneipe kommen, er war ein großer, kräftiger Kerl mit einem gezwirbelten, dunkelblonden Schnurrbart, aber selbst das Wörtchen „Bier“ konnte er nicht sagen. Wenn er zu Elvira an den Tresen trat, sagte er etwas Russisches und Elvira zuckte mit den Schultern und dann sagte er wieder etwas und Elvira zeigte auf die Schnapsflaschen, die verkehrt herum an einem Regal hingen und einen metallenen Ausguss hatten. Der Russe schüttelte den Kopf und Elvira zog Bierflaschen aus der Kühlung, es gab zwei Sorten. Der Russe zeigte auf eine der Flaschen und Elvira reichte sie ihm über den Tresen und kassierte sofort ab.
Der Russe lachte viel. Seine hellblauen Augen funkelten stets verschmitzt, als gingen ihm viele gute Witze im Kopf herum. Er trank vier, fünf Bier am Abend, mehr nie und manchmal kam er in einem Arbeitsoverall in die Kneipe und die Leute dachten, dass er Monteur sei und sie fragten sich, warum er so gut gelaunt war, obwohl er doch mit niemandem auch nur ein Wort sprechen konnte. Er rauchte Zigaretten von einer Marke, von der niemand hier je gehört hatte, obwohl ein paar Männer im Frühaufsteher verkehrten, die zu besseren Zeiten auf Baustellen im Osten gearbeitet hatten. Die meisten mochten den Russen, „irgendwie“ sagten sie und hätten nicht begründen können warum.
„Ziemlich allein, der Typ“, sagte Werner.
„Besser als verheiratet“, sagte Kurt.
„Wer verheiratet ist, hat wenigstens `ne Frau im Bett“, sagte Werner.
„Ach, und was hat man davon?“ fragte Kurt. „Ich bin seit zwanzig Jahren verheiratet. Glaubst du meine Alte bläst mir mal einen? Der ganze Scheiß.“
„Ja, nett musst du schon zu ihr sein“, sagte Elvira über den Tresen hinweg. „Sonst kommt die nie auf so eine Idee.“
„Bläst du mir einen? Dreißig Euro?“
„Ich hab Husten.“
Der Russe kam von der dunklen Straße herein. Er lachte in die Runde und Elvira reichte ihm eine Flasche Bier hinüber und kassierte ab. Es war noch früh, keine neun Uhr abends und die Nutten von den Straßen machten noch keine Pause im Frühaufsteher. Auch hatte sich noch niemand gefunden, der Münzen in die alte Musikbox geschmissen hatte und die Stimmen der Männer und das Aufsetzen von Flaschen und Gläsern und manchmal das Rauschen der Spülung waren die Geräuschkulisse in der Kneipe. Der Russe trank die Flasche in einem Zug und dann zwirbelte er die Enden seines Schnurrbarts und seine Augen lachten.
„Bestimmt vom Arbeiterstrich“, sagte Werner.
„Na, der hat wenigstens `nen Job. Im Gegensatz zu mir“, sagte Kurt.
„Du willst doch gar nicht arbeiten“, sagte Werner. „Ich mein, eigentlich willst du doch gar nichts. Außer hier sein und dein Bier trinken. Deine Alte willst du nicht, arbeiten auch nicht. Worüber beschwerst du dich?“
„Ich will `ne ganze Menge.“
„Was denn?“
„Geht dich nichts an.“
Um etwa halb elf kamen die ersten Prostituierten und zwängten sich zwischen die Männer an den Tresen. Es waren schwarze Frauen und Osteuropäische und eine große Transe, die es locker mit jedem der Männer hätte aufnehmen können und deren Schicksal zu sein schien, dass niemand sich traute, sie anzureden. Die Leute im Frühaufsteher fragten sich manchmal, womit die ihr Geld verdiente, denn niemand hatte sie je mit einem Freier gesehen. Wenn sie gleichzeitig mit dem Russen da war, sah sie ihn oft an. Ein Mann, der so groß und kräftig war wie sie, und der Russe lächelte sie an, aber dieses Lächeln machte auch klar, dass er hetero war und kein Interesse an einer Nummer mit einer Transe hatte. Er war aber auch nie mit einer der anderen Prostituierten gegangen. Das wunderte die Männer oft und Elvira sagte, es gebe auch treue Männer und vielleicht habe der Russe Familie irgendwo in St. Petersburg oder sonst wo da hinten und spare ganz viel Geld, um bald zurückzugehen.
„Träum weiter“, sagte Kurt.
„Wieso?“ sagte Werner. „Kann doch sein.“
„Obwohl“, sagte Elvira, „letztens war diese kleine Asia-Nutte hier, da hat unser Russe ganz komisch geguckt. Der hat die regelrecht angestarrt.“
„Alle wollen immer nur ficken, begreift nur keiner“, sagte Kurt.
„So zwei, drei andere Dinge gibt es schon noch“, sagte Werner.

Wenn der Russe monatelang ein- oder zweimal in der Woche in den Frühaufsteher gekommen war, kam er jetzt jeden Abend. Das Rauchverbot im Frühaufsteher war wieder aufgehoben worden und während die Leute anfangs zögerlich darauf reagierten, wurde jetzt geraucht wie in den guten alten Zeiten. Die Kneipe roch nach Zigaretten und verdunstendem Alkohol und manchmal nach dem Schweiß der Männer und dem Parfüm der Prostituierten. Wenn die Prostituierten in den Laden kamen, begann immer sofort die Musikbox zu plärren, weil immer eine der Frauen Münzen hineinwarf.
„Warum stehen die eigentlich alle auf Schlager?“ fragte Kurt.
„Macht wahrscheinlich glücklich. Lässt sie an bessere Zeiten denken“, sagte Werner.
„Bessere Zeiten. Das wär mal was.“
„Die Zeiten ändern sich. Allerdings musst du selbst schon auch was tun“, sagte Werner.
„Hört, hört“, sagte Elvira.
„Machst du jetzt einen auf Kneipenphilusoph, oder was?“
„Phil- o –soph, nicht Phil –u –soph.“
„Der scheiß Ruski da hat sich anscheinend auch geändert. Kommt jeden Tag. Nicht ausgelastet, oder was?“ sagte Kurt.
„Warum sagst du scheiß Ruski?“
„Weiß ich nicht. Nur so.“
Der Russe saß am Tisch bei der Tür und fünf Mädchen hatten sich zu ihm gesetzt und zupften an ihren Dekolletes. Sie redeten auf ihn ein. Er sagte kein Wort, er lachte und zwirbelte sich den Schnurrbart, ließ danach die Hände links und rechts seines Gesichtes stehen und schnippte mit den Fingern als hätte er gerade ein Kunststück vollbracht. Eine der Frauen legte ihm offensichtlich unter der Bank eine Hand auf die Eier und der Russe sah sie an und sie nahm die Hand wieder weg.

So ging das alles immer weiter und viele der Männer konnten die Abende nicht voneinander unterscheiden. Wie Kopien waren die Stunden mit kaum merklichen Veränderungen. Kurt versuchte es einmal bei einer der Prostituierten, aber er wurde sofort so aggressiv, dass die Frau ging und Elvira ihn anmeckerte und Kurt trank ein paar Kurze, fluchte und verließ den Laden mit der Ankündigung, er würde niemals wieder kommen. Die Ankündigung hielt bis zum nächsten Abend.

Als die kleine Asiatin, von der Elvira erzählt hatte, wieder in die Kneipe kam, hielt der Russe mitten in der Bewegung des Schnurrbartzwirbelns inne. Seine Hände blieben an den Seiten seines Gesichts in der Luft stehen, Daumen und Zeigefinger noch aufeinander gepresst als zähle er Geld oder zerdrücke Läuse. Das war noch nie passiert. Die kleine Frau stellte sich an den Tresen und bestellte in perfektem Deutsch eine Tasse Kaffee. Von seinem Platz am Ecktisch aus starrte der Russe ihren rasierten, hellen Nacken unter dem schwarzen Haar an. Er kniff die Augen zusammen und rollte die Schnurrbartspitzen. Die Kleine blieb nicht lange und als sie den alten Vorhang zur Tür auseinanderzog, schaute der Russe ihr hinterher.
„Das wird nix“, sagte Kurt.
„Weiß man nie“, sagte Werner.

Am nächsten Abend, als Elvira dem Russen gerade eine Flasche über den Tresen reichen wollte, überraschte er die Leute im Frühaufsteher.
„Ein Birr, bitte“, sagte er. Vierundzwanzig Stunden später korrigierte er seine Aussprache und bestellte ein „Bier“ und sagte: „Es immer schön hier.“
„Es… ist… immer schön hier“, sagte Werner und lächelte ihn an. „Ein Satz braucht ein Prädikat.“
„Ein was?“ fragte Kurt.
„Prädikat?“ fragte der Russe.
„Ein Tuwort. Sagen, laufen, träumen – ein Tuwort. Als Prädikat“, sagte Werner.
„Werner, meine Güte“, sagte Elvira.

Als die kleine Asiatin einige Tage später in die Kneipe kam, stellte der Russe sich neben sie an den Tresen, brachte aber kein Wort heraus. Werner schenkte ihm ein zerfleddertes Heftchen: Grundwortschatz Deutsch.
„Satz“, sagte der Russe und zwirbelte den Schnurrbart, „braucht Prädikatt. Tunwort. Tun ist wichtig.“
„So ist es“, sagte Werner.
„So ist Lebben“, sagte der Russe.
„Was für `ne Verbrüderung wird denn das hier?“ fragte Kurt.
„Was hast du denn jetzt schon wieder?“ fragte Werner.
„Nichts. Was soll ich haben.“
„Dir geht nicht gut“, sagte der Russe und legte Kurt die große Hand auf die Schulter.
„Wie kommst du denn darauf? Nimm mal deine Hand da weg.“
„Wo er recht hat, hat er recht“, sagte Elvira.
„Ihr könnt mich alle mal“, sagte Kurt, rutschte vom Hocker, knallte Münzen auf den Tresen und ging.

Zum Erstaunen der Leute im Frühaufsteher lernte der Russe sehr schnell. Sein Deutsch wurde von Tag zu Tag besser und er plauderte jetzt manchmal mit Werner über die Arbeit auf dem Bau und über das treue Russland. Kam aber die kleine Asiatin in die Kneipe, wurde er ganz still und verlegen. Das Schnurrbartzwirbeln schien ihm eine Rettung, wenn die Kleine eine Tasse Kaffee trank und als ein betrunkener Mann am Tresen sie einmal grob anredete und sexistische Bemerkungen machte, stellte der Russe sich zwischen sie und den Mann und sah den Mann an und der Mann sagte nichts mehr.
„Warum gehst du denn nicht mal mit ihr?“ fragte Werner.
„Bezahlen? Für Frau? Niemals.“
„Toller Typ“, sagte Elvira. Werner verzog die Lippen.
Der nächste Abend wurde überschattet von einem Zeitungsbericht. Ein Mann aus Hamburg Jenfeld hatte seine Frau mit einem Hammer erschlagen und sich dann in der Küche erhängt. Sie wussten alle, dass es Kurt gewesen war und sie waren traurig und bestürzt.
„Mein Gott“, sagte der Russe und Elvira gab eine Runde Kurze aus zum Gedenken an Kurt.
„An uns lag es nicht“, sagte Werner.
„Nein“, sagte Elvira, „bei uns fühlte er sich wohl. Nein, nein, an uns lag es nicht. Wir haben immer mit ihm geredet.“ Werner und Elvira sahen sich an, tranken noch einen kalten Schnaps und sahen sich dann nicht mehr an.
„So was kann Mensch doch nicht machen“, sagte der Russe. „So was macht Mensch doch nicht, nein.“
„Ist manchmal vielleicht irgendwie alles komplizierter als man so denkt“, sagte Werner.
„Wird kompli….“
„Kompliziert.“
„Wird kompliziert gemacht, ist aber nicht. Eigentlich“, sagte der Russe. „Lebben, Mensch, immer Lebben.“
Werner wischte sich über die Augen und klopfte dem Russen auf die Schulter.
„Sag mal, wie heißt du eigentlich?“
„Victor.“
„Victor. Tja, Victor, ich… Mann, ich… Oh Scheiße.”

Die kleine Asiatin kam in die Kneipe, holte sich am Tresen eine Tasse Kaffee und setzte sich an den mittleren Tisch. Der Russe zwirbelte seinen Schnurbart. Er lachte die Frau an, verschränkte die Arme vor den Brustmuskeln, grinste breit und machte die Beine ganz steif. Er begann zu summen und erst hörten die Leute ihn kaum, bis er immer lauter wurde und begann seine Hüften zu bewegen. „Kaaaa – tinka, Katinka, Katinka, ma la…“ So verstanden es die Leute und sie sperrten die Augen auf. Der Russe begann vor dem Tisch der kleinen Frau einen Kosakentanz aufzuführen. Er ging in die Hocke und streckte abwechselnd die Beine weg, hüpfte auf den Fersen, sang dieses russische Lied, dessen Text niemand verstand und die harten Sohlen seiner Arbeitsschuhe knallten auf den alten Boden des Frühaufstehers. Nach und nach standen die Leute von den Barhockern auf und begannen zu klatschen. Der Russe tanzte und tanzte, eine blonde Strähne klebte ihm auf der breiten Stirn. Er warf die Beine, schnellte hoch, drehte sich, ging wieder in die Hocke und tanzte immer wilder und schneller. Viele befürchteten, er würde gleich stürzen, auf den Hintern fallen und sich blamieren, aber er war ungeheuer sicher auf den tanzenden Beinen. Die kleine Frau lächelte. Sie legte den Kopf schräg und niemand wusste, ob ihr klar war, dass Victor für sie tanzte, nur für sie. Dann beendete er den Tanz. Er zwirbelte den Schnurrbart und ließ die Hände an den Seiten seines Gesichtes stehen und die Leute klatschten. Die Kleine klatschte kurz mit, dann sah sie auf ihre winzige Armbanduhr, schob die Tasse weg, griff nach ihrer Handtasche, wedelte mit einem Flugticket und ging. Der Russe sah ihr hinterher und zwirbelte die Schnurrbartspitzen, bis sie die Form eines Schneckenhauses angenommen hatten.

Andreas Kollender

Andreas Kollender

Wenn Andreas Kollender nicht schreibt, wird er unzufrieden, das war schon immer so. Deshalb verzichtete er als Junge zwei bis drei Mal in der Woche auf das Fußballspielen, setzte sich an den Schreibtisch und schrieb Piratengeschichten. Aus den Piraten sind heute Menschen geworden, die Widerstand leisten und dafür den Kopf hinhalten müssen. Und anstatt nur einzelne Tage mit Schreiben zu verbringen, sitzt er inzwischen – auch ganz ohne Chef – täglich morgens um 8:15 Uhr in seinem Arbeitszimmer. Dabei gibt es auch noch so viele andere Dinge, für die es sich lohnt, mal nicht in die Tasten zu hauen: Familie, Freunde, kleine Reisen, seine Literaturgruppe „centralefünf“, Theater, Doppelkopf, gutes Essen, die Natur, Sonnenschein und, und, und … Doch irgendwie bekommt der optimistische Schreiberling das alles unter einen Hut.
Andreas Kollender

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  • bar-3407484_1920: Bild von DonnaSenzaFiato auf Pixabay

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