Alexander Häusser – Der Stammhalter

Als ich in die erste Stunde kam, habe ich ihr nicht die Hand gegeben. Sie hat mir ihre hingehalten, doch ich schämte mich. Stattdessen fing ich sofort an, von der Angst zu reden – einfach drauf los, ohne wirklich zu wissen, was ich meinte. Sie saß zurückgelehnt in ihrem Sessel: das Kinn auf dem Daumen abgestützt, die Fingerspitzen auf die Lippen gelegt. Sie sagte kein Wort, während ich unruhig auf meinem Platz hin und her rutschte und erzählte; einfach irgendetwas, damit ja kein Schweigen entstand. Ich sollte von früher sprechen, doch ich konnte mich nur an die Schulzeit erinnern, von der Zeit davor wusste ich nichts. Ihn kannte ich nur von Fotografien. Er sei ein kranker Mann gewesen, sagte Mutter. Am liebsten wäre ich aufgesprungen, um nebenher Staub zu wischen oder den Abwasch zu machen, was Mutter meistens tat, wenn sie erzählte. Was ich plötzlich alles wissen wolle, seit ich dahingehe, sagte sie, richtige Verhöre seien das! Dabei habe sie sich so gefreut, dass ich jetzt öfter zu Besuch kam.
Ich habe die schwitzigen Hände und den Knoten im Hals; ich höre nächtelang Radio, weil ich nicht schlafen kann – aber gefragt hätte ich meine Mutter nicht.
Doch sie wollte alles wissen. Der Krieg habe ja viele krank gemacht, nuschelte ich. Und weiter? Ich solle fragen.

Also fragte ich.

Sie hatten sich beim Tanzen kennengelernt.  In der Festhalle oder was davon übriggeblieben war. Die fehlende Außenwand hatte man durch eine olivgrüne Plane ersetzt. Kalt sei es trotzdem gewesen, aber beim Tanzen war es auszuhalten. Viele Amis und Franzosen waren da. Die hatten alles organisiert. Wahrscheinlich wollten sie einfach wieder einmal eine Frau spüren. Und sie hatten ja auch nichts gegen die Frauen – die Männer trugen die Schuld, nicht die Frauen. Mutter war mit ihrer Freundin da, die den ganzen Abend lang mit einem jungen Franzosen flirtete; Jacques oder so ähnlich hieß er wohl. Man hörte nichts Gutes über die Franzosen, aber Anna musste ja selbst wissen, was sie tat. Mutter jedenfalls tanzte nur mit Amis und Deutschen. Aber sie konnte kein Englisch, und von den Deutschen war kaum einer da. Eigentlich stand sie nur mit eisigen Füßen herum und sah den anderen zu. Sie war ja ohnehin nur Anna zuliebe mitgekommen. Bis sie plötzlich jemand von hinten ansprach. Und als sie sich umdrehte, war da ein junger Deutscher, der ihr nicht in die Augen sah, der nicht aufrecht vor ihr stand, der fast flüsterte, aber ein sehr schönes Lächeln hatte.
Die Kapelle spielte einen Walzer. Er hatte Schwierigkeiten, sie zu führen, hielt mehr Abstand als nötig und blieb auch beim Tanzen immer etwas gebeugt. Dabei mochte sie doch große Männer, und er hätte ruhig etwas näher kommen dürfen – er war einfach ein stattlicher Mann, und sie hätte das bestimmt nicht falsch verstanden. Aber das konnte er natürlich nicht wissen. Er war eben sehr anständig, und das war ja auch gut so. Wenn sie nicht tanzten, standen sie an der zusammengezimmerten Theke und umklammerten ihre Gläser, nur um etwas in der Hand zu haben. Er sagte nichts. Sie erzählte von ihrer Arbeit in dem Strumpfgeschäft, wo sie auch ihre Freundin Anna – die mit dem Franzosen – kennengelernt hatte. Sie zeigte zu den beiden hinüber, die sich gerade wieder einmal küssten. Mutter lächelte verlegen, aber er starrte nur gequält vor sich auf den Boden. Sie hätte ihn fragen können, ob ihm etwas fehlte, doch sie brachte kein Wort heraus. Er ist sicher krank, dachte sie, und möchte nicht darüber sprechen. Sie hatte schon viele Männer gesehen, die als Krüppel zurück gekommen waren. Er tat ihr leid.
Als die Sperrstunde kam, gab es Ärger mit Jacques. Er wollte Anna nicht nach Hause lassen, gab ihr den Mantel nicht, redete auf sie ein. Anna wehrte sich, aber lachend.
Der Deutsche hingegen half Mutter in den Mantel, fragte sogar noch, ob er sie nicht begleiten solle, es sei schon dunkel. Doch an seinem Tonfall merkte Mutter, dass er eigentlich nicht wollte, und so lehnte sie dankend ab – sie müsse den Weg ja nicht alleine gehen. Er verabschiedete sich und ging. Er war wirklich sehr anständig. Mutter erzählte mir auch, dass er ganz überraschend eine Woche später zu ihr ins Geschäft kam, womit sie gar nicht gerechnet hatte, obwohl sie oft an ihn dachte.

Sie stellte Fragen, die ich nicht ganz verstand. Ich habe manchmal auf ihre Beine gesehen. Sie achtete nicht darauf, wie sie saß, war konzentriert, ganz bei der Sache. Ich sprach anders mit ihr: wie man mit fremden Frauen spricht, die man in einer fremden Stadt kennenlernt – in einem wichtigen Ton, um sie neugierig zu machen. Und sie war neugierig, sie wollte ja alles wissen. Schließlich bin ich ein Mann.

Sie sind oft spazieren gegangen. Er hat sie sogar in ein Restaurant ausgeführt, wo er gute Kontakte hatte. Sie erfuhr, dass er als Offizier in Polen stationiert gewesen war und im Lazarett gelegen hatte. Sie kannte die Geschichten. Seine ist nicht anders, dachte sie. Sie sprach von ihrem Vater und dessen Vater, von all diesen schrecklichen Kriegen. Ob es denn nie ein Ende gäbe? Er war plötzlich aufgeregt, wollte etwas dazu sagen, schwieg aber, nahm sie statt dessen in die Arme, ganz sacht. Das sei abends oben auf der Spitzwiese gewesen, unter freiem Himmel. Nichts erinnerte an den Krieg. Ihr sei so heiß geworden, das habe sie noch nie erlebt.
Ein Vierteljahr später heirateten sie. Es ging ihnen nicht schlecht. Sie hatten eine kleine Wohnung gefunden, und er arbeitete in einer Schreinerei – das hatte er gelernt. Er sei gut, viel zu gut, um die Drecksarbeit auch noch machen zu müssen, habe Mutter zu ihm gesagt. Türen schleppen auf dem Bau und alles. Er sei es, der den anderen sagen müsste, was sie zu tun hätten und nicht umgekehrt. Doch er wollte nichts davon wissen. Er habe lange genug Befehle gegeben – das sei jetzt schon in Ordnung so. Er war gutmütig, auch als Ehemann. Treu, ehrlich, aufmerksam, manierlich – nur mehr Feuer hätte sie sich …
Sie zeigte mir Fotos. Das tat sie immer, wenn sie ablenken wollte. Sie rückte an mich heran, nahm das Album und spielte Sonntagnachmittag. Anfangs ging ich noch darauf ein: trank ihren Kaffee, aß ihren Kuchen, nickte, wenn es an der Zeit war zu nicken. Wie gut ihm die Uniform gestanden habe, sie habe ihn ja nie so gesehen – eben nur auf Bildern – aber er muss bestimmt eine imposante Erscheinung gewesen sein. Den Körperbau hätte ich schon von ihm, aber ich würde halt nichts dafür tun. Er habe trainiert in seiner Jugend, musste er ja. Allein den Rückstoß eines Gewehres aushalten zu können oder etwa einer Panzerfaust, das habe sie einmal von ihrem Vater gehört, sei eine unglaubliche Kraftanstrengung. Doch ich ließ mich nicht ablenken. Ich sagte, sie solle endlich weitererzählen, sie könne ja den Tisch dabei abräumen, wenn ihr das helfen würde. Sie zierte sich: es sei nicht richtig, mit mir über all das zu sprechen, sie sei doch meine Mutter.

In der ersten Nacht habe er sie nicht angerührt. Er habe neben ihr auf dem Bett gesessen, ausgezogen eigentlich, aber doch angezogen. Zuerst versuchte sie noch, ihm näher zu kommen, tastete mit den Füßen unter der Decke zu ihm hinüber, doch er rückte weg. Er wollte erzählen, und sie war ja auch froh, dass er endlich mal redete, er war doch immer so still – nur warum ausgerechnet jetzt? Sie konnte nicht richtig zuhören, musste immer seinen Hals anschauen, der so breit war und fest; und den Brustkorb, den sie nicht umfassen konnte, auch wenn ihre Arme lang genug waren. Er habe vom Krieg gesprochen und von der Zeit davor. Dass er mit seinen Freunden Sport getrieben und Ringkämpfe gemacht habe, dass sie sich gegenseitig die Oberarme abgemessen und dauernd Wetten abgeschlossen haben – wer von ihnen wohl zuerst auf der Matte liegen würde, wer am schnellsten den See durchquerte, wer die Kleine dort rumkriegte. Und später bei der Ausbildung, da habe er allein im Wald das Anschreien geübt, bis ihm der Hals wehtat und die Stimme viel zu hoch wurde – wie bei einer Frau habe es zuerst geklungen. Er musste es doch lernen, sonst hätte man ihn ausgelacht. Das sei ja das Schreckliche am Krieg, sagte er, dass er immer irgendwie passt. Sie verstand nicht, was er meinte. Vielleicht, wenn sie besser zugehört hätte.
Er blieb auch später immer zurückhaltend. Sie nannte es zärtlich. Dabei war er schon ein richtiger Mann, hatte damit nie Probleme. Nach zwei Monaten Ehe war Mutter schwanger. Er habe sich ständig neue Mädchennamen ausgedacht – Carmen, Charlotte, Katharina, jeden Tag einen neuen. Für einen Jungen fiel ihm nichts ein. Er war sich sicher, dass es ein Mädchen sein würde. Sie lachte darüber und zog ihn damit auf, dass ihm eine Frau wohl nicht reichen würde. Aber es war ihm ernst. Einmal, da saßen sie gerade beim Abendbrot, schrie er sie an, dass er keinen Jungen haben wolle – lieber gar kein Kind als einen Sohn. Sie solle aufhören, Witze über ihn zu machen. Mutter habe ihn angestarrt. Er hatte sie noch nie angebrüllt. Sie hatte doch nur gefragt, ob er sich denn nicht auch einen Stammhalter wünsche, Männer wollten doch immer Söhne – das sei kein Witz gewesen. Aber er entschuldigte sich nur, obwohl er immer noch ganz aufgeregt war, und sagte, es würde schon alles gut werden, und er freue sich auf das Mädchen. Mutter bekam Angst.
Ich kam zu Hause auf die Welt, im elterlichen Schlafzimmer. Er arbeitete noch. Die Hebamme sei zufrieden gewesen: ein schöner gesunder Bursche. Für einen Moment habe Mutter mit dem Gedanken gespielt, mein Geschlecht zu verheimlichen. Es war ja noch so klein. Dann wurde sie wütend auf ihn, weil es seine Schuld war, dass sie so etwas überhaupt denken konnte. Und schließlich war sie davon überzeugt dass alles vergessen wäre, sobald er mich sah. Die Hebamme sollte trotzdem bleiben. Sie wollte nicht allein sein, wenn er kam.
Er stand vor dem Bett. Mutter habe mich in den Armen gehalten und zu lächeln versucht, mehr für ihn als für sich. Die Hebamme sagte, dass er stolz sein könne und dass die Ähnlichkeit ja wohl verblüffend sei. Er wusste Bescheid. Und als Mutter das Baby noch enger an sich drückte, sei er einfach aus dem Zimmer gegangen; aus dem Zimmer und aus der Wohnung. Sie habe den Griff wieder gelockert und die Augen geschlossen. Nur Geduld, habe sie gedacht, das wird schon werden, ganz sicher. Mutter begann zu warten.
Ein paar Stunden später kam er zurück. Sie wartete, aber er sagte nichts. Keine Erklärung, kein Wort über das Kind. Er sei sehr lieb zu ihr gewesen, habe sie gestreichelt und für sie Tee gekocht. Doch er sprach mit ihr, als sei sie krank; tröstete sie, als habe sie ein totes Kind geboren. Aber das Kind war da, es atmete und schrie. Er hörte nichts, sah es nicht, ging nicht in seine Nähe. Mutter wartete.
Die Taufe fand ohne ihn statt. Bei den Sonntagsausflügen war er anwesend, mehr aber auch nicht. Er schob niemals den Kinderwagen, schüttelte nie die kleine Decke und das Kissen auf.  Er nahm kein einziges Mal die Rassel in die Hand, konnte sich nicht darüber freuen, wie der Kleine sie mit den Augen verfolgte, um nach ihr zu greifen. Die ersten Worte hörte er nicht, und als das Kind mit ausgestreckten Armen plappernd auf ihn zu stolperte, sei er nicht einmal mehr ausgewichen. Er ließ sich berühren – darauf hatte Mutter gewartet. Aber doch nicht so: wie sich ein Stock anfassen lässt oder ein Geländer.
Er sei doch nicht aus Holz gewesen, sagte sie.
Sie habe immer wieder versucht, mit ihm zu reden. Es nutzte nichts. Er war nicht mehr da. Sie hörte auf zu warten und dachte nur noch an das Kind. Ich war vier Jahre alt.

Nichts mehr zu sagen – nur hier zu sitzen, wortlos. Irgendetwas müsste dann passieren; das kann doch keiner lange aushalten.

Er sei an jenem Abend sofort nach der Arbeit in den Keller gegangen. Er hatte sich dort eine Werkstatt eingerichtet, wo er Figuren schnitzte und Möbel reparierte, um das Haushaltsgeld aufzubessern. Sie habe noch eine Weile genäht und sei dann schlafen gegangen. Mein Bett stand im Wohnzimmer. Er musste etwas umgeworfen haben, als er in die Wohnung kam, oder vielleicht hatte sie es auch einfach nur gespürt – jedenfalls wachte Mutter mitten in der Nacht auf. Auch wenn sie nichts mehr hörte, so wusste sie doch, dass er nebenan war. Sie wurde unruhig. Ohne das Licht an zu machen, stand sie auf und tappte ins Wohnzimmer. Im Halbdunkel habe sie ihn von hinten gesehen, wie er sich über mein Bett beugte.
Vater roch nach frisch gesägtem Holz.
Mit einem Schrei stürzte sie auf ihn zu. Er drehte sich um, ließ das Schnitzmesser fallen, fragte, warum sie denn nicht schlief? Ganz ruhig fragte er das. Sie schlug auf ihn ein, mit den Fäusten auf die Brust, ins Gesicht, heulte, beschimpfte ihn. Er rührte sich nicht, wehrte ihre Schläge nicht ab, stand nur da wie angewurzelt, bis sie nicht mehr konnte, nur noch jammerte und schluchzte. Er strich ihr übers Haar, dann ließ er sie stehen und ging.
Mutter erreichte, dass er ins Krankenhaus gebracht wurde, in das fast dreißig Kilometer entfernte Zwiestetten. An manchen Wochenenden besuchte sie ihn. Unter der Woche musste sie ja arbeiten und hatte keine Zeit. Ich war nie dabei. Mutter erzählte nichts von den Besuchen, doch sie war oft traurig, wenn sie heimkam. Ich tröstete sie, sagte, dass er bestimmt bald wieder gesund werden würde. Gefragt habe ich nicht. Als ich acht Jahre alt war, starb er im Krankenhaus. Niemand konnte genau sagen, woran. Vielleicht war es die Kriegsverletzung. Sie ging danach noch zweimal nach Zwiestetten, um seine Sachen zu holen und um sich mit dem Arzt zu treffen, der immer die Gespräche mit ihm geführt hatte. Aber sie erfuhr nichts. Ich konnte mir so einen Arzt nicht vorstellen, der keine Apparate hatte und mit dem man nur redete. Wie hätte so einer ihm auch helfen können, sagte Mutter.

Hätten nicht jedes Mal andere Blumen auf dem Tisch gestanden, hätte sie im Sommer nicht die leichten, durchsichtigen Kleider getragen und im Winter ihre wollenen Sachen – ich hätte schwören können, dass sie diesen Raum nie verlies. Dass sie immer in diesem Sessel sitzt und nur aufsteht, um mich hereinzulassen.
Nein, ich habe Mutter jetzt schon lange nicht mehr besucht. Sie sieht auf die Uhr – noch fünf Minuten. Sie braucht nichts zu sagen, ich weiß schon. Überzogen wird nicht, auch heute nicht. Wir stehen auf. Sie wird mich zur Tür bringen. Ich sollte ihr endlich die Hand geben, wenigstens heute; auch wenn sie immer noch schwitzt. Ich könnte ja fester zudrücken, dass es ein bisschen wehtut – zum Ausgleich.
Das wäre gut.

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2 Gedanken zu “Alexander Häusser – Der Stammhalter

  1. Hier spürt man direkt was der Krieg bei dem Vater ausgelöst hat. Er wollte ein Mädchen, weil es zur damaligen Zeit nicht in den Krieg als Soldatin ziehen musste. Er hatte sicherlich viele Jungen als Jungsoldaten sterben sehen.

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