Mit freundlicher Genehmigung der Lyrikerin Safiye Can dürfen wir ihre ungekürzte Laudatio für Lina Atfah zum LiBeraturpreis 2020 veröffentlichen:
Liebe Lina Atfah, lieber Osman Yousufi, liebe Damen und Herren,
wir befinden uns im Jahr 2020 inmitten einer Pandemie, in der von heute auf morgen unser aller Leben auf den Kopf gestellt wurde, und welches auch auf den gesamten Kulturbetrieb zutrifft. Literaturveranstaltungen wie Lesungen fielen spätestens seit März komplett aus und auch der mühsame Versuch, diese anderweitig und unter Vorbehalt zu organisieren, scheiterte mehrfach und raubte mehr Zeit, als dass es fruchtete. Alsbald stellten wir DichterInnen fest, dass wir ohne den sogenannten Brotberuf, welches ein geregeltes monatliches Einkommen verspricht, und ohne Rücklagen, in existenzieller Gefahr sind. Mir selbst ist keine Dichterin bekannt, die sich Rücklagen leisten kann, und nach wie vor kämpft Lyrik weltweit ihren Kampf im harten Literaturbetrieb.
Aktuell finden, insofern sie den wichtigen Corona-Hygienevorschriften gerecht werden, nur wenige Lesungen statt. Die Buchmessen und eine Vielzahl von Buchvorstellungen sowie Preisverleihungen sind betroffen. Umso erfreulicher, dass es Preise wie den LiBeraturpreis gibt, die Autorinnen in ihrem Schreiben unterstützen und dass die Preisvergabe heute an diesem besonderen Ort, (dem ehemaligen Literaturhaus) in der Villa 102 im Frankfurter Westend stattfindet.
Für Sie, liebes Publikum, das jetzt nicht dabei sein kann, wird aufgezeichnet. Denn ohne Publikum und Leser funktioniert im Literaturbetrieb genau gesagt: nichts.
1987 ins Leben gerufen, wird der LiBeraturpreis seit 2013 von Litprom vergeben. Der Publikumspreis zeichnet jährlich einen besonders beliebten Titel einer Autorin aus Afrika, Asien, Lateinamerika oder der Arabischen Welt aus, der ins Deutsche übersetzt wurde. Das öffentliche Online-Voting hat in diesem Jahr die Autorin Lina Atfah, die 2014 aus Syrien flüchtete und seitdem in Deutschland lebt, mit deutlichem Vorsprung für sich entschieden. Damit wird der LiBeraturpreis heute zum ersten Mal für einen Lyrikband vergeben, was mich als Dichterin besonders freut.
Liest man das zweisprachige, arabisch-deutsche Buch mit der erfolgreichen Gestaltung, den zwei Lesebändchen in mint und pastellrosa mit dem poetisch gelungenen Titel Das Buch von der fehlenden Ankunft, weiß man auch, dass dieses Werk diesen Preis verdient.
Mit Lina Atfah haben wir nicht nur zum ersten Mal eine Dichterin als Preisträgerin, sondern auch eine in Deutschland lebende Autorin, die heute den Weg von Wanne-Eickel in Nordrhein-Westfalen zu uns nach Frankfurt am Main gefunden hat. Ich heiße sie und ihren Mann herzlich willkommen.
Lina Atfah ist 1989 in Syrien geboren. Sie studierte in Damaskus arabische Literatur. 2006, als sie gerade einmal 17 Jahre alt war, wurde sie beschuldigt, Gotteslästerung begangen und den Staat beleidigt zu haben. Ihr wurde das Schreibverbot auferlegt. Nach mehreren Drohungen der Sicherheitsbehörden erhielt sie 2014 die Erlaubnis, das Land zu verlassen und kam über den Libanon nach Deutschland.
Das Buch von der fehlenden Ankunft, herausgegeben im Bielefelder Pendragon Verlag, besticht durch sprachliche Wucht, feine Beobachtungsgabe sowie das richtige Gespür für das Wesentliche. Gute Gedichte haben die Besonderheit an sich, mit jedem Lesen Neues zu erzählen und genau das passiert in diesem herausragenden Buch. Lina Atfah hat uns und sich selbst wichtiges mitzuteilen über Flucht und Ankommen, über Krieg und Terror, über Tod und das Überleben. Über die Liebe, die Kindheit und die Sprache. Ihre Waffe ist die Poesie. Die im Lyrikband gesammelten Gedichte schrieb die Autorin sowohl in Syrien, als auch nach ihrer Ankunft in Deutschland. 2019 ist Das Buch von der fehlenden Ankunft erschienen, ist bereits in der 2. Auflage, und die Gedichte darin, berichten nach wie vor von aktuellen Ereignissen: von der Tragödie aller Menschen, die sich auf der Flucht befinden:
aber wir tragen die Narben des Abschieds
seit dem Fluch der Vertreibung bis zur Ankunft an einem Weizenfeld
fanden die Wanderungen kein Ende und der Mensch keinen Zufluchtsort
heißt es im Gedicht, das dem Buch seinen Namen gab (S.26, V5-9).
weiter berichtet die Dichterin:
wir flohen vor dem Hunger, während die Erde uns in ihren Klauen hielt
während die Kinder starben (V12)
Und sie stellt dieselbe Fragen, die auch wir uns stellen:
warum müssen Kinder so etwas durchmachen? (V16)
Ja, warum müssen Kinder so etwas durchmachen? Vor einer Woche, in der Nacht zum 9.9.2020, brannte das griechische Flüchtlingslager Moria ab, in dem seit 2015 bis zu 20.000 Menschen unter unwürdigen Bedingungen auf engstem Raum lebten, das für 2800 Menschen bestimmt war. Diesen Menschen fehlt es auch jetzt, in dieser Minute, an allem: Wasser, Nahrung, Kleidung, Toiletten. Die Menschen schlafen unter freiem Himmel, und als wäre das nicht dramatisch genug, werden sie, Mütter, Väter und Kinder, mit Tränengas beschossen. Die Not ist groß; Menschen kollabieren ohne Wasser und sie sind gezwungen, Abwasser zu trinken. Zudem wird die Insel Lesbos derzeit von einer Coronawelle erfasst.
Lina Atfah beschreibt in ihren Versen eigentlich das Unbeschreibbare, das uns fassungslos macht. Durch ihre Poesie lernen und erfühlen wir neues, werden tief berührt. Sie findet die Worte für das Schrecken, das uns die Sprache verschlägt und führt im Gedicht Am Rande der Rettung (S.23) vor Augen:
Sie kommen auf dem Land-, See- oder Luftweg
Sie fliehen von Hauptstadt zu Hauptstadt, von einer Grenze zu anderen
als seien die Landkarten Illusionen
meine Freunde, meine Familie und mein Volk
ihr Anteil am Leben ist die Flucht
In den rhythmischen Versen von Atfah, die zugleich eine wichtige Zeitdokumentation darstellen, spricht eine Dichterin für und im Namen des syrischen Volkes als auch aller geflüchteter Menschen – jenen, denen die Ankunft verwehrt bleibt. Und man stimmt der Dichterin zu, wenn man ihre Worte liest:
(Zitat aus Lin und Laila und der Wolf II, S.36):
unsere Kinder sind Menschen, Gewehre bringen Sie um
wir breiteten unsere Seelen für Sie aus
doch auf dem Weg in ihr eigenes Leben
gerieten sie in eine blutüberflutete Heimat
an den Mörder, schliefen friedlich unter seiner Klinge ein
Mögt ihr erwachen am Morgen mit Spielzeugen, Malbüchern
mögt ihr erwachen am Morgen mit all den Buchstaben
dem Alphabet und dem Lispeln bei ess und zett
mögt ihr erwachen am Morgen mit Liedern, einem Traum
in dem die Kindheit nicht geopfert wird für unser Überleben
Im Gedicht Verdruss (S.37) stellt die Dichterin wiederum für sie existenzielle Fragen, auf die sie folgende antworten hat; dort heißt es zum Beispiel:
-Warum sterben die Dichter?
Um die Unsterblichkeit ihrer Namen zu prüfen
-Warum sterben die Tyrannen?
Damit die Völker leben können
An einer anderen Stelle (S.74f.) schreibt sie über das schreckliche Massaker von 2015, das sich im Dorf (Al Mabujah) in der Nähe ihrer Heimatstadt befindet. Dort hat der IS viele Bewohner entführt und getötet. Das 3-Seitige Gedicht endet mit folgenden Versen:
Wir versteckten uns als Familie
und überlebten als Einzelpersonen
Lyrik, liebe Damen und Herren, kann alles und das auf engstem Raum.
Der Autorin Atfah war es seit 2006 untersagt an Lesungen teilzunehmen und Gedichte zu publizieren. Von 2006-2016 konnte sie keine ihrer Strophen vor Publikum vortragen. 2016, zwei Jahre also nach ihrer Ankunft in Deutschland, bekam sie eine Einladung aus Köln an einer arabischsprachigen Lesung mitzuwirken. Von da an kam der Stein nun endlich ins Rollen und Atfah wurde Teil von Übersetzungsprojekten, was auch die vielen ÜbersetzerInnen ihres gelungenen Buches erklärt.
„Es ist“, so erzählte mir Lina in einem Gespräch bei einem abendlichen Spaziergang in Bad Oeynhausen, „als würde ich endlich wieder atmen. Manchmal denke ich, dass ich in einem Traum bin. Ich kann mein Glück gar nicht fassen.“ Dieser Satz bereitete mir Gänsehaut, und wir schwiegen einige Schritte nach diesen Worten.
Einer Dichterin den Leser, die Bühne, das Publikum zu verbieten, bedeutet ihr die Existenzberechtigung zu nehmen. Der Mensch hinter der Dichterin ist nur die Dichterin selbst. Man kann die öffentliche Person von der Privatperson nicht trennen. Dichterin zu sein, bedeutet nicht eine Fremdperson zu schauspielern, vielmehr ist es eine Seins-Art, die man sich nicht selbst ausgesucht hat, sondern die einem gegeben ist. Dichterin zu sein, bedeutet auserwählt zu sein mit einer besonderen Fähigkeit und mit besonderen Fühlern, welches Glück und Unglück, Beschenkung und Fluch zugleich bedeutet.
Zwölf ÜbersetzerInnen wirkten am Buch, die allesamt gute Arbeit leisteten und denen an dieser Stelle ebenfalls zu danken ist:
Dorothea Grünzweig, Mahmoud Hassanein, Brigitte Oleschinski, Hellmuth Opitz, Christoph Peters, Annika Reich, Joachim Sartorius, Suleman Taufiq, Julia Trompeter, Jan Wagner, Kerstin Wilsch und Osman Yousufi.
Mit dem Abdruck von bis zu zwei Gedichtübertragungen von ein und demselben Gedicht, zeigt das Buch dem Leser auf clevere Weise, dass ein Gedicht auf verschiedene Arten übertragen und eben auch interpretiert werden kann. Und mit diesen verschiedenen Lesemöglichkeiten ist der Leser näher an der Dichterin.
Liebe Lina, ich freue mich, dass ich deine erste Laudatio halten durfte. Möge dieser noch viele weitere folgen. Vor zwei Wochen sagtest du mir etwas Wichtiges, nämlich: „In den arabischen Ländern bin ich identitätslos. In Deutschland bin ich ein Flüchtling.“ Und heute möchte ich dir darauf antworten:
Im Namen des deutschen Literaturbetriebes sowie im eigenen Namen heiße ich dich herzlich willkommen in einer hoffentlich zweiten Heimat, bei der du fortan frei atmen und dich frei atmend entfalten kannst, so wie es einer jeden Dichterin überall auf der Welt zustehen sollte und muss. Herzlichen Glückwunsch zum LiBeraturpreis 2020!
LiBeraturpreis 2020
Villa 102, Bockenheimer Landstr. 102
Frankfurt am Main
16.9.2020, 11:00 Uhr (Online-Ausstrahlung: 15.10.2020 zur FBM20)
(Das Bild wurde uns von Osman und Lina zur Verfügung gestellt.)
Pendragon
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