zbV

Genau 241 Tage ist es jetzt her, dass ich meinen Vater wiedergetroffen habe. Ich weiß es noch wie heute: Es war ein Samstag­vormittag im Juni. Die Sonne tauchte die Gebäude rund um die Binnenalster in ein rötliches Licht, im Innern des Museums aber merkte man davon nichts. Mein Vater kam mir mit einem Lä­cheln entgegen, die linke Hand wie einen Mützenschirm über die Augen gelegt, als blende ihn etwas. Bei genauerem Hinsehen war das Lächeln eher grobkörnig und verwischt. War es überhaupt ein Lächeln? Aber das war doch unverkennbar er: Die dichten, glatten, lackschwarzen Haare straff zurückgekämmt, die rasier­ten Schläfenpartien, der etwas scheue, jungenhafte Blick. Seine Uniformjacke war aufgeknöpft wegen der Hitze. Er stand etwas im Hintergrund, neben ihm ein Kamerad, der die Jacke gleich ganz ausgezogen hatte und mit verschränkten Armen im Unter­hemd posierte. Ich trat ein paar Schritte zurück und rempelte da­bei einen älteren, gut gekleideten Mann an, der zusammen mit seiner Frau die Ausstellung besuchte. Sein empörter Blick wich einem verständnisvollen Nicken, als ich mich rasch für mein Un­geschick entschuldigte. Eigentlich war auch ich zusammen mit meiner Frau für ein verlängertes Wochenende in Hamburg. Ines besuchte eine Freundin in Winterhude, ich hatte also bis zum späten Nachmittag Zeit für mein eigenes Programm. Spontan hatte ich mich entschlossen, in die Ausstellung zu gehen. Und hier war ich unverhofft meinem Vater begegnet. Das Foto war als Quer­format auf etwa zwei Meter Breite und anderthalb Meter Höhe hochgezogen worden. Im Zentrum des Motivs stand ein Mann, der anscheinend von deutschen Soldaten aufgestöbert worden war. Er trug eine Schiebermütze, eine etwas zu weite Hose, ein ehemals weißes, jetzt verschmutztes kragenloses Hemd und da­rüber Hosenträger. In seinen weit aufgerissenen Augen zeigte sich ein angstflackernder Blick. In der Hand hielt er eine Schaufel, hin­ter ihm eine ausgehobene Grube. Rechts neben dem Mann stand ein deutscher Offizier, der ihn um fast zwei Haupteslängen über­ragte. Er lachte in die Kamera und lehnte sich mit seinem Unter­arm auf die Schulter des verängstigten Mannes. Auf der linken Seite ein Soldat, der ebenfalls breit grinste und eine Pistole in der Hand hielt. Im Hintergrund vier weitere Soldaten, darunter mein Vater. Oder war er es doch nicht? Ich versuchte, mich zu beru­higen. Wenn eine Radarfalle ein solches Foto von einem Auto­fahrer schießen würde, könnte sich der betroffene Raser ohne Mühe herausreden: „Das bin ich nicht!” Dennoch blieb ein na­gendes Gefühl beim Betrachten des Fotos zurück. Die Informa­tionstafel neben dem Bild verstärkte das Unbehagen noch: „Ende Mai 1942: Nach der Kesselschlacht bei Charkow haben deut­sche Soldaten der 6. Armee einen versprengten Partisanen aufge­griffen. Er muss sein eigenes Grab schaufeln und wird wenig spä­ter erschossen.” Mein Vater war Soldat in der 6. Armee gewesen. Diese faktische Übereinstimmung, die für sich genommen noch gar nichts bedeuten musste, versetzte mich indes in einen Zustand hektischer Aktivität. Ich zückte mein Handy und machte ein paar rasche Nahaufnahmen von dem Bild, insbesondere von der Fi­gur, die ich für meinen Vater hielt. Einige Besucher schauten misstrauisch her, das Museumspersonal wurde aber nicht aufmerksam. Die Auflösung dieser Bilder reichte mir aber noch nicht. Ich ver­ließ die Ausstellung, kaufte mir in einem Elektrofachgeschäft in der Nähe extra eine taugliche Digitalkamera und schoss damit ein paar detailliertere Fotos. Eine Frau sprach mich an: „Ich glau­be, hier ist Fotografieren nicht erlaubt”, sagte sie. „Oh, das habe ich nicht gewusst”, sagte ich mit bedauernd zuckenden Schultern und ging rasch meiner Wege. Ich wollte jetzt etwas wissen, was ich eigentlich nicht wissen wollte.

 

Vater ist in seinem Sessel weggedöst, als ich die Tür seines kleinen Eckzimmers öffne. Sein Kopf hängt seitlich herunter, die frisch ge­waschenen Haare fallen locker, in den eisgrauen Strähnen steckt immer noch ein Hauch von dem Lakritzschwarz einstiger Tage. Ich schaue ihm beim Schlafen zu, wie er dahindämmert mit vorgeschobener Unterlippe. Ich habe ihm ein paar Mandarinen mit­gebracht, die er gern mag und die ich beim Aufwachen schälen werde. Sie schmecken frischer als alles, was er hier serviert be­kommt. Seit anderthalb Jahren ist er jetzt im Johannisstift. Es war abzusehen, als meine Mutter vor zwei Jahren starb, dass er nicht lange allein klarkommen würde. Sie hatte noch für einen Rest Mobilität gesorgt, denn es war ihm zunehmend schwerer gefal­len, mit seiner Beinprothese zu laufen, schließlich hatte er einfach keine Lust mehr gehabt, seinen Oberschenkelstumpf jeden Tag in den Schaft der Prothese zu quetschen. Waren sie vorher immer eingehakt gegangen, musste meine Mutter jetzt den Rollstuhl mit diesem kräftigen Mann schieben. Sie war, obwohl sieben Jahre jünger als er, eine abgearbeitete Frau und kurzatmig. Eines Mor­gens hatte sie einen Herzanfall erlitten. Man hatte sie rasch ins Krankenhaus gebracht und dort war es gelungen, sie kurzzeitig zu reanimieren. Dennoch starb sie nur wenige Stunden später. Bei ihrer Beerdigung hatte mein Vater zu mir gesagt: „Ab jetzt lebe ich nicht mehr. Ich existiere nur noch.” Obwohl der ambulan­te Pflegedienst sich ab sofort ganztägig um ihn kümmerte, ihn wusch, verpflegte und spazieren fuhr, war es nur wenige Monate später vorbei. Bei meinem Vater zeigten sich demente Schübe. Er kündigte große Familienfeste an, für die er mitten in den Vorbe­reitungen stecke, und von denen niemand etwas wusste. Schließ­lich hatte er telefonisch einen Partyservice mit dem Catering für 40 Leute beauftragt. Die Platten mit den Salaten, dem Fleisch, den Fisch-, Wurst- und Käseschnittchen trafen eines Sonntags­mittags ein, als der Pflegedienst ihm gerade sein Essen auf Rä­dern brachte. Der Mann vom Pflegedienst rief mich sofort an, gut 600 Euro kostete die nicht stattfindende Familienfeier, die uns endgültig klar machte, dass wir etwas anderes für meinen Vater finden mussten. Dann war alles überraschend schnell gegangen: Im Johannisstift war ein Zimmer frei geworden, das evangelische Pflegeheim lag nur zwanzig Autominuten von uns entfernt. Der permanente Betreuungs- und Pflegerhythmus tat Vater zunächst gut, er war zeitweilig sehr klar und beschwerte sich dann über den Gestank auf dem Flur, besonders am späten Nachmittag, wenn bei den intensiv pflegebedürftigen Bewohnern die Windeln für die Nacht gewechselt wurden und die Zimmertüren halb offen standen. „So ist das hier im Heim”, hatte mein Vater einmal sar­kastisch gesagt, „es riecht nach Reiniger und Multivitaminsäften, nach Sauberkeit und Gesundheit, und dazu ein feiner Hauch von Scheiße.” Doch in den letzten fünf Monaten hat mein Vater ra­pide abgebaut. Er schläft tagsüber viel, spricht überhaupt nicht mehr, stößt stattdessen in unregelmäßigen Abständen knarren­de Laute aus. Er fährt auch nicht mehr zum Essen in den Speise­saal, man muss es ihm bringen. Währenddessen läuft den ganzen Tag das Fernsehen, mein Vater schaut gar nicht hin, aber er scheint zuzuhören. Besonders gefallen ihm die nachmittäglichen Zoosen­dungen, vermutlich, weil dort ein Sprecher mit einer unglaub­lich beruhigenden Bassstimme die Texte spricht. Mein Vater wiegt dann seinen Oberkörper hin und her. Mich packt wieder ein­mal das schlechte Gewissen. Ich glaube, ich bin schuld an die­sem erneuten geistigen Verfäll. Während ich vor mich hin starre, wacht Vater auf. Ich weiß nicht, ob er mich noch erkennt. Er brummt, fast so tief wie der Sprecher in den Zoosendungen. Ich schäle die Mandarinen und reiche sie ihm. Doch er will heute nicht. Es ist jetzt genau fünf Monate her, dass ich ihm die Fotos von der Ausstellung gezeigt habe.

 

Noch in Hamburg erzähle ich Ines von meiner Vermutung. Sie schaut sich die Fotos auf dem Kamera-Display an und sagt tro­cken: „Das kann sonst wer sein.” Dennoch lässt es mir keine Ruhe. Wieder zu Hause, stöbere ich in der Familienfotokiste. Ich stoße auf ein Foto, das meinen Vater mit seinen beiden besten Freunden in Uniform zeigt, direkt vor dem Rathaus ihrer Hei­matstadt Oschatz in Sachsen. Ich weiß sogar noch ihre Namen: Bosselt Rudolf und Hitzfeld Heinz. So wie mein Vater sie immer nannte, den Hausnamen zuerst: Bosselt Rudolf war im Mai 1940 gefallen, erschossen in Flandern von einem belgischen Scharf­schützen, Hitzfeld Heinz, „der mit der Nahkampfspange”, war vermisst gemeldet, als Fallschirmjäger vermutlich über Kreta ab­geschossen worden. Mein Vater war vom ersten Kriegstag an dabei gewesen: Polen, Belgien, Frankreich, schließlich der Russlandfeldzug, Heeresgruppe Süd. Die 6. Armee rekrutierte sich hauptsächlich aus sächsischen und bayerischen Einheiten. Am 16. November 1942 wurde mein Vater in Stalino schwer verwun­det, „ein Granat-Volltreffer auf unseren LKW, es gab mehrere Tote, ein paar Leichtverletzte, einen Schwerverletzten und der war ich.” Meinem Vater musste das linke Bein amputiert wer­den. „Im Nachhinein ein Glück”, sagte er immer, „sonst wäre ich in Stalingrad dabei gewesen.” Nur drei Tage nach der Verwun­dung meines Vaters hatte die sowjetische Offensive begonnen, die zur Einkesselung der 6. Armee führte. Ich hatte diese Geschich­ten über den Krieg immer gern gehört, sie entspannen sich zu­meist sonntags nach dem Mittagessen. Nur selten gab es dabei Streit um moralische Schuld und Generationsversagen, vermut­lich weil mein Vater offen zugab, an die Sache des Nationalsozia­lismus zunächst bedingungslos geglaubt zu haben. „Junge, ich habe meine Lektion daraus bitter lernen müssen”, sagte er dann oft, „nie wieder Krieg und tritt bloß nicht in irgendeine Partei ein.” Interessanter aber als diese Lehre fand ich immer die eigent­lichen Fronterlebnisse. Sie ließen sich nicht in eine zusammen­hängende Geschichte einfügen, es waren einzelne Bilder, die sich meinem Vater eingebrannt hatten und die er immer wieder er­zählte. Wie sie flüchtende französische Soldaten verfolgten und in einem Hohlweg auf ein totes Artilleriepferd trafen. Das Pferd stand aufrecht, bis zum Bauch versunken in einem Schlammloch. „Die Franzosen haben es erschossen, weil seine Befreiung zu lang gedauert hätte”, meinte mein Vater, „schade drum: ein riesiges Pferd.” Ein anderes Erlebnis betraf den Polenfeldzug. Es war in der Nähe von Lublin: Ein polnischer Scharfschütze hatte mor­gens früh einen Soldaten mitten beim Rasieren erschossen. Schnell stand fest, dass er von einem Kirchturm aus feuerte. „Wir bau­ten die Achtacht-Flak auf und rasierten dafür den Kirchturm”, sagte mein Vater und schaute wie ertappt wegen zu viel Begeisterung und Leidenschaft. Ich fragte ihn oft, ob er selbst Menschen erschossen habe. „Das weiß ich nicht genau”, antwortete er, „ich war Schütze eines schweren MGs. Die Entfernungen waren so groß, ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.” Ich glaubte ihm das nicht so recht, insistierte aber nicht weiter. Einmal fragte ich ihn, ob er im Krieg denn auch auf Juden getroffen sei. Er erzähl­te eine Begebenheit, die sich nach Eroberung eines Dorfes hin­ter Charkow abspielte. Der Hauptmann seines Zuges, „ein fieser, sadistischer Kerl”, hatte einen ca. 30jährigen Mann aufgetrieben, der sich im Verschlag einer Hütte versteckt hatte. „Dieser Sau­jude”, wie der Hauptmann höhnisch sagte, hatte sein Grab aus­heben müssen, wurde dann aber wider Erwarten nicht erschossen, sondern angstschlotternd, wie er war, an nachfolgende SS-Ein­heiten übergeben. „Man kann sich vorstellen, was die mit ihm gemacht haben”, schloss mein Vater die Erzählung. An diese Be­gebenheit musste ich auf der Rückfahrt von Hamburg denken. Sie hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Fotodokument aus der Ausstellung. Zuhause angekommen, versuchte ich, etwas über die 6. Armee zu erfahren. Es gab im Internet eine Vielzahl von Einträgen. Ein Großteil davon stammte aus Quellen wie Wikipedia oder dem Lexikon der Wehrmacht, die aber zumeist das objektive Datenmaterial paraphrasierten. Es gab einen Abschnitt, der sich neben den Funktionen als reiner Kampfverband mit den Kriegsverbrechen der 6. Armee beschäftigte. Offiziere eines be­stimmten Armeekorps seien an der Planung des Massakers von Babyn Jar beteiligt gewesen, hieß es, bei der im September 1941 innerhalb von zwei Tagen über 33.000 Juden ermordet wurden. In Charkow hatte nach diesen Aufzeichnungen ein SS-Sonderkommando im Einvernehmen mit dem Generalstab und der Feldkommandantur eine „Judenaktion” vorbereitet: Dabei wur­den im Dezember 1941 mehr als 20.000 jüdische Männer, Frau­en und Kinder aus Charkow in ein Barackenlager außerhalb der Stadt „evakuiert” und anschließend von der SS erschossen oder in einem Gaswagen erstickt. Das Foto von der Ausstellung, auf dem, wie ich vermutete, mein Vater zu sehen war, ließ keine systematische Arbeitsteilung zwischen SS und Wehrmacht erkennen. Es zeigte die übliche militärische Praxis, mit Partisanen kurzen Prozess zu machen. Beruhigen konnte mich diese Erkenntnis kei­neswegs.

 

Am letzten Mittwoch hat mich die Stationsschwester beiseite genommen. „Wenn er weiter so rapide abbaut wie in den letzten Mo­naten”, sagte sie, während sie diverse Pillen in die Morgens-/Mittags-/Abends-Nischen der Medikamentstreifen zählte, „wird er bald komplett bettlägerig sein. Er schläft tagsüber viel, nachts dafür kaum. Dabei geben wir ihm abends schon starke Schlaf­tabletten.” Und dann erzählte sie von einem Erlebnis. Während einer Nachtschicht hatte sie in einem Seitentrakt zu tun gehabt und zufällig einen Blick aus dem Fenster auf den Ostflügel des Gebäudes geworfen. Alle Fenster seien dunkel gewesen, die Gar­dinen vorgezogen, nur das Gesicht meines Vaters habe sie in ei­nem der Fenster erblickt. Erhellt von der Nachtbeleuchtung der Eingangstür habe er einfach hinausgestarrt, auf das Rondell der Feuerwehrzufahrt. „Und das nachts um vier, es war unheimlich”, sagte die Schwester und in ihrer Stimme schwang ein leichter Vor­wurf mit, als könne ich etwas für die nächtlichen Eskapaden mei­nes Vaters. Für einen Moment ergriff wieder das schlechte Ge­wissen von mir Besitz. Vor fünf Monaten hatte ich meinem Vater die Fotos von der Ausstellung in Hamburg gezeigt. Ich hielt ihm das Display der Digitalkamera dicht vor das Gesicht: „Kannst du dich daran erinnern?”, fragte ich ihn, „weißt du, wo das war?” Mein Vater kniff die Augen zusammen. „Bist du das auf dem Bild, Vater?”, fragte ich nun eindringlicher, weil keine Reaktion kam. Mein Vater brummte nur. Eine Illusion, jetzt eine Antwort zu er­warten. Die Hilflosigkeit macht mich einen Moment lang wü­tend: „Bist du das?!” Mein Vater brummte noch unwilliger, wieg­te den Oberkörper hin und her und wandte den Kopf ab. Es war zwecklos gewesen. Von da an, so kam es mir zumindest vor, hatte sich sein Zustand stetig verschlechtert. „Sie werden bald Pfle­gestufe drei beantragen müssen”, unterbrach mich die Stationsschwester in meinen Überlegungen, „das heißt auch, wir werden das Zimmer Ihres Vaters für die Intensivpflege umräumen müs­sen. Das Bett kommt in die Mitte des Zimmers, es muss von bei­den Seiten zugänglich sein. Das heißt natürlich, dass Sie noch einiges aus dem Zimmer entfernen müssen.” Ihre Stimme war jetzt frei von jedem Vorwurf und hatte wieder den Ton sachlicher Bestimmtheit. Am Freitagnachmittag holte ich vorsorglich einige Dinge ab: einen Sessel, einen runden Tisch, einen Sack mit Klei­dung und eine Kiste mit Büchern, Fotos und anderen Unterla­gen. Als ich diese Dinge in unseren Heizungskeller räumen woll­te, rutschte mir auf der Treppe die Bücherkiste aus der Hand, rollte hinab und landete auf der Seite. Mehrere Bücher und Klar­sichtfolien fielen heraus und lagen verstreut auf dem Kellerboden. Als ich sie einsammelte, entdeckte ich in einer zusammengefal­teten und mit Tesafilm verklebten Folie ein verwaschenes grünes Büchlein. Ich nahm es aus der Folie heraus, es steckte in einem kleinen, ebenso hellgrünen Schutzschuber. Auf dem Schuber stand in Frakturschrift das Wort „Wehrpaß”, darunter war ein rechteckiger Kasten, in den mit roter Schrift das Wort „Heer” ein­gestempelt war. Ich hatte nichts davon geahnt, dass dieses Do­kument noch existierte, ich hatte es für verschollen gehalten und nun das.

 

Ich entstamme einer Familie von Kriegsversehrten. Ich bin ihr unverhoffter Nachkömmling, ein Spätgeborener. Sowohl meine Mutter als auch mein Vater hatten schon eine Familie gehabt, bevor sie Mitte der 50er Jahre erneut heirateten und ich drei Jah­re später auf die Welt kam. Der erste Mann meiner Mutter war wenige Tage vor Kriegsende gefallen, von einem Scharfschützen erschossen vor einer Kaserne in Norditalien. Die erste Frau mei­nes Vaters hatte sich scheiden lassen, nachdem er beinamputiert aus Russland heimkam. Bis auf die wenigen Erlebnisse, die mein Vater sonntags erzählte und die meine Mutter ungern hörte, war der Krieg ein zwar immer anwesendes, aber selten zur Sprache kommendes Thema. Die dunkle Zeit, sie war bei uns zu Hause kein Klischee, sondern ein Familiengepäckstück. Wie ein Tief­druckgebiet lastete sie auch 20 Jahre danach auf dem Gemüt mei­ner Eltern. Das wurde besonders abends spürbar, wenn wir nach dem Abendbrot in der Stube saßen, ich auf dem Boden spielte und meine Eltern Radio hörten. Eine Traurigkeit, die alle mund­tot machte. Es ging uns wie vielen Deutschen. Die moralische Schuld dieses Krieges schlug der Generation meiner Eltern die Instrumente der Trauer aus der Hand. Wer zu den Taten schweigt, darf von Erlittenem nicht sprechen. Irgendein ausländischer Poli­tiker hatte das gesagt oder zumindest so ähnlich. Dennoch war bei meinen Eltern das Gefühl da, für diesen Krieg gebüßt zu ha­ben – und zwar nicht zu knapp. „Wenn jemand für den Krieg bezahlt hat, dann ja wohl unsere Familie”, hatte meine Mutter einmal in plötzlich aufwallendem Zorn hervorgestoßen. Als Kind hatte ich nur ungefähr geahnt, was sie damit meinte. Erst später, als ich einige Wahrheiten mehr kannte, wusste ich, in welchem Ausmaß die beiden Familien meines Vaters und meiner Mutter gezahlt hatten. Der ein Jahr ältere Bruder meiner Mutter war ge­fallen, ihr erster Mann ebenso. Mein Vater hatte sein Bein ver­loren und daraufhin seine Frau. Der Mann seiner Schwester fiel 1942 in Russland. Im Mai 1945 schließlich, als die Amerikaner in einer Nacht- und Nebelaktion Westberlin gegen das eigentlich von ihnen eroberte Sachsen und Thüringen getauscht hatten, mar­schierten die Russen auch in Oschatz ein. In den folgenden Tagen kam es zu massenhaften Vergewaltigungen. Auch die Schwester und die Mutter meines Vaters waren nicht verschont geblieben. Mein Großvater, der als Kriegsgefangener der Russen im ersten Weltkrieg gesehen hatte, wie russische Soldaten eine Baracke mit kranken und verwundeten deutschen Soldaten angezündet hat­ten, war daraufhin vor Angst und Scham in einen Steinbruch ge­gangen und hatte sich hinabgestürzt. Meine Eltern hatten für ihr Empfinden wahrlich genug gebüßt für eine Schuld, die sich nach ihrer Meinung in anfänglicher Begeisterung, Mitläufertum, Weg­schauen und Ignoranz erschöpfte. Sie erlebten Geschichte als Strafprozess, ihr Urteil: Lebenslange Trauer, die nicht nach außen getragen werden durfte. Vielleicht hatte ich deshalb nie das Bedürfnis, meiner Elterngeneration ihre Schuld vorzuhalten. Sie trugen ihre Schuld längst. Und dennoch war meine Kindheit fröh­lich. Nicht unbeschwert, aber fröhlich.

 

Vorsichtig zog ich den Wehrpass aus dem Schuber. Er war noch einmal in hellgraues dünnes Umschlagpapier eingebunden. Auf ihm prangten der Adler auf dem Hakenkreuzsymbol, wiederum das Wort „Wehrpaß” und die Waffengattung „Heer”. Ich blätter­te auf, auch das ganz behutsam, denn die Seiten waren lappig und brüchig zugleich. Auf der dritten Innenseite schaute mich das mit Ringösen befestigte Foto meines Vaters an. Er sah ein wenig aus wie ein Lehrling, schaute scheu in die Kamera wie jemand, der leicht in Verlegenheit zu bringen war. Die Ähnlichkeit mit dem Ausstellungsfoto war da. Zweifellos. Auf den Folgeseiten fanden sich Angaben zur Person – Fremdsprachenkenntnisse: Englisch (nicht fließend), Führerscheinklasse 2 – sowie Musterungsein­träge. Am 19. Juli 1937 wurde er in den aktiven Wehrdienst ein­gestellt als Soldat der 17. (E.-M.G.) Kompanie des Infanterie-Regiments 31 in Glauchau. Dann folgten die Zugehörigkeiten zu den Dienststellen des Heeres. Kurz vor Kriegsbeginn war die Einheit meines Vaters dem 5. Kompanie- und Nachrichten-Re­giment 549 zugeteilt worden. Den nächsten handschriftlichen Eintrag konnte ich nicht entziffern, lediglich die Zeile „im Nach­richten-Regiment zbV 604” war mit Mühe zu lesen. Dann ein Stempel, dem zufolge mein Vater drei Monate vor seiner schwe­ren Verwundung zur „Gen.-Kp./N.E.A. 13” übergewechselt war, bevor er nach seiner Verwundung vorübergehend zur Reserve nach Leipzig versetzt wurde. Im Oktober 1943 schließlich schied er aus dem aktiven Dienst aus. Der Doppelseite „Beförderungen und Auszeichnungen” war ein behutsamer Aufstieg zu entnehmen: Gefreiter, Obergefreiter, schließlich Unteroffizier zbV Schon wie­der dieses Buchstabenkürzel. Natürlich wusste ich, was es im Wortsinne bedeutet. Nur war im Zusammenhang mit dem Aus­stellungsfoto, auf dem ich meinen Vater vermutete, die Begrifflichkeit „zur besonderen Verwendung” keine Formel, die mich sonderlich beruhigte. Ich recherchierte und stieß im Netz auf eine recht neutrale Definition: Die Kennzeichnung ist, soweit bekannt, nicht mit besonderen Privilegien oder Pflichten verbunden, aller­dings werden zbV-Soldaten bzw. -Agenten bevorzugt zu Spezialaufgaben herangezogen, zu denen beispielsweise auch Risikoeinsätze gehören. Ein zbV-Offizier ist meistens eine Vertrauensperson des Befehlshabers. Diese Definition war nicht so eindeutig, wie ich zunächst befürchtet hatte, sie ließ Raum für harmlose Erklärungsvarianten, die mir aber partout nicht einfallen wollten. Die Ru­brik für „Auszeichnungen” war eng bekritzelt. Mein Vater hatte das Eiserne Kreuz I. + II. Klasse erhalten, das Feuerabzeichen und die Ostmedaille. Je intensiver der Krieg geführt wurde, des­to kürzer wurden die Abstände zwischen den Auszeichnungen. Die nächste Doppelseite war randvoll mit Eintragungen, auf der rechten Seite waren sogar noch Papierschnipsel aufgeklebt, um weitere Einträge aufnehmen zu können: Unter der Überschrift „Aktiver Wehrdienst” waren die „im Kriege mitgemachten Ge­fechte, Schlachten, Unternehmungen” aufgeführt. Es begann mit „Grenzkämpfe in Westpolen”, dann folgten „Vorstoß auf War­schau” , „Schlacht bei Radom” und, Abschlussgefechte ostwärts der Weichsel”. Ein halbes Jahr später war Belgien der Schau­platz. „Durchbruch zum Ärmelkanal”, Schlacht bei Maastricht”, „Durchbruch durch die Dyla-Stellung”, „II. Schlacht in Flan­dern” waren die Stichworte, nahtlos schloss sich Frankreich an: „Durchbruchsschlacht an der Somme und Oise”, „Verfolgung bis zur Marne”, „Verfolgung bis zur Seine”, „Einmarsch in Paris”, ich überflog die Eintragungen nur noch, ein gutes Jahr später das Unternehmen Barbarossa, der Ostfeldzug: „Juli 1941 Durch­bruch durch die Stalin-Linie”, „Verfolgungskämpfe bis zum Dnjepr”, „Schlacht im Räume ostwärts Kiew”, im Herbst 1941 Abwehrkämpfe im Donez-Becken”, sie zogen sich bis Mai 1942 hin, dann las ich „Abwehrschlacht bei Charkow” und weiter „22.5.-27.5.1942: Kesselschlacht südwestlich Charkow”, mei­ne Augen hetzten zum nächsten Punkt: „Juni 1942: zbV im Operationsgebiet der Heeresgruppe Süd”. Da war es wieder: zbV, da passte der Schauplatz: Charkow. Ich konnte kaum weiterlesen, die weiteren Punkte „Teilnahme an der Operation Blau”, „Vor­stoß auf Stalingrad”, „ 16.11.1942: Verwundung bei Stalino” in­teressierten mich kaum. Die Worte „Charkow” und das Kürzel „zbV” flimmerten vor meinen Augen. Zwei Tage nach diesem Fund war ich in das Zimmer meines Vaters marschiert. Ja, mar­schiert. Ohne Begrüßung. Ich hielt ihm das Display der Digitalkamera vor Augen, dann den Eintrag in seinem Wehrpass. Ich fragte: „Warst du dabei?” und „Bist du das?” Mein Vater gab ei­nen knarrenden Laut von sich, wandte den Kopf ab, sein Ober­körper bewegte sich heftig angesichts meiner eindringlichen Laut­stärke. Für einen Moment schien es mir, als habe er doch aus den Augenwinkeln einen Blick auf das Ausstellungsfoto geworfen. Ich streckte ihm die Kamera noch einmal entgegen. Aber es war eine Täuschung. Es war nichts aus ihm herauszubringen, er kniff nur die Lippen zusammen.

 

Heute Morgen hat mich die Stationsschwester angerufen. Sie sag­te in einem eigentümlich beschwingten Ton: „Ihr Vater ist heute Nacht eingeschlafen.” Ich fühlte mich seltsam erleichtert. Viel­leicht war ich auch nur überrascht von der Nachricht, eine Be­stürzung wollte sich nicht einstellen. Nun sitze ich hier an sei­nem Bett. Sein Gesicht hat eine gelbliche Färbung, die Haare sind dünn und wie mit Pomade an den Kopf geklatscht. Wie zierlich zusammengeschnurrt dieser einst stattliche Mann jetzt wirkt! An seinem 85. Geburtstag hatte ich ihn bei einer Feier in einem Aus­flugslokal in einem stillen Augenblick in seinem Rollstuhl sitzen sehen und gedacht: So wird er vielleicht im Tod aussehen. Und genau so sieht er jetzt aus. Ich stupse mit einem Finger gegen sei­nen Oberarm. Er ist hart wie Holz. Die Totenstarre hat wohl seit längerem eingesetzt. Die Schwester kommt ins Zimmer, drückt mir ihr Beileid aus, das ich mechanisch entgegennehme. Bevor ich noch fragen kann, was der Arzt auf den Totenschein geschrie­ben hat, sagt sie: „Herzversagen. Muss in den frühen Morgenstunden passiert sein. Einfach so im Schlaf. Besser und leichter geht es nicht.” Und dann sagt sie: „Ich habe hier noch etwas für Sie.” Sie drückt mir ein halbiertes Briefkuvert in die Hand. Ich schaue hinein und sehe ein knappes Dutzend Tabletten. Schlaf­tabletten. Ich schaue auf zu ihr. Sie nickt nur und drückt mir die Hand. Dann verlässt sie das Zimmer. Wenig später sind die Bestatter schon da. Sie heben den steifen Körper meines Vaters wie ein leichtes Brett auf eine Trage, packen ihn in ein schlafsack­ähnliches Gebilde aus Kunstleder. Die nüchterne Sachlichkeit ihrer Handgriffe lässt meine Lippen zittern. Ich presse sie zu­sammen. Als die Männer den Reißverschluss zuziehen, fällt eine Schutzlasche auf das Gesicht meines Vaters. Ich verliere die Fas­sung, erst draußen im Auto beruhige ich mich etwas. Ich rufe Ines an, erzähle ihr ein wenig, erwähne die Tabletten aber nicht. Kurz bevor ich den Motor starte, schaue ich noch einmal auf das Display meines Handys mit dem Ausstellungsfoto. Nein, so richtig ähnlich sieht es ihm eigentlich nicht.

Diese Kurzgeschichte stammt aus der Anthologie „So wie du mir“, die 2010 im Pendragon Verlag erschienen ist. Das Buch enthält 19 Variationen verschiedener Autoren über „Die Judenbuche“ von Annette von Droste-Hülshoff.

Hellmuth Opitz

Hellmuth Opitz

Durch einen guten Deutschlehrer entwickelte Hellmuth Opitz in der Oberschule eine Liebe zu Gedichten. Die Faszination, auf kleinem Raum neue Welten zu entfalten, ließ ihn seitdem nicht mehr los. Als Songtexter für seine Folkrockband konnte der Dichter dann erste Erfahrungen im Verfassen von Lyrik sammeln. Heute denkt er zunehmend in Bildern. Beim Spazierengehen löst sich die eine oder andere „poetische Lawine“ in ihm und Ideen werden „locker getreten“. Ein wehleidiger Weltschmerz-Dichter ist er auf keinen Fall, eher bringt er den Leser durch seine ironisierte Sichtweise zum Schmunzeln. Zur Ablenkung vom kopflastigen Tagesgeschäft hört er gern Musik, geht Darts spielen oder steht für seine Kickertruppe im Tor. Im Pendragon Verlag erhältlich sind seine Gedichtbände "Engel im Herbst mit Orangen", "Die Sekunden vor Augenaufschlag" und "Die Dunkelheit knistert wie Kandis".
Hellmuth Opitz

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