War ein langer Tag, wie das manchmal so ist. Ich hatte geschrieben, hatte einen Kurs gegeben, war einkaufen, musste mein Fahrrad reparieren und war dann abends, nachdem die Familie im Bett war, noch einmal am Schreibtisch. Da ging nicht mehr so viel. Also bin ich runter, an den Kühlschrank. Der Kühlschrank ist immer ein gutes Ziel. Käse, Oliven, Salami. Ein kühles Feierabendbier. Hinüber ins Wohnzimmer, Beine ausstrecken auf dem Sofa und kurz ins Fernsehen zappen. Ich suche dann meist nach einem guten Boxkampf, wovon es wenige gibt. Finde ich den nicht, schalte ich auf sat1 oder auf arte. Da kann man nicht viel falsch machen. In diesem Fall war arte zuerst dran.
Und da war er.
Offensichtlich lief dieser Fernsehbericht schon dem Ende zu. Ich hörte etwas von einem Mann namens Fritz Kolbe, der einer oder gar der wichtigste Spion des Zweiten Weltkriegs gewesen sein sollte. Ich kenne mich mit der deutschen Geschichte recht gut aus, aber diesen Namen hatte ich nie zuvor gehört. Nach dem Krieg, das bekam ich noch mit, verkaufte er für eine amerikanische Firma Motorsägen, war so eine Art Handelsreisender in der Schweiz. Ein kleiner Mann. Ein normaler Mann. Nach dem Krieg ausgebootet. Keine Chance mehr in Deutschland, wo die Altnazis – jedenfalls eine Menge von ihnen – wieder in Führungspositionen rutschten, auch im Auswärtigen Amt, in dem Kolbe gearbeitet hatte. Hatte hunderte von streng geheimen Naziakten nach Bern in die Schweiz geschmuggelt? Wurde von Allen Dulles, dem späteren Chef der CIA, als der Mann bezeichnet, ohne den eben jener Allen Dulles nie geworden wäre, was er geworden ist? Dulles hätte Edward Snowden sicher kaum gemocht – Snowden war zu der Zeit, als ich da mit meinem Feierabendbier saß, ein Renner in der Berichterstattung. Und jetzt war da dieser Fritz Kolbe. Ein „Verräter“. Als ich mein Bier ausgetrunken hatte, war der Bericht auch schon vorüber. Ich hatte in der Tat nur das Ende mitbekommen. Aber das, was ich das Schriftstellerfeuer nenne, loderte hell.
Am nächsten Morgen begann ich nach Fritz Kolbe zu recherchieren.
Drei Tage später begann ich über Dramaturgie nachzudenken. Der Held bekommt nicht den Lorbeerkranz, der Held bezahlt die Rechnung. Wunderbar ist, das Tolstoi einmal sagte, die besten Geschichten kommen nicht aus dem Kampf Gut gegen Böse, sondern aus dem Kampf Gut gegen Gut – aber Fritz Kolbes Feinde, die Nazis, waren nicht gut, nichts an denen, gar nichts. Schwarz-weiß sollte es trotzdem nicht werden, die Figuren, wenigstens einige, ein wenig gebrochen. Und der Verrat – er musste persönlich werden.
Wieder einen Tag später begann ich über die Frau nachzudenken. Ohne eine starke Frau geht nichts. Die Biografie Fritz Kolbes lag mir vor. Die der Frau musste ich selber schreiben.
Marlene! Mar – le – ne. Wie Fritz zu Beginn des Romans sagt – und es ist mir schnuppe, wenn sich dabei jemand an Lo – li – ta erinnert fühlt. Fritz macht diese Silbentrennung aus anderen Gründen. Diese Marlene, die er im Krieg in Berlin kennen lernt, ist seine große Liebe. Sie ist verheiratet. Sie hat kein Problem mit ihrem Gatten. Ihr Gatte ist sympathisch, wie Fritz mit Entsetzen feststellt, als er ihm einmal begegnet. Aber nach Anfangsschwierigkeiten und in der Situation, in der jeder Tag der letzte sein kann, beginnen sie eine Affäre. Sie lieben sich. Er sie. Sie ihn. Er sie vielleicht mehr? Das weiß man nie so genau. So wird der Verrat persönlich – auf der Ebene der Liebe, falls Liebe je auf einer Ebene stattfindet. Und er wird in noch einem anderen Punkt persönlich … aber das verrate ich hier nicht.
Wo fand ich sie? Wie so oft ist diese fiktive Figur eine Zusammensetzung aus Menschen, die ich kenne. Ich würde niemals verraten aus welchen Menschen. Es gab ein Vorbild für ihr Berufsethos, eins für ihre wundervolle Nase – zum Ärger meines Verlegers, der doch glatt mehrere Nasenszenen aus dem Manuskript gestrichen sehen wollte – für ihre Liebe zum Leben auch unter widrigsten Umständen. Im Laufe einiger Tage setzte sie sich immer mehr zusammen, teils aus ganz nüchternen Überlegungen meinerseits und nach einiger Zeit dann aus sich selbst – so wie es bestenfalls mit fiktiven Figuren passiert: Irgendwann gewinnen sie ein Eigenleben. Das kann Arbeit machen, ist aber immer ein gutes Zeichen. Dann war sie da. Ich sah sie vor mir. Ich sprach mit ihr. Sie sagte mir Sachen, die mir vorher nicht klar waren.
Fritz muss bezahlen. Sie muss bezahlen. Unschuldig bleibt fast niemand.
Das Manuskript findet einen Verleger. Monatelanges Lektorieren, Bereden, Vorantreiben. Und dann erscheint das Buch. Ist gedruckt und gebunden, es verlässt mich und ich verlasse es. Und Fritz und Marlene ziehen von dannen und meine Gedanken und meine Kreativität sind bereits ganz woanders. Bis ich die beiden wiedertreffe, bei Lesungen, bei Interviews. Seltsam, wie vertraut man Menschen sein kann, die gar nicht existieren – wobei, das ist falsch: Sie existieren. Auf ihre Art. Doch, so ist das mit den Romanen. Ich habe Marlene sehr gemocht. Ich mag sie immer noch.
Andreas Kollender
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