„Jeder Mensch ist es wert, dass sein Leben im Gedächtnis bewahrt wird.“ (S. Lichtenberger)
Unsere beeindruckende Autorin Sigrid Lichtenberger ist am 22. November 2016 im Alter von 93 Jahren in ihrer Wahlheimat Bielefeld verstorben. Geboren wurde die Autorin am 27. Mai 1923 in Leipzig, ehe sie sich im Jahre 1953 zusammen mit ihrem Ehemann in Bielefeld niederließ. Seit 1987 war die großartige Schriftstellerin Teil unseres Verlages und veröffentlichte hier insgesamt 26 verschiedene Werke in Form von Lyrik und Prosa.
Sigrid Lichtenberger entdeckte das Schreiben bereits als junges Mädchen für sich. Sie nutzte dieses als Ausdruck ihrer selbst und betonte mehrfach, dass das Niederschreiben ein existenzielles Bedürfnis für sie sei.
„Meine Gedichte handelten vor allem von Sehnsucht, waren also ein Schutzschild gegen die graue Welt.“ (Lichtenberger im Interview mit Anette Koppelberg)
Lichtenberger verfasste die Gedichte in ihren jungen Jahren zunächst lediglich für sich selbst. Sie nutzte die Darlegung ihrer Gedanken, um sich Belastungen und Zweifel von der Seele zu schreiben, die sie während ihrer Jugendzeit und auch besonders zur Zeit des Zweiten Weltkrieges in sich trug. Laut eigener Aussage hatte Sigrid Lichtenberger den Weg zur bekannten Autorin nie bewusst angestrebt, sondern sich lediglich – oder vielleicht auch gerade – durch ihre Ausdauer und ihr jahrelanges Schaffen einen festen Platz in der Literatur gesichert.
Im Alter von 67 Jahren veröffentlichte Lichtenberger ihre erste Lyriksammlung „Klopfzeichen“ in unserem Verlag – und legte damit den Grundstein für eine späte aber sehr bewundernswerte Laufbahn als Autorin. Sie bewies mit ihren vielseitigen Werken auf eindrucksvolle Art und Weise, dass dem literarischen Schaffen auch im Alter keine Grenzen gesetzt sind. Ganz gemäß dem Sprichwort: „Was lange währt, wird gut.“
Was zunächst als intimes Niederschreiben ihrer persönlichsten Gefühle und Gedanken begann, wurde später auch für einen Teil der Öffentlichkeit zugänglich, als Sigrid Lichtenberger vorerst Literaturseminare besuchte und später auch an einer Schreibwerkstatt hier in Bielefeld teilnahm. In dieser Schreibwerkstatt wollte Lichtenberger ihre Gedichte nun endlich vortragen und sie erhoffte sich konstruktive Kritik. Besonders geprägt wurde sie von den Gedichten von Hilde Domin. Im Rahmen dieses Beisammenseins kreuzten sich schließlich die Wege von Sigrid Lichtenberger und unserem Pendragon Verlag.
Zu Lebzeiten interessierte sich Sigrid Lichtenberger stets für das Weltgeschehen. Sie trat mit diesem in einen intensiven Dialog und versuchte stets die Welt zu ergründen und zu erfassen. Die Zeitgeschichte und auch die politischen Situationen nahm sie stets als Grundlage für ihre Gedanken und band diese in den Kontext der Werke ein. Die Autorin griff zudem auf ihre eigenen Tagebucheinträge sowie auf alte Briefe und ihre Erinnerungen zurück. Aus ihren Gedanken und den persönlichen Dokumenten erschaffte Lichtenberger Prosa, Reisetexte, autobiographische Werke sowie Lyrik. Seit Beginn der 1990er Jahre verfasste sie zudem jährlich ein Theaterstück.
Die Themen ihrer Werke waren stets die Menschen und ihre Beziehungen zueinander, Lichtenbergers Geburtsort Leipzig und ihre Wahlheimat Bielefeld, Gott und die Natur sowie autobiographische Anteile. Die Bücher sind von einem tiefsinnigen, nachdenklichen und ironischen Ton geprägt, wobei besonders die unmittelbare Bildlichkeit und die ausdrucksstarken Metaphern herausstechen. Sigrid Lichtenberger versuchte mit ihren Worten das Chaos in der Welt zu beseitigen und zugleich die Brüche zu akzeptieren. Nicht zuletzt kann das reiche Lebenswerk unsere Autorin durch diese beeindruckende Sichtweise der Literatur als Konstrukt ihrer Lebenserfahrungen und ihrer persönlichen Gefühlswelt gesehen werden, die sie dem Leser zugänglich gemacht hat.
Besonders in Erinnerung bleibt uns im Pendragon Verlag ihr Werk „Der Stadt Schönstes“. Als die Autorin in den 1950er Jahren nach Bielefeld kam, hatte sie keinerlei „Gespür für die Stadt“ (Lichtenberger im Interview mit Kanal Bielefeld) und konnte nichts mit der Großstadt verbinden. Doch schließlich waren es die in diesem Werk präsentierten Skulpturen, die der Autorin die zuvor fehlenden Heimatsgefühle vermittelten. Das Buch zeigt Lichtenbergers imaginären Streifzug durch die Stadt Bielefeld mit all ihren kulturellen und künstlerischen Facetten, ihrer Abstraktion und Moderne sowie den traditionellen und auch historischen Ecken. Gemeinsam mit ihrer Tochter Karin Lichtenberger-Eberling hat Lichtenberger bekannte und weniger bekannte Plätze der Stadt sowohl fotografisch als auch lyrisch festgehalten und sie neu belebt. Die Autorin widmete das Werk der Stadt Bielefeld zu ihrem 800. Geburtstag und schaffte hiermit eine eindrucksvolle Spurensuche durch unsere Heimat.
Wir danken Sigrid Lichtenberger für viele bereichernde Jahre, literarisch herausragende Werke und zahlreiche schöne Erinnerungen. Und bei einem, da sind wir uns ganz sicher:
„Auch Menschen
die nicht mehr sind
bleiben ein Gegenüber
mit ihrem Füllhorn an Schicksal
mit ihrem ganzen Sein.“
(S. Lichtenberger in Niemand will vergessen sein)
Pendragon
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Sigrid Lichtenberger gehörte mehr als zwei Jahrzehnte der in Tübingen gegründeten Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik an und begrüßte deren 1996 vollzogenen Sitzwechsel nach Leipzig und nahm fortan an einigen Veranstaltungen des Vereins teil bzw. veröffentlichte vielfach in dessen Zeitschrift „Poesiealbum neu“. Im Alter von 92 Jahren war sie gemeinsam mit ihrer Tochter Karin Eberling Akteurin unserer Veranstaltung „ZWIE SPRACHE“. Beide erfüllten sie eindrucksvoll das Format: Zwei Stimmen, zwei Schreibweisen, zwei Temperamente“. Dass ihr Gedicht „Nachbarin“ gleich 2x in einen Poetry Clip verwandelt wurde, hat sie besonders gefreut. Wir werden Sigrid Lichtenberger nicht vergessen. Demnächst werden wir auf unserer Web-Site ihren letzten Gedichtband zur Lektüre empfehlen.