Salzwasser

Zersplittern

Salzwasser ist das Heilmittel für alles: Schweiß, Tränen oder das Meer (Tania Blixen)

© Matthias Löwe

Die Tram quietscht in jeder Kurve – ein Geräusch wie ein Schrei, der die Gedanken zerteilt. Der Tag ist heiß, die Luft in dem Wagon stickig, verbraucht von den Passagieren, die träge auf den Sitzen hocken. Die Frau neben dir hat dunkle Schweißränder unter den Achseln, die allmählich größer werden, je weiter die Bahn aus dem Zentrum in dünner besiedelte Teile der Stadt vordringt. Dem Mann dir gegenüber stehen dicke Perlen auf der Stirn. Die Ausdünstungen deiner Mitfahrer mischen sich mit einem Geruch nach Teer von der Straße. Der Duft weckt Erinnerungen.

Verlust [ˈfɛɐ̯lʊst]
Das Verlorengehen von etwas, einem Gegenstand, Eigentum, oder einer nahestehenden Person. Das Verb verlieren bezeichnet dabei auch das Gegenteil von siegen.

Verlieren ließe sich vieles: ein Schlüsselbund, ein Geldschein, die Kontrolle, das Bewusstsein.
So elementar ist der Verlust, dass nur er selbst taugt, um ihn zu beschreiben. Wer einmal etwas unwiederbringlich verloren hat, erkennt den Verlust am Gefühl.

Genauso roch es damals vor vielen Jahren. Ein Kind noch, verbrachtest du auch jenen Sommer in der großen Stadt. Die Großmutter gab auf dich Acht. Es war Fußballweltmeisterschaft, du warst im Schwimmbad und die Mutter war krank. Insofern beinahe ein Sommer wie andere auch.
Bis zu jenem Abend, an dem mit einem Male der Vater anreiste. Es schellte, du öffnetest die Tür. Mit verweinten Augen stand er, den du nur streng kanntest, vor dir und du hast dich gefürchtet.
„Max“, hat er gesagt. „Mama ist tot!“
Und du bliebst stumm.
Mama, das war doch der Duft ihrer Haut, das weiche Gefühl in ihren Armen, ein Gesang, der schon früh morgens aus der Küche kam, die Tasse mit kaltem Kaffee im Küchenregal (denn kalten Kaffee zu trinken, macht schön, hat sie immer wieder gesagt).

Wie kann sie tot sein?

Der Vater hat dich umarmt und da hast auch du geweint.

© Matthias Löwe

Was ist geblieben von der Mutter? Würdest du ihren Geruch erkennen, wenn sie dich hielte? Den Klang ihrer Stimme hat dein Verräterkopf schon vergessen.

Es ließe sich eine Geschichte aus der Vergangenheit erzählen: An jenem Abend ging der Vater zum ersten Mal mit der Mutter tanzen. Er war aufgeregt gewesen. War dies vielleicht der Augenblick, um vom „Sie“ zum „Du“ zu wechseln? Als sie dann zu ihm gekommen war, war das keine Frage mehr. Mit geröteten Wangen und einem ein wenig zu kurzen Kleid stand sie vor ihm.
„Nimmst du mich so mit?“

Doch das ist nicht deine Geschichte. Der Vater hat sie dir erzählt.
Können Geschichten ungültig werden, wenn derjenige, der sie dir erzählt hat, sie vergisst?
So dünn ist die Linie zwischen Erfundenem und Geschehenem. Das eine geht ins andere über wie Leben zu Erde.

Die Tram ist inzwischen halb leer. Gerade fährt sie an einer Friedhofsanlage vorbei. Gleich drei Friedhöfe liegen hier dicht nebeneinander, einer davon ist sehr bekannt. Zigtausend Leiber sind hier bestattet. Auch ein paar Prominente.
Die Mutter nicht. Die muss weiterleben – in Geschichten.

„Mächtig wie der Tod ist die Liebe.“

Doch du hast keine Geschichten, oder nur wenige. Der Vater, der Erzähler, verliert sein Gedächtnis.
Er, der wie der Großvater Säle zu unterhalten wusste, verläuft sich nun in seinen Erzählungen. Wie an einem viel zu kurzen Ariadnefaden kehrt immer wieder an deren Anfang zurück, beginnt sie erneut und geht doch immer den gleichen Weg.

Manchmal betrachtest du das alte Schneckenhaus in deinem Buchregal. Mit ihm könnte eine Geschichte beginnen.

„Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,
Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung,
Vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt hat,
Und auf dem Meere so viel‘ unnennbare Leiden erduldet,
Seine Seele zu retten, und seiner Freunde Zurückkunft“

Und so sterben wir in Etappen. Zunächst gibt es nichts mehr Neues zu berichten. Dann, allmählich, vergehen auch die alten Geschichten, werden zu Anekdoten, Mythen, oder verblassen ganz.

Demenz ([deˈmɛnʦ])
Aus dem Lateinischen demens „unvernünftig“.
D. ist ein psychiatrisches Syndrom, das bei verschiedenen Erkrankungen des Gehirns auftritt. D. umfasst eine Insuffizienz der kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten. Sie führt zu Beeinträchtigung sozialer und beruflicher Funktionen. Vor allem ist das Kurzzeitgedächtnis betroffen. Im weiteren Krankheitsverlauf werden auch das Denkvermögen, die Sprache und die Motorik, bei einigen Formen auch die Persönlichkeitsstruktur in Mitleidenschaft gezogen.

© Matthias Löwe

Der Vater ist stiller geworden. Ich merke, dass er Angst hat, den immer gleichen Fehler erneut zu begehen und eine Geschichte zu beginnen, die er eben erst erzählt hat.
„Habe ich das schon gesagt?“, fragt er manchmal, wenn er aus der Reaktion der anderen erspürt, dass er wieder in die Falle getappt ist. Dann wirkt er schuldbewusst, ein Ausdruck, der ihm früher völlig abging.
Doch auch das dauert nur einen Moment, dann stimuliert ihn etwas, eine neue Geschichte anzufangen. Neu für ihn, die anderen merken, dass es wieder dieselbe ist.

„So löse ich mich auf und komme mir abhanden.“

Manchmal versuchst du ihm zu Hilfe zu kommen, versuchst dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, wenn du die Wiederholung ahnst. Aber die Krankheit ist starrköpfig. Eigensinnig pocht sie darauf, dass die gleiche Situation die gleiche Geschichte erfordert.

„Aber die Freunde rettet‘ er nicht, wie eifrig er strebte“

Immer wieder entschlüpft dem Vater die Vergangenheit – oder nein, nicht die Vergangenheit, sondern das eben Geschehene. Je länger etwas zurückliegt, desto besser erinnert er sich. Es ist, als sei sein Gedächtnis ein grobmaschiges Netz und die Ereignisse Fische. Je älter sie sind, umso größer sind sie geworden und umso leichter bleiben sie im Netz hängen.
So erinnert er sich noch an vieles von dem, was er mit der Mutter erlebt hat. Und er erzählt es auch. Nur vergisst er, dass er es fünf Minuten zuvor schon einmal erzählt hat.
„Weißt du noch, damals, als ich zum ersten Mal mit deiner Mutter tanzen gegangen bin“, beginnt eine Geschichte. Gelegentlich unterbricht er seine Erzählung an dieser Stelle (und immer genau an dieser). Dann lächelt er.
„Nein, das kannst du nicht wissen“, sagt er dann mit einem plötzlichen Erkennen. „Damals warst du ja vielleicht noch nicht einmal geboren.“

Ein Traum: Du gehst mit dem Vater an einem Fluss. Sein Verlauf erinnert dich an den Fluss deiner Kindheit. Doch du weißt, er ist es nicht. Er glitzert anders, wie eine fremde Gefahr. Dein Vater kniet nieder.
„Ich habe so einen Durst“, sagt er und schöpft das Wasser mit den Händen.
„Nein!“, schreist du, doch es ist zu spät.
Der Vater trinkt mit großen Schlucken von den Wassern der Lethe.

Die Bahn hat gewendet. Du bist sitzengeblieben und fährst nun als einziger Passagier wieder zurück in die Stadt. Die Tram singt ihren rostigen Gesang allein für dich. Gerade ist sie wieder auf der langgezogenen Schleife um die Friedhöfe. Dein Gedanke von eben kommt dir in den Sinn.

Die Mutter muss in den Geschichten weiterleben.
Sie muss, sie muss!
Sie muss!

Doch wer soll diese Geschichten erzählen?
Du betrachtest die Grabsteine durch die staubigen Wagonscheiben.
„Wir sind, was wir erinnern“, hast du mal auf einem von ihnen gelesen. Du denkst an den Vater und zweifelst.

Wir sind diejenigen, durch die die Zeit geht, wenn aus Zukunft Vergangenes wird. Und manchmal hinterlassen wir einen Abdruck – wie einen Fußstapfen im Schlick.

Die Tram hält. Ein Mann steigt ein. Du erschrickst. Dann siehst du genauer hin und schüttelst den Kopf. Für einen Moment hast du den Passagier für den Vater gehalten. Du lachst leise. Dennoch bleibt ein Gefühl. Als sei dieser Mann zugestiegen, um dir eine Botschaft zu bringen.
„Nun ist es an dir, Max, nun musst du erzählen“, hörst du die Stimme des Vaters.

Es war ein früher Sommer. Du warst noch ein kleines Kind, vier Jahre alt vielleicht. Mit den Eltern wart ihr auf einer Insel in der Nordsee, auf welcher wüsstest du nicht mehr zu sagen. Viel hast du von diesem Urlaub nicht ohnehin behalten, aber das eine Erlebnis kommt dir nun wieder in den Sinn.
Mit einer Kutsche umrundet ihr die Insel. Die Sonne ist heiß, die Luft riecht salzig – das kommt dir seltsam vertraut vor. Die Pferde sind riesig. Du siehst das Lachen der Mutter, als sie mit dem Vater spricht und hinter die Kutsche in den Sand deutet. Der Vater zuckt mit den Schultern, doch die Mutter fordert ihn noch einmal auf. Als er noch immer nicht reagiert, gar den Kopf schüttelt, springt sie ab. Sie läuft ein paar Meter zurück, bückt sich und läuft dem Pferdewagen dann hinterher. Für einen Augenblick hast du Angst, dass sie ihn nicht mehr erreicht. Aber schon wenig später sitzt sie wieder neben dir. Sie hält dir ein Schneckenhaus ans Ohr. Es ist verzaubert. In ihm hörst du das Rauschen des Meeres.

Die Muschel liegt in deinem Buchregal. Dahinter steht der Band von Homer.

© Matthias Löwe

Tag am Meer

So roch die Luft
damals bei den Salinen

Wellen branden
Du denkst an Neruda
Weiße Tinte
auf blauem Grund

Zwischen den Zeilen
tanzen Steine

Im Spülsaum
kehrt Vergangenes zurück
die zerbrochene Schwertmuschel
das poröse Schneckenhaus
der abgetriebene Ball

Die See
hat sie bewahrt

Hier
wird dein Gedanke federleicht

Hier
gibst du dem Meer
sein landgängiges Herz
zurück

© Matthias Löwe

Zitate aus: Altes Testament (Hohelied 8), Homer (Odyssee, 1. Gesang, Übers. Johann Heinrich Voß), Montaigne (Essays, zitiert nach Max Frisch, Tagebuch 1966-71)
Der Text ist der dritte Teil des in Arbeit befindlichen Projekts Fraktale Texte – Wort und Bild (Arbeitstitel)

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