Irgendwann muss ich zurück nach Kuba. Ich habe es James versprochen. Nicht, was Sie jetzt vielleicht denken. Ich will ihm einen Fahrradsattel mitbringen. Die sind in Kuba nicht zu bekommen. Jedenfalls nicht für James, der sein Geld mit Brotausliefern verdient. Morgens, wenn der Hahn kräht, steht er auf. Er hat keine Uhr, denn es gibt keine Batterien dafür. Im Moment schläft er nicht viel, denn der Hahn ist schwer durcheinander und ruft die ganze Nacht hindurch. Das erzählt er lachend. Kein Groll gegenüber dem Federvieh. Ich an seiner Stelle hätte sicherlich Mordgelüste.
Ich sitze in Gibara an dem winzigen Hafen. Kleine Fischerboote schaukeln in der Dünung. Hafen ist eigentlich zu viel gesagt. Einige morsche Bretter markieren den Kai. Wer zu seinem Boot will, muss mit einer Nussschale, die immer voller Wasser steht, rauspaddeln. Ein kleiner ehemals weiß getünchter Pavillon mit einem großen Schwertfisch darüber zeugt von besseren Zeiten. Die Farbe schon längst abgeplatzt, angegraut und ringsherum sprießt das Unkraut. Ich sitze auf der obersten Treppe und genieße den Sonnenuntergang bei einem kühlen Dosenbier. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich vor ein paar Tagen mit James ins Gespräch kam. Erst hatte ich seinen Namen nicht richtig verstanden. Geduldig wiederholte er ihn, Chames. Dann sprach er ihn englisch aus: James. Bei mir fiel der Groschen. Chames, wie James Rodriguez? Der kolumbianische Nationalspieler? Genau. James strahlte. „Ihr Deutschen seid gut im Fußball. Seid letztes Jahr Weltmeister geworden“, stellt er fest. „Im Endspiel haben wir euch die Daumen gedrückt.“
„Ihr habt die Spiele gesehen?“, vergewissere ich mich. Satelliten-Fernsehen ist in Kuba etwas für Touristen und sehr Privilegierte.
„Na klar, jedes Spiel der Deutschen. Tolle Mannschaft.“
„Ihr wart im Finale nicht für Argentinien?“
„Sicher nicht!“
Ob James nur höflich war oder das tatsächlich so gemeint hat, da bin ich mir nicht sicher, aber die Geste war nett. Wir plaudern noch ein wenig über Fußball, bis James sagt, dass er sich beeilen muss, damit er noch duschen kann. Für die Bevölkerung in Gibara gibt’s abends drei Stunden Wasser und morgens ebenfalls. Braucht man außerhalb dieser Zeit Wasser, muss man zum Brunnen laufen und die schweren Eimer nach Hause tragen. Hotelgäste haben selbstverständlich 24 Stunden am Tag warmes und kaltes Wasser.
Warum ich in Gibara gelandet bin, einer Stadt, in der es eigentlich keine nennenswerten Sehenswürdigkeiten gibt? Nun, die Lage am Meer und naturgemäß wenige Touristen. Wo Kuba noch Kuba ist, schreibt der Reiseführer. Wenn dies das wahre Kuba ist, gefällt es mir gut. Eine entspannte Atmosphäre, freundliche Menschen und so wenige Autos auf der Straße, dass man seelenruhig in falscher Richtung in eine Einbahnstraße fahren kann, ohne dass es zu einem Crash kommt. Ab dem zweiten Tag gehört man schon fast zum Straßenbild, wird angelächelt und begrüßt.
Nur im April zum Kinofestival wird es voll. Ambitionierter politischer Film steht auf dem Programm. Da hat auch das Kinopersonal alle Hände voll zu tun. Außerhalb des Festivals werden keine Filme gezeigt, aber die Gehälter für die zahlreichen Angestellten das ganze Jahr gezahlt. Willkommen im Sozialismus. Davon erzählte mir Gustavo, der für 10 Euro im Monat als Mechaniker in einer staatlichen Werkstatt arbeitet und hervorragend Deutsch spricht. Gelernt im Goethe-Institut. Lieber möchte er mit Touristen arbeiten. Denn ein Barkeeper in einem Fünf-Sterne-Resort bringt an einem Abend durch die Trinkgelder mehr Geld nach Hause als die normal arbeitende Klasse in einem Monat. Außerdem sind das die begehrten Touristen-Pesos CUC. Mit CUC werden die sogenannten Luxusgüter gekauft, wozu auch Toilettenpapier, Seife und Zahnpasta gehören.
Schon nach ein paar Tagen im Land war klar, dass zu den staatlich subventionierten Grundgütern wirklich nur das Allernötigste gehört. Die Einheimischen bekommen dafür Lebensmittelmarken, deren Ertrag häufig schon zur Monatsmitte erschöpft ist. Dann wird getauscht und getrickst. Der Schwarzmarkt boomt. Das weiß auch Castro. Aber er lässt das Volk gewähren, will keinen Aufstand provozieren. Die Revolution wird’s schon richten. Das steht an jeder zweiten Hauswand. Reklametafeln gibt es hier nicht für Produkte, sondern für den Sozialismus. Die Werbung scheint nötig zu sein …
Die Kubaner haben sich mit bemerkenswerter Findigkeit mit ihrem System arrangiert. Ein Stück Käse – übrigens auch Luxus –, das aus der Küche eines noblen Hotels verschwindet, taucht nicht selten wenig später auf besagtem Schwarzmarkt auf. Zu einem horrenden Preis – zahlbar in CUC, die Währung, zu der wenige Kubaner Zugang haben. Gustavo wirkt verbittert. Indem er mir all das erzählt, geht er ein Risiko ein, denn der Geheimdienst bespitzelt die Leute. Deshalb heißt Gustavo auch nicht Gustavo und James nicht James.
Ich versuche Gustavo Mut zu machen. Sein Deutsch sei so gut, da würde es doch ein Leichtes sein, eine Arbeit in der Tourismusbranche zu bekommen. Daraufhin schüttelt er den Kopf. Nein, diese begehrten Jobs werden an Linientreue oder an Familienmitglieder, die seinerzeit Castros Revolution unterstützt hatten, vergeben. Nach Qualifikation geht es dabei nicht. Dazu weiß ich nichts zu sagen. Ich biete Gustavo eine Zigarette an, die er dankend annimmt. Mein Tabak sei viel besser als der, den er immer raucht. Er zieht eine zerknautschte Packung aus der Hemdtasche. Ich will ablehnen, aber Gustavo besteht darauf. Ich zünde sie an und mir haut es fast den Lungenflügel weg. Er grinst. Tapfer paffe ich die glücklicherweise kurze Zigarette zu Ende. Danach habe ich für die nächsten Stunden genug vom Rauchen. Bevor Gustavo sich verabschiedet, druckst er ein wenig herum. Ich lächle ihn ermutigend an. Ob ich vielleicht ein Stück Seife oder einen Rest Parfüm hätte. Es zerreißt mir das Herz zu sehen, wie ein gestandener Mann, der jeden Tag arbeiten geht und den Ehrgeiz hat sich weiterzubilden, auch wenn er weiß, dass er wahrscheinlich keine berechtigte Hoffnung auf einen besseren Job hat, sich selbst zum Bittsteller degradieren muss. Wir verabreden uns für eine Stunde später in der Nähe meiner Unterkunft. In der Zeit raffe ich alles zusammen, was mir in den Sinn kommt. „Alles hilft“, hatte Gustavo gesagt. Am meisten freut er sich übrigens über eine kleine Parfüm-Probe und einen Kriminalroman.
Neben der Mangelwirtschaft existiert selbstverständlich auch das Bilderbuch-Kuba mit seinen Traumstränden, dem türkisfarbenen Meer, dem Rest Regenwald im Osten, den Tabakplantagen, den zum Teil malerischen historischen Städten, der Musik und den herzlichen Menschen. Ich denke an Maria, die auf ihrer kleinen Farm im Westen der Insel ein Casa Particular (eine Privatunterkunft für Touristen) betreibt und mir am zweiten Morgen meines Aufenthalts ein neugeborenes Kälbchen zeigte und die erste Muttermilch zu einem köstlichen Dessert zum Abendessen verarbeitete. Oder die vielen Anhalter, die in meinem Mietwagen mangels öffentlichen Nahverkehrs Platz nahmen, und mich vor täglichen Irrfahrten in der kubanischen „Pampa“ bewahrten. Ich denke an die Frau an der Strandstraße von Varadero, die täglich mehrere Stunden im Schatten ihres kleinen Häuschens bei geöffneter Tür melancholische Lieder sang. Die Wasserverkäufer, die in den Touristenorten gern das Doppelte des Preises verlangten. Machte ich sie darauf aufmerksam, breitete sich ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht aus, verbunden mit einer mehr oder minder fantasievollen Ausrede, warum man „aus Versehen“ den falschen Preis genannt hat. Da fällt es fast schwer, es den Menschen übel zu nehmen, wenn sie sich ein paar CUC extra verdienen wollen. Aber um ehrlich zu sein: Manchmal ist es lustig und manchmal nervt es einfach nur. Kuba ist wunderschön. Kuba ist anstrengend.
Am nächsten Tag gibt es in ganz Gibara keine Eier. Und auch mein Weg zum lokalen Lädchen, um Trinkwasser zu kaufen ist nicht von Erfolg gekrönt. nur die winzigen Fläschchen, aber immerhin. Während die Regale für Wasserflaschen gähnend leer sind, stapeln sich daneben palettenweise Dosen mit Cristal, Bucanero und einem portugiesischen Bier. Wenn es sonst nichts gibt, Bier, Rum und Zigaretten sind immer da. Das Opium des Volkes?
Während ich wieder die letzten Sonnenstrahlen am Hafen genieße, biegt ein kleiner klappriger Lastwagen um die Ecke. Aus dem Auspuff quillt eine schwarze Ölwolke, die mich an die Todesser aus den Harry-Potter-Verfilmungen erinnert. Ich schaue genauer hin. Der Lack des Lkw, ein chinesisches Fabrikat, ist nicht nur ab, sondern mit vielen unterschiedlichen Farben übergepinselt und gespachtelt. Ohne Farbe würde das Vehikel wahrscheinlich mit einem leisen Ächzen an Ort und Stelle auseinander fallen. Bald schon schlendern Einheimische an der Ladefläche vorbei. Begutachten, was sich darauf befindet, Geld wechselt diskret den Besitzer und schnell ziehen die Leute mit einem kleinen Paket von dannen. Shopping à la Kuba. Mangelwirtschaft im Paradies. Die Läden haben ein so überschaubares Angebot, dass man meist nach wenigen Minuten wieder draußen ist und sich wundert, wie die Menschen angesichts der Preise überleben können.
Nicht nur in Gibara, überall in den Städten des Landes stehen verfallene großbürgerliche Häuser, aufpolierte Kolonialbauten, bunte Häuser, Ruinen, sozialistische Betonhochhäuser Seite an Seite. Die meisten Straßen sind in einem erbärmlichen Zustand. Überall Gerüste und Absperrungen, aber kaum Bautätigkeit. Das Land scheint still zu stehen. Die Diskrepanz zwischen dem Anspruch der Revolution und der Alltäglichkeit der Kubaner ist so eklatant, dass es schwerfällt, die Parolen („Sozialismus oder der Tod“) auch nur im Ansatz ernst zu nehmen. Sie muten museal an, wie aus einer längst vergangenen Zeit. Revolutionskolorit. Oder doch mehr? Was halten die Menschen davon? Stehen sie zu den Castros? Ich komme nicht dahinter.
Kuba brüstet sich mit einem vorbildlichen Bildungs- und Gesundheitssystem. Doch mittlerweile haben viele Ärzte und Lehrer ihren Beruf an den Nagel gehängt, denn in der Tourismusbranche kann man viel mehr Geld verdienen. Die Schere zwischen denen, die CUC verdienen, und dem Rest der Bevölkerung klafft immer weiter auseinander. Geht das noch lange gut?, frage ich mich. Und was wird geschehen, wenn das Wirtschaftsembargo der USA aufgehoben wird? Mutiert Kuba zu einem zweiten Cancún? (Da ist Mexiko übrigens bereits seit Jahrzehnten schon nicht mehr Mexiko.)
Kuba fasziniert, schockiert, macht fröhlich, zerreißt einem das Herz. Alles auf einmal.
Ein neuer Tag: James radelt an mir vorbei, erkennt mich und winkt. Das Gesicht sonnenverbrannt. Sonnenschutz ein für ihn unerschwingliches Luxusgut. Seit über 15 Stunden ist er jetzt auf den Beinen. Er trampelt im Stehen. Sein zerfetzter Sattel lädt nicht zum Sitzen ein. Irgendwann komme ich zurück und bringe James seinen Sattel mit.
Eike Birck
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Bildquellen
- Gibara: Eike Birck
- Blauer Himmel über Kuba: Eike Birck
- Straße: Eike Birck
- Auto und Ruine: Eike Birck