Hitlers Geburtstag

Mein Blick fällt auf den Kalender:
20.04. Heute ist … Genau! Welttag des Kiffens.
Das hätte diesem monströsen Diktator – zumal seines Zeichens militanter Nichtraucher – gar nicht gefallen.

Aus gegebenem Anlass.

19. April 1933

 
Ein kalter Wind fuhr durch den Park. Paul Heldt stand am Ufer des kleinen Teichs und rauchte eine Zigarette. Aus einiger Entfernung beobachtete er die Vorbereitungen, die anlässlich des Geburtstages des neuen Reichskanzlers in vollem Gange waren. Ein überdimensioniertes Hakenkreuz thronte bereits auf dem Dach der Oetkerhalle. Vor zweieinhalb Jahren hatte hier unter der Leitung von Max Cahnbley das erste klassische Konzert stattgefunden, das Paul gespannt im Rundfunk verfolgt hatte.
Ab morgen sollte der Bürgerpark nun Adolf-Hitler-Park heißen. Es war eisig kalt. Paul schlang den Mantel enger um seine schmächtige Gestalt und zog den Hut tiefer in sein blasses Gesicht, das vor Kälte brannte. Unwillkürlich betastete er die flammend rote Narbe auf seiner linken Wange. Zeit zu gehen. Entschlossen trat er seine Zigarette aus.

Zurück in der Redaktion der Westfälischen Zeitung traf er gleich im Flur auf seinen neuen Chef. „Schöne Geschichte, diese Umbenennung“, schmetterte dieser ihm euphorisch entgegen.
„Wie man’s nimmt“, murmelte Paul leise.
„Was haben Sie gesagt, junger Mann?“ Glücklicherweise war der übergewichtige Chefredakteur etwas schwerhörig, denn Paul wollte es sich nicht gleich an seinem zweiten Arbeitstag mit ihm verderben. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Heinz Fleischer fort.
„Ich stelle Ihnen gleich den Fotografen vor, der Sie morgen Abend zu den Feierlichkeiten begleitet. Ich halte Ihnen eine ganze Seite für diese Geschichte frei. Ah, da kommt er schon. Andreas, darf ich Ihnen unseren neuen Redakteur vorstellen? Das ist …“
„Paul Heldt!“, rief Andreas Brockmann aus und schlug seinem alten Schulfreund überschwänglich auf die Schulter.
„Was führt dich denn zurück in die Provinz? Ich dachte, du studierst in München?“
„Das ist eine lange Geschichte …“
„Ich sehe, die beiden Herren kennen sich bereits.“ Er räusperte sich. „Ich habe jetzt noch einen wichtigen Termin“, sagte Fleischer etwas schmallippig, weil nicht er im Mittelpunkt des Interesses stand.
„Mensch, wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?“, fragte Andreas. Er sah gut aus, mit seinem athletischen Körperbau und seinen flachsblonden Haaren. „Du bist doch gleich nach dem Abi nach München gegangen, oder?“ Andreas hatte recht. Seit ihrer gemeinsamen Schulzeit auf dem Ratsgymnasium hatten sie sich aus den Augen verloren. Das war zwar erst zwei Jahre her, aber es war viel passiert seitdem.
„Stimmt“, erwiderte Paul. „Ich habe dort mit Jura angefangen, aber das war nicht das Richtige für mich. Diese endlosen Kommentare zu den Gesetzestexten, das war einfach öde.“ Er konnte Andreas nicht in die Augen schauen, denn in erster Linie waren es seine Kommilitonen gewesen, die Paul das Leben in der bayerischen Hauptstadt unerträglich gemacht hatten. Er hatte gleich nach seiner Ankunft ein günstiges Zimmer in einem der Häuser der Studentenverbindungen gefunden. Erst viel zu spät hatte Paul gemerkt, dass die Burschenschaft ein Hort nationalsozialistischer Propaganda war. Als einige seiner Bundesbrüder einen jüdischen Mitstudenten drangsalierten, hatte sich Paul schützend vor ihn gestellt. Für die Burschenschafter ein ungehöriger Affront. Es wurde Satisfaktion beim Fechten gefordert. Hier hatte Paul den Kürzeren gezogen. Er griff sich an die noch nicht ganz verheilte Narbe in seinem Gesicht. Und nun schämte er sich für seine grenzenlose Naivität.
„Das kann ich gut verstehen“, sagte Andreas und blickte Paul offen ins Gesicht. Dieser zog schnell die Hand von der Narbe weg, die der Fotograf nun aufmerksam betrachtete. „Es ist nicht immer leicht, anders zu sein als die anderen.“
Paul lächelte schwach. Schon zu Schulzeiten hatte Andreas die Gabe gehabt, ihn zu durchschauen. Er war ihm dankbar dafür, dass er nicht weiter in ihn drang.
Plötzlich ertönte lautes Wutgeheul aus dem Büro des Redaktionsleiters. Paul und Andreas konnten nur einzelne Wortfetzen aufschnappen. „Das kann doch nicht wahr sein … nicht schon wieder … Immer dieser Degenhardt … Wer hat das denn wieder zu verantworten?“
Paul blickte seinen alten Schulfreund an. „Mit wem redet Fleischer denn da?“
„Keine Ahnung.“ Andreas zuckte gleichgültig mit den Schultern.
„Die Erfahrung hat nur gelehrt, dass man besser nicht in der Nähe ist, wenn er solch eine Laune hat. Was hältst du davon, wenn wir heute Abend was zusammen unternehmen. Ich hole dich ab.“ Er stutzte kurz. „Wo wohnst du jetzt eigentlich?“
„Immer noch in der Goldstraße. Max hat die Wohnung dort behalten.“
„Dein Bruder wohnt ganz allein in der großen Hütte? Ist er eigentlich noch bei der Polizei?“
Paul nickte bloß.

Gegen halb neun traf Andreas bei Paul ein. Paul hatte schon vor der Haustür gewartet und eine Zigarette geraucht.
„Freunde von mir machen eine kleine, informelle Party“, begrüßte er ihn. „Es wird dir schon gefallen“, ergänzte er, als er Pauls enttäuschtes Gesicht sah. Sie gingen über den Alten Markt Richtung Sparrenburg. Unterhalb der Burg blieb Andreas vor einer prachtvollen Jugendstil-Villa stehen.
„Wir sind da!“ Energisch betätigte der junge Fotograf den Klingelknopf.
Die kunstvoll verzierte Tür wurde schwungvoll von einer Dame um die fünfzig geöffnet. In einer Hand eine Zigarettenspitze, in der anderen eine Sektschale. Sie begrüßte Andreas mit
Küsschen, wobei etwas Sekt auf Andreas’ Kragen schwappte.
„Wen hast du denn da Nettes mitgebracht“, sagte sie kokett und musterte Paul neugierig, aber nicht unfreundlich aus schwarz umrandeten Augen.
„Frau Kommerzienrat Helene von Haugwitz, dies ist mein alter Schulfreund Paul Heldt, der gerade aus München zurückgekehrt ist. Ihm hat es dort nicht sonderlich gefallen“, übernahm Andreas galant die Vorstellung.
„Wundert mich nicht, in diesen Zeiten“, sagte Helene von Haugwitz und ergriff voller Wärme Pauls Hand und hielt sie etwas länger als nötig fest. „Paul Heldt … Sind Sie der Sohn von Viktoria Heldt?“
„Ja, nur leider sind meine Eltern vor einigen Jahren …“
„Ein schreckliches Unglück“, fiel die Frau Kommerzienrat ihm ins Wort. „Ich bin ein großer Bewunderer Ihrer Mutter gewesen. Niemand interpretierte Bach auf eine solch einfühlsame Weise wie sie. Ihr Tod kam viel zu früh. Aber treten Sie doch ein. Und bitte, nennen Sie mich doch Helene.“
Bevor Paul etwas erwidern konnte, zog die energische Dame ihn schon in Richtung Salon. Hilfe suchend blickte er sich zu seinem Schulfreund um, der den beiden lachend folgte.
Der großzügige Salon war rauchgeschwängert. Überall standen Grüppchen herum, die sich angeregt unterhielten. Es wurde viel gelacht und der Alkohol floss in Strömen. Leise Jazz-Musik begleitete den Abend.Drink
„Ja, hier geht es noch zu wie in den guten goldenen Zwanzigern“, sagte Andreas versonnen.
Paul wollte gerade einwenden, dass sie so alt ja noch nicht seien, als ein auffällig gekleideter Mann auf sie zuschwankte.
„Andreas, Süßer, wen haben wir denn hier?“ Er blickte Paul interessiert an. „Diese schwarzen Haare, der sinnlich-sensible Mund, die helle Haut. Hätte er jetzt noch braune Augen, dann könnte man ihn glatt für Schneewittchens Bruder halten.“
„Ach, Jody! Schön, dich zu sehen! Seit wann bist du wieder in der Stadt?“, unterbrach Andreas den Paul noch immer schamlos musternden Mann und verwickelte ihn in ein Gespräch über Architektur.
Paul fühlte sich unbehaglich, konnte aber dennoch den Blick nicht von dem Mann namens Jody abwenden. Der trug eine sehr eng geschnittene schwarze Hose und ein locker fallendes
weißes Seidenhemd, das weit aufgeknöpft Teile seiner unbehaarten Brust zur Schau stellte. Aus dem hageren Gesicht blitzten amüsierte schwarz-braune Augen hervor, die mit Kajal umrandet waren. Auch er benutzte eine Zigarettenspitze, die er nun an die blutrot geschminkten, schmalen Lippen führte. Er inhalierte und stieß den Rauch langsam aus.
„Du hast mir noch immer nicht deinen neuen Freund vorgestellt“, unterbrach er Andreas’ Redefluss und legte Paul vertraulich eine Hand auf die Schulter.
In diesem Moment trat ein weiterer Mann in den Kreis.
„Warum machst du das? Musst du mich immer vor aller Welt demütigen?“
Jody fuhr herum und schwankte. Mit einem Ausfallschritt rettete er seine Balance. „Ach, Thomas. Ich plaudere doch nur mit Andreas’ Freund. Aber … ist er nicht niedlich?“, sagte Jody mit einem provozierend schmachtenden Augenaufschlag an Pauls Adresse gerichtet.
„Jetzt reicht’s!“, explodierte Thomas und zog den laut protestierenden Jody mit sich. In einer Ecke des Salons lieferten sie sich ein erbittertes Wortgefecht. Die anderen Gäste waren verstummt und guckten betreten in ihre Sektschalen. Und auch das Grammophon schwieg.
Paul beobachtete verwirrt die Szenerie. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sich Helene von Haugwitz zu ihnen gesellt hatte.
„Nehmen Sie es Jody nicht übel“, sagte sie mit ihrer rauchigen Stimme. „Das ist immer nur ein Spiel von ihm, wenn in Gesellschaft ein neuer Mann auftaucht.“
„Läuft der immer so rum“, entfuhr es Paul, der sich sofort für seine kleingeistige Bemerkung schämte. „Ich meine, so handelt er sich doch sicherlich einen Haufen Ärger ein?“
Helene von Haugwitz lächelte nachsichtig. „Nein, er schminkt sich nur, wenn er abends ausgeht. Er ist auch nicht immer so …“ Sie zögerte einen kleinen Moment. „… exaltiert.
Man ahnt es so kaum, aber für Bielefeld hat er viel Gutes getan.
Deshalb lässt man ihm auch so einiges durchgehen. Sie kennen sicherlich das Viertel Königsbrügge, das als Gartenstadt konzipiert wurde?“
„Steht dort nicht das schöne Torhaus aus Backsteinklinkern? Als Eingang zum Sportplatz?“, vergewisserte sich Paul.
„Ganz recht“, bestätigte die Frau Kommerzienrat. „Und niemand Geringerer als Jody zeichnet sich für die Durchsetzung dieses Kleinods verantwortlich. Sicherlich, er eckt hie
und da mit seiner Art an, aber bei der Stadt kommt man nicht an ihm vorbei. Und tatsächlich munkelt man, er sei auch für den Bau der neuen Kunsthalle im Gespräch. – Aber entschuldigen Sie mich. Die ersten Gäste wollen gehen.“
 
Jody war also der berühmte Uwe Degenhardt, dachte Paul erstaunt und ließ seinen Blick durch den Salon schweifen. Ein blasser Mann in einem mausgrauen Anzug stand einsam in der
Ecke und nippte freudlos an seinem Sekt. Andreas war dem Blick seines Freundes gefolgt.
„Das ist Asphalt-Schultze“, sagte Andreas abfällig.
Paul guckte ihn fragend an. „Wieso Asphalt-Schultze?“
„Der sollte lieber Straßen anstelle von Gebäuden bauen. Das würde das Stadtbild nicht so verschandeln. Was er baut, ist einfach sterbenslangweilig.“ Andreas grinste ihn unsicher an. „Ich hoffe, der Abend hat dir gefallen?“
„Aber sicher doch“, beruhigte Paul seinen alten Schulfreund.
„Eine solche Ansammlung interessanter Charaktere erlebt man doch nicht alle Tage. Und ganz sicher nicht in München. Da ist eher Uniform en vogue. Ich bin froh, dass du mich mitgenommen hast. Machen wir uns auf den Weg?“
„Damit wir morgen ausgeschlafen sind für den großen Tag?“, spöttelte Andreas. „Für Führers Geburtstag.“

20. April 1933

 
Kurz vor dem Einbrechen der Dunkelheit trafen sich Paul und Andreas vor der Oetkerhalle. Andreas hatte bereits einige Aufnahmen gemacht. Immer mehr Menschen strömten herbei.
Auch diverse Lokalgrößen hatten es sich nicht nehmen lassen, dem Spektakel beizuwohnen. Einige hundert SA-Männer marschierten mit Fackeln in den Park ein. Die Flammen warfen unruhige Schatten. Trommeln verstärkten die gespenstische Atmosphäre. Mit einem Projektor wurde ein überlebensgroßes Porträtfoto von Adolf Hitler auf die Seiten wand der Konzerthalle geworfen. Darüber schimmerte das riesige Hakenkreuz. Als der erste Redner ans Pult trat, hielten sich die beiden Journalisten abseits von der Menge. Dort trafen sie auf Max.
„Na? Im Dienst?“, begrüßte Paul seinen Bruder.
„Hätte nicht gedacht, dass sich so viele Leute das Spektakel angucken. Fast alle unsere neuen Hilfspolizisten sind da“, sagte er und deutete auf die SA-Männer. „Ich wär jedenfalls lieber nicht hier.“ Max nahm den Hut ab und strich sich durch das lichter werdende Haar, als sei ihm seine Anwesenheit peinlich.
„Max, wir brauchen dich hier.“ Ein Polizist trat auf die drei Männer zu. „Dort oben bei den großen Rhododendronbüschen wurde eine Frau gefunden. Sie scheint tot zu sein.“
Max stürzte, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, hinter seinem Kollegen her. Paul und Andreas wechselten einen kurzen Blick und rannten ebenfalls hinterher. Vor den Büschen hatte sich bereits eine Menschentraube gebildet, die gerade von den Uniformierten aufgelöst wurde. „Bitte gehen Sie weiter. Es gibt hier nichts zu sehen. Weitergehen, bitte.“
Andreas hielt seine Kamera im Anschlag. Man sah nur ein Paar Schuhe aus dem Busch ragen.
„Tut mir leid“, wandte sich Max an die beiden Freunde.
„Auch, oder gerade die Presse hat hier nichts verloren.“
Murrend leisteten die beiden Journalisten der Anweisung Folge. Sie drückten sich noch eine Weile in der Nähe des Fundortes herum.
„Was meinst du, was passiert ist?“, fragte Paul.
Andreas zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Ein Verbrechen an Hitlers Geburtstag! Na hoffentlich ist es ein politischer Gegner. Das wär doch mal ein hübsches Geschenk aus Bielefeld!“ Er lachte sarkastisch auf.
„Willst du noch mal unten gucken gehen?“, fragte Paul.
„Brauchst du noch was für deine Reportage?“
Paul schüttelte den Kopf. Sie beschlossen, auf ein Bier im Pappelkrug einzukehren.

Einige Stunden später kehrte Paul nach Hause zurück. Obwohl er hundemüde war, setzte er sich an seine Schreibmaschine, um die Reportage über die Umbenennung des Parks zu schreiben. „Gehört der Park nun nicht mehr den Bürgern, sondern Adolf Hitler, oder was soll diese ganze Aktion bedeuten“, knurrte er übellaunig vor sich hin. Jeder Satz war ein einziger Krampf. Paul wusste, dass sein Chef eine Jubelreportage erwartete, und genau das gelang ihm nicht.
Er hörte leise Schritte im Flur, langsam wurde seine Zimmertür geöffnet. Max stand bleich und völlig übernächtigt im Türrahmen.
„Du bist noch wach“, bemerkte er überflüssigerweise.
„Ich muss noch diesen dämlichen Artikel über die Umbenennung schreiben. Und krieg das verdammtnochmal nicht hin! Und was war bei dir?“
Max ließ sich in einen Sessel fallen. „Diese Frau, also diese Tote … das war ein Mann.“
„Und das habt ihr nicht gleich gemerkt“, fragte Paul belustigt.
„Sie … ich meine er trug Frauenkleider und war geschminkt“, verteidigte sich sein Bruder.
„Woran ist er denn gestorben?“, fragte Paul nun ernsthafter.
„Mehrere Messerstiche. Bestimmt fünfzehn bis zwanzig. Konnte nicht so genau hinsehen. War ein ziemliches Blutbad. Spricht normalerweise für eine Beziehungstat. Mord mit ’nem Messer, meine ich.“
„Hast du noch nicht so viele Leichen gesehen während deiner Dienstzeit?“, fragte Paul mitfühlend.
„Doch, doch. Gerade in den letzten Wochen und Monaten.
Aber das hier ist anders. Wenn man erst denkt, dass es eine Frau ist, und dann … Die Kollegen nehmen den Mord überhaupt nicht ernst. Selbst der Gerichtsmediziner hat geschmacklose Witze gerissen. Fürchte, das wird wieder ein Mord, der nicht geahndet wird.“
„Kannst du das nicht steuern? Du bist doch kein ganz kleines Licht bei der Polizei.“
„Was nicht sein kann, das nicht sein soll“, antwortete Max kryptisch und ergänzte resigniert: „So sind wir nicht erzogen worden, Paul. Wir glauben an die Gerechtigkeit“, fügte er pathetisch hinzu. „Ich als Polizist und du als Rechtsanwalt.“
Er stutzte einen kleinen Moment. „Wieso hast du eigentlich die Brocken hingeworfen?“
„Ach, lassen wir das jetzt“, erwiderte Paul genervt. „Ich hab zu tun.“ Mit einem Ruck wandte er sich wieder der Schreibmaschine zu.

21. April 1933

 
Heinz Fleischer tobte. „Heldt! Sofort in mein Büro!“ In seiner Faust wanden sich die unschuldigen Blätter, auf denen Paul seine Reportage verfasst hatte. „Was ist das denn hier für ein ausgemachter Scheiß?!“, brüllte er und hielt seinem Reporter die zerknüllten Papiere unter die Nase. „Ich wollte keinen Besinnungsaufsatz über die Entstehungsgeschichte des Bürgerparks, sondern eine schöne atmosphärische Geschichte über die Umbenennung desselbigen. Mit großen Gefühlen. Herrgott, es war der Geburtstag des Führers und Sie kommen mir hier mit diesem Mist! Ab jetzt schreiben Sie nur noch Kurzmeldungen, da kann man nicht viel falsch machen. Und gehen Sie mir sofort aus den Augen!“ Paul blickte einmal kurz in das hochrote Gesicht seines Chefs und verkniff sich einen Kommentar zu seinem Hintergrundbericht über den Park.
Im Laufe des Vormittags sichtete er diverse Polizeiberichte. Überfälle auf Kommunisten und Sozialdemokraten schienen mittlerweile an der Tagesordnung zu sein. Bei einer Razzia in einer einschlägig bekannten Kneipe, wie es so schön hieß, waren zwei Männer verhaftet worden, die der widernatürlichen Unzucht verdächtigt wurden. Ihnen drohten nun das Gefängnis und der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Paul fand jedoch keine Meldung über den Mord vom vergangenen Abend.
„Hat man dich strafversetzt?“ Andreas war unbemerkt in sein Büro gekommen und schloss die Tür. Er setzte sich auf die Tischkante.
„Könnte man so sagen. Mein geschichtlicher Abriss über die Genese des Bürgerparks ist nicht so gut angekommen.“
„Ich war gestern Nacht noch bei Helene. Sie war untröstlich.“
Paul blickte Andreas direkt in die Augen. So langsam dämmerte es ihm.
„Die … ähm … der Tote ist Jody?“, vergewisserte er sich.
Andreas nickte stumm.
„Und du hast das die ganze Zeit gewusst?“, fuhr Paul auf.
„Befürchtet, nicht gewusst.“
„Aber wieso hast du denn nichts gesagt?“
„Ich hatte Angst. Nein, falsch. Ich habe Angst, Paul. Da draußen schlagen sie Leute zu Tode und keinen interessiert’s. Es gibt keinen Schutz für jemanden wie mich. Wer wird denn der Nächste sein, wenn schon jemand wie Jody nicht mehr unantastbar ist?“
„Aber warum trug Jody ausgerechnet bei einem Fackelaufmarsch der Braunen Frauenkleider?“, fragte Paul.
„Er liebte das Spiel mit dem Feuer“, sagte Andreas leise.
„Aber das grenzt doch an Selbstmord“, erwiderte Paul ungläubig. „Wenn diese Braunhemden gemerkt haben, dass unter den Röcken ein Mann steckt, dann war es doch klar, dass Prügel oder Schlimmeres drohte.“
„Das machte für Jody den besonderen Reiz aus. Ich glaube, dieses Versteckspiel erregte ihn.“ Andreas schüttelte traurig den Kopf.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, gab Paul unumwunden zu.
„Brauchst nichts zu sagen“, zischte Andreas und verließ stehenden Fußes das Büro.
Paul starrte auf die Tischplatte. Was war denn in letzter Zeit nur mit seiner Intuition los. Erst steckt er in München bis zum Hals im braunen Schlamassel und viel zu spät merkt er, dass sein bester Freund schwul ist.

Zaghaft klopfte Paul an die Tür seines Redaktionsleiters.
„Herein!“, bellte es.
Scheinbar hatte sich Fleischers Laune noch nicht gebessert.
„Was wollen Sie denn schon wieder!“, herrschte er Paul an.
„Ich habe verlässliche Informationen, dass gestern Abend ein bekannter Bielefelder Architekt bei den Feierlichkeiten anlässlich der Umbenennung des Bürgerparks ermordet worden ist“, sagte Paul etwas steif und verfluchte sich dafür, dass er hier innerlich strammstand.
„Bekannter Architekt!“, schnaubte Fleischer. „Ein verkommenes Subjekt war dieser Degenhardt. Da kann die Volksgemeinschaft froh sein, dass sie so einen los ist. Das ist doch pervers!“
„Aber immerhin sollte er doch die neue Kunsthalle bauen“, wandte Paul ein.
„So ein ausgemachter Blödsinn! Da haben wir in Bielefeld weitaus bessere Architekten. So weit kommt es noch, dass ein solches Prestigeobjekt wie die Adolf-Hitler-Halle von so einer Tunte gebaut wird! – Haben Sie den Bericht über die Geflügelzuchtschau schon fertig? Nicht? Dann aber los!“
Paul sah ein, dass er hier nichts ausrichten konnte, und schlich wieder in sein Büro. Andreas hatte Recht. Die Stimmung im Lande sprach nicht gerade für Homosexuelle.

Nachdem er sein langweiliges Tagewerk vollbracht hatte, irrte Paul ziellos in der Stadt umher. Ohne recht zu wissen warum, zog es ihn zur Sparrenburg. Wenig später klingelte er an der Tür der Jugendstil-Villa. Helene von Haugwitz öffnete selbst die Tür. Sie schien über sein Erscheinen nicht sonderlich überrascht.
„Entschuldigen Sie mein unangemeldetes …“, setzte Paul an.
Helene von Haugwitz winkte müde ab. „Auf Etikette habe ich nie besonderen Wert gelegt“, erwiderte sie. „Kommen Sie herein. Trinken Sie ein Gläschen Cognac mit mir?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie voran in den großzügigen Salon.
„Hat Andreas Ihnen endlich gesagt, was los ist?“, fragte sie und schenkte zwei Gläser ein.
„Ja. Und offen gestanden verwirrt mich dies ein bisschen.“
„Sie haben es mehr mit Frauen? Habe ich Recht?“
Paul errötete leicht. Das war ihm sicherlich seit zehn Jahren nicht mehr passiert. Er nickte bloß.
„Dachte ich es mir doch. Und jetzt befürchten Sie, dass Andreas heimlich in Sie verliebt ist?“
Helene von Haugwitz hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
„Da kann ich Sie beruhigen. Andreas ist schon seit längerem liiert. Er schätzt Sie als Freund, aber nicht auf einer … wie soll ich sagen … sexuellen Ebene.“
Obwohl Paul dieses Gespräch unangenehm war, atmete er hörbar auf.
„Was mit Jody passiert ist, ist wirklich unfassbar“, wechselte Paul das Thema.
Helenes Blick verfinsterte sich. Plötzlich rannen ihr Tränen über das Gesicht. „Es ist wirklich furchtbar“, stieß sie um Contenance ringend hervor. „Und ich kann Thomas nicht erreichen. Ich mag mir gar nicht ausmalen, welche Qualen er wohl leiden muss. Sie haben sich das letzte Mal hier gesehen“, sagte Frau von Haugwitz und beschrieb mit beiden Händen einen Bogen, der wohl die Ausmaße des Salons beschreiben sollte.
„Ein so erfolgreicher Mann wie Jody mit … sagen wir, besonderen Vorlieben, hatte sicherlich viele Feinde?“, traute sich Paul zu fragen.
„Er war ein wunderbarer Mensch“, entgegnete die Frau Kommerzienrat, die sich offenbar auf keine weiteren düsteren Spekulationen einlassen wollte.
Nachdem sie noch eine Weile an ihrem Cognac genippt und geschwiegen hatten, verabschiedete sich Paul.
„Besuchen Sie mich bald einmal wieder“, bat Helene von Haugwitz.
Paul versprach es.
Gedankenverloren machte er sich auf den Rückweg in die Goldstraße. War Jody tatsächlich das Opfer roher SA-Gewalt geworden? Oder hatte der eifersüchtige Thomas rot gesehen? Konnte er vielleicht Jodys ständige Anbändelungsversuche bei anderen Männern nicht mehr ertragen? Und woher wusste sein Redaktionsleiter bereits von Jodys Tod?

22. April 1933

 

Am nächsten Morgen rauschte Redaktionschef Fleischer durch die Tür. „Heldt! In mein Büro!“ Zögernd stand Paul auf. Er hatte in der Nacht schlecht geschlafen und fühlte sich für eine neuerliche Auseinandersetzung mit seinem Chef nicht ausreichend gewappnet.
„Heldt. Machen Sie die Tür zu!“
Paul gehorchte und blieb vor dem massigen Schreibtisch stehen.
Fleischer ließ sich mit einem Seufzer in seinen Bürostuhl fallen. „Sie haben es zwar nicht verdient, aber ich gebe Ihnen noch eine Chance. Schon allein Ihrer begnadeten Mutter – Gott-hab-sie-selig – zu Ehren. Sie gehen zur Ratssitzung. Es geht um verschiedene Bauvorhaben für die Stadt. Verfolgen Sie die Sitzung aufmerksam und machen Sie daraus einen schönen Bericht. Auch wenn diese Sitzungen einfach nur langweilig sind, das darf der Leser nicht merken. Kapiert?!“
„Ich gebe mein Bestes“, entgegnete Paul schwach. „Wann geht’s denn los?“
Fleischer blickte auf seine schwere, goldene Uhr. „In etwa zehn Minuten. Also, was ist? Sehen Sie zu, dass Sie zum Rathaus kommen!“

Von wegen Chance, dachte Paul. Dem Fleischer ist einer ausgefallen und er hat nicht die geringste Lust, sich selbst diese totlangweiligen Beratungen anzuhören. Trotzdem beeilte sich Paul, um pünktlich im Rathaus zu sein. Immerhin besser als
eine Geflügelschau. Der Sitzungssaal war noch nicht ganz gefüllt, aber schon jetzt stand die Luft stickig im Raum. Paul bekam eine Liste mit den Tagesordnungspunkten überreicht und nahm auf einem für die Presse reservierten Stuhl Platz.
Eines musste er Fleischer lassen: Er hatte nicht zu viel versprochen. Es war sterbenslangweilig. Paul blickte auf seinen Notizblock. Darauf standen allerhöchstens vier Stichpunkte. Lustlos malte er die Buchstaben nach. Vorn auf dem Podium erläuterte bereits seit vierzig Minuten ein blasser Architekt seine Entwürfe für die neue Kunsthalle. Ein gänzlich uninspirierter Bau, der sicherlich keine Zierde für die Stadt werden würde.
„Wir danken Herrn Schultze für seine ausführliche Darlegung“, ließ sich der Oberbürgermeister vernehmen. „Und da der Entwurf von Uwe Degenhardt durch sein Ableben obsolet wurde, darf ich nun bekannt geben, dass Herr Friedhelm Schultze die Ehre haben wird, die neue Adolf-Hitler-Halle für die Stadt Bielefeld zu bauen.“
Paul schreckte hoch. Ein kurzer Applaus brandete auf. In der darauf folgenden kurzen Stille klang der erboste Zwischenruf noch lauter: „Würde Degenhardt noch leben, hättest du keine Chance!“ Ein Mann war wütend aufgesprungen und schüttelte die Fäuste gen Schultze.
In diesem Moment sprang die Tür des Sitzungssaales auf.
Max Heldt betrat entschlossenen Schrittes den Raum, gefolgt von vier uniformierten Polizeibeamten. Die Stiefel schepperten auf dem Boden.
„Herr Schultze, Sie sind verhaftet! Ihnen wird die Anstiftung zum Mord zum Nachteil des Uwe Degenhardt zur Last gelegt. Abführen!“ Max nickte den Beamten kurz zu. Das bleiche Gesicht von Schultze hatte noch mehr an Farbe verloren. Eben die Brust noch stolz gereckt, saß er nun zusammengesunken in seinem Stuhl. Zwei Polizisten griffen ihn an beiden Oberarmen und zogen ihn hinaus. Der Architekt leistete keinen Widerstand.
Aufgeregtes Stimmengemurmel erfüllte den Saal. Auch Paul hatte sich wie die meisten anderen erhoben. Max ging auf den erstarrten Paul zu.
„Max, wie bist du darauf gekommen …“, stammelte er.
„War gar nicht so schwer. Haben gestern den Spieß mal umgedreht und die SA-Schergen, die neulich die Schwulenbar überfallen haben, observiert. Hatten vor der Tür schon wieder zwei in der Mangel. Hätten die vielleicht sogar totgeprügelt, wenn wir nicht dazwischen gegangen wären. Die hatten ordentlich geladen. Haben die in eine Ausnüchterungszelle gesteckt. Beim Verhör hat sich einer verplappert. Mit vorsätzlichem Mord wollte dann doch keiner was zu tun haben. Feige Bande. Sind auch nur in der Gruppe stark. Dauerte nicht lange, bis der Name Schultze fiel.“
„Also hat er sich Degenhardt vom Halse geschafft und es so aussehen lassen, als wäre eine Aktion der SA mal wieder außer Kontrolle geraten.“
„Blitzmerker.“
„Aber wieso hast du dich für den Fall so eingesetzt? Die Kollegen wollten davon doch nichts wissen?“
Max trippelte unbehaglich von einem Fuß auf den anderen.
„Tja, ich dachte …“, setzte er gedehnt an.
„Du dachtest, ich sei schwul?“
„Na ja, Andreas ist dein bester Freund und da dachte ich …“
„Nee, nee. Falsch gedacht. Aber trotzdem danke. – Wie lange geht Schultze dafür jetzt in den Bau?“
„Würd nicht darauf wetten, dass er überhaupt vor Gericht gestellt wird“, sagte Max müde. „So viele wie im Moment straffrei ausgehen.“
„Wo soll das denn noch hinführen?“, fragte Andreas leise, der sich unbemerkt zu ihnen gesellt hatte.
„Komm, wir gehen ein Bier trinken“, sagte Paul. „Ich lad dich ein.“

Eike Birck

Eike Birck

Manchmal fragt man sich, wann Eike Birck schläft. Neben ihrer Funktion als Pressefrau und Lektorin im Pendragon Verlag ist sie zudem Romanautorin und Redakteurin für zahlreiche Magazine. Als wären diese Aufgaben noch nicht genug, hat sie ihr Herz der Arminia Bielefeld verschrieben und fiebert bei jedem Heimspiel live im Stadion mit. Und dann sind da auch noch ihre Reisen quer durch die Welt, von denen die lebensfrohe Historikerin etliche spannende Geschichten zu erzählen weiß.
Eike Birck

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