Frau Maier ist mir eines Tages zugelaufen.
Sie war einfach da und bewohnte das kleine Haus am Chiemsee, das ich beim Spazierengehen schon so viele Male gesehen hatte. Sie kochte und sie aß gerne, sie verehrte Elvis Presley und sie liebte ihre Katze.
Das alles war so klar, als ob ich sie schon mein ganzes Leben lang gekannt hätte. Und nicht ein einziges Mal, nicht eine Sekunde lang, war es mir in den Sinn gekommen, dass Frau Maier auch ein Mann hätte sein können. Dass die Hauptfigur meiner Romane keine Frau, sondern ein Mann sein könnte.
Erst viel später, als Frau Maier schon drei Fälle erfolgreich gelöst hatte, fragte ich mich plötzlich: Könnten die gleichen Geschichten eigentlich auch einem Herrn Maier passieren? Liegt es nur daran, dass ich eine Frau bin, dass ich auch über eine Frau schreibe? Oder gibt es etwas in diesen Geschichten, das nur funktioniert, wenn es sich um eine Frau handelt?
Könnte Frau Maier auch ein Herr Maier sein?
Frau Maier nimmt sehr intensiv alles wahr, was in ihrem Umfeld passiert, auch scheinbar unwichtige Details. Man könnte das Neugier nennen, ich aber nenne es Interesse. Und ich würde behaupten, dass im Allgemeinen mehr Frauen diese Art von Interesse besitzen als Männer. Interesse an Menschen und Geschehnissen, die direkt vor ihren Nasen passieren, die sie aber nicht unbedingt unmittelbar betreffen.
Eine nicht repräsentative Umfrage in meinem Freundeskreis hat ergeben, dass acht von zehn Frauen gerne bei Gesprächen von Fremden etwa im Zug oder der U-Bahn zuhören, und dass auch acht von zehn zum Beispiel ganz genau wissen, welcher Kollege wohin in den Urlaub fährt und welche Kollegin einen neuen Pulli hat. Bei den Männern sind es acht von zehn, die beides absolut nicht interessiert. Mehr noch: Sie finden es fast schon absurd, dass so etwas überhaupt jemanden interessieren kann.
Neulich habe ich eine Frau getroffen, die als einzige weibliche Führungskraft in einer Riege arbeitet, die ansonsten nur aus Männern besteht. Sie erzählte mir, dass ein Kollege sie kürzlich gefragt hat: „Warum machst du dir eigentlich die Mühe, mit allen Mitarbeitern zu sprechen?“ Sie antwortete: „Wenn ich nicht mit allen spreche, dann weiß ich auch nicht alles.“ So einfach ist das.
Frau Maiers Art, alles um sich wahrzunehmen und alles wissen zu wollen, treibt die Handlung in jedem ihrer Fälle voran. Ohne diese Motivation würde keiner der Krimis funktionieren. Und genau diesen Antrieb würde ich einem Herrn Maier nicht im gleichen Maße zutrauen wie meiner Frau Maier. Außer natürlich, es wäre Herrn Maiers Aufgabe von Berufs wegen, er wäre zum Beispiel Polizist oder Privatdetektiv. Dann würde er sich bestimmt viel Mühe geben. Aber einfach so, als Privatperson? Raus aus dem gemütlichen Haus und rein in die Ermittlungen? Nein. Dafür braucht es eine Frau Maier.
Was aber noch wichtiger ist: Ein riesiger Teil von Frau Maiers Leben, von ihrer ganzen Identität, wird bestimmt durch einen Vorfall, der lange zurück liegt: Sie hat sich in den falschen Mann verliebt. Sie hat die Dorfgemeinschaft gegen sich aufgebracht und sich noch weiter ins Abseits katapultiert, als sie es als Zugereiste sowieso schon war.
Wäre das so auch einem Mann passiert? Ganz sicher nicht. Ich würde sogar behaupten, dass es nicht nur vor über 40 Jahren, als Frau Maier jung war, sondern auch heute noch einer Frau größere Nachteile bringt, sich auf den „falschen“ Mann einzulassen, als einem Mann, sich mit der „falschen“ Frau einzulassen.
Beispiel (und ich habe das wirklich schon mehrfach mit eigenen Ohren gehört): Ein Mann ist in einer Beziehung. Der Mann geht fremd. Blöd von ihm, ja. Aber so ist er halt. Aber die Frau, mit der er fremdgegangen ist! Also die ist ja wohl das Allerletzte! Die geht ja wohl gar nicht! Sie ist schuld an der ganzen Misere, definitiv alleine schuld, denn ohne sie wäre der Mann ganz sicher ein Leben lang treu geblieben …
Ja. Ganz sicher.
Und selbst wenn Herr Maier alleine geblieben wäre und einsam in seinem Haus am See gelebt hätte – es wäre trotzdem ganz anders gewesen.
In kleinen Dorfgemeinschaften (und nicht nur dort) sind alleinstehende Frauen vielen suspekt, vor allem anderen Frauen. Ich erinnere mich noch, wie mir eine Freundin erzählte, dass ihre Mutter nach dem Tod ihres Ehemannes von vielen gemeinsamen Bekannten nicht mehr eingeladen wurde. „Warum?“, fragte ich entgeistert. „Die anderen Ehefrauen wollten keine alleinstehende Frau dabeihaben. Um die müsste sich ja jemand kümmern – und keine wollte, dass der eigene Ehemann das ist“, war die lakonische Antwort.
Frau Maiers Leben ist anders, als es Herrn Maiers Leben gewesen wäre.
Ich behaupte nicht, dass es interessanter ist, nur eben anders. Und dieses Anders interessiert mich. Deshalb könnte Frau Maier für mich kein Herr Maier sein.
Herrn Maiers Geschichte muss jemand anders schreiben. Aber es findet sich bestimmt irgendwann jemand, der das tut.
Jessica Kremser
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Bildquellen
- KW10b: Jeff Sheldon