Und manchmal trifft man einen Menschen

Ich sah die Frau vor ein paar Wochen das erste Mal. Ihr Kleid war blau wie das Wasser der Havel, knielang und tailliert. Sie trug nie ein anderes, auch heute nicht. Nur ihre Frisur wechselte sie, mal gebunden zu einem Zopf, im Knoten oder offen. Heute fielen ihr die Haare schimmernd auf die Schultern, das Rot in sanftem Kontrast zum Wasserblau.

Mit übergeschlagenen Beinen saß sie an der wilden Uferstelle, zwischen aus dem Boden ragenden Wurzeln und mattgrünem Gras auf einem Baumstumpf. Vor das Gesicht hielt sie ihr Buch, doch ich wusste, dass sie es nicht las, sondern immer wieder über den Rand hinweg nach mir Ausschau hielt.

Ich liebte unsere zum Ritual gewordenen Treffen, sehnte mich nach ihrem Lachen und träumte von ihrer Stimme, wenngleich ich wusste, es würde nicht ewig währen.

„Hans!“, rief sie mit den Augen. Das Buch noch immer vor sich erhoben. Ich ging auf sie zu und blieb, wie immer, am Rand des Weges stehen. Jetzt sah ich ihre dünnen Finger, die weiße Haut, durchzogen von blauen Äderchen.

„Ich hab’s dir mitgebracht“, sagte ich und hielt die braune Papiertüte hoch. Ihre Augen begannen zu leuchten, das Buch sank auf ihre Knie.

„Wie hast du das bekommen?“

„Ich bin eingestiegen. Letzte Nacht. War ganz einfach.“

„Hans! Hat er dich gesehen? Irgendjemand?“

„Nein. Nein Tina, niemand hat mich gesehen. Nimm es, es ist deins.“

Ich war nun so dicht an sie herangekommen, dass ich die Tüte in ihren Schoß stellen konnte, ließ sie los und ging wieder einen Schritt zurück.

Das Buch war ihr aus den Fingern gerutscht und auf den Boden gefallen, sie beachtete es nicht, sah nur in die Tüte und konnte die Träne in ihrem Augenwinkel nicht verhindern. Ein Lächeln schmückte ihr Gesicht als sie aufsprang und mich umarmte. Ich stand steif da, die Arme an den Körper gepresst und wartete. Überrumpelt von ihrer Reaktion, der ersten Berührung seit wir uns kennen. Als ich ihr Gesicht wieder sehen konnte, war eine zweite Träne die Wange hinab gelaufen.

 

Als ich Tina das erste Mal sah, saß sie mit durchgedrücktem Rücken auf dem Baumstumpf, vor sich das Buch, das zu lesen sie noch heute vorgab und summte die Melodie eines Kinderliedes. Es erinnerte mich an meine Kindheit, also blieb ich stehen und hörte ihr zu. Zuerst bemerkte sie mich nicht, bis ich anfing mitzusummen. Vollkommen in meinen Erinnerungen versunken hatte ich es nicht einmal gemerkt. Sie hörte abrupt auf und sah mich an, mehr fragend als anklagend und ich verstummte.

„Tschuldigung“ stammelnd wollte ich weiter gehen, doch ihr Blick war so durchdringend und lähmte mich.

„Gefällt dir das Lied?“, fragte sie unumwunden und lächelte.

„Ähm, ja. Meine Mutter, ähm, hat mir das früher immer vorgesungen.“

„Meinem Sohn gefällt es auch“, sagte sie als müsse ich ihren Sohn irgendwo in der Nähe sehen können. Doch da war niemand, nur das glitzernde Wasser in ihrem Rücken.

„Aha“, sagte ich und setzte zum Weitergehen an.

„Ja, mein Sohn heißt Svantje, weißt du. Und er ist jetzt so alt wie du. Er will von mir keine Kinderlieder mehr vorgesungen bekommen“, erzählte sie während ihr Lächeln erstarb. Ich fühlte mich, als müsste ich irgendetwas antworten, doch sie sprach bereits weiter: „Er lebt bei seinem Vater. Mich haben sie hier hergebracht.“ Mit dem Kopf nickte sie zu etwas, das sich hinter mir befand. Ich drehte mich um und sah das villenähnliche Haus zwischen den Bäumen.

„Ist doch schön hier“, sagte ich hilflos und fing an, mich über meine Höflichkeit und die Unfähigkeit weiterzugehen zu ärgern.

„Du bist wohl nicht von hier?“, fragte sie mit schief gelegtem Kopf. Die Augen zusammengekniffen als erschiene jeden Moment der Name meiner Heimat auf meiner Stirn.

„Ich bin aus Werder, also ganz in der Nähe.“

„Und weißt trotzdem nicht was das Haus da ist?“

Was soll das?, dachte ich. Macht die sich über mich lustig? Wer kennt schon alle Häuser, nur weil sie an der Havel stehen? Fast hatte ich den Mut gefasst einfach weiterzugehen, da antwortete sie sich selbst: „Das ist ’ne Klapse. Ein Irrenhaus. Sammelstätte für Geisteskranke.“ Mein fragender Blick ließ sie kurz, aber heftig loslachen. „Eine Psychiatrie!“, schrie sie nun beinahe und warf wie zur Bestätigung ihr Buch in die Luft. Es landete dumpf auf dem moosigen Boden, ich starrte es an.

„Was haben Sie denn?“ So eine dumme Frage, dachte ich bei mir, frag doch nicht noch, mach, dass du wegkommst, doch ich ging einen Schritt auf sie zu.

„Was ich habe? Sehnsucht. Das ist alles. Sehnsucht nach meinem einzigen Sohn. Das reicht schon, um für verrückt gehalten zu werden.“

 

Heute erscheinen mir ihre Worte wie aus ferner Vergangenheit. Dieser Tag, Jahre her. Als läge eine Welt dazwischen.

Nun weiß ich, warum ich stehen blieb. Ich weiß, warum Tina mir all das erzählte, warum wir uns finden mussten. Und ich kann mir keinen Tag vorstellen, an dem wir uns nicht sehen könnten. Tina war meine Welt geworden, ihre Worte mein Seelenheil, als kämen sie aus dem Mund meiner eigenen Mutter.

Jeden Tag war ich zur selben Zeit wieder an die kleine Uferstelle gekommen und hatte sie dort sitzend gefunden. Anfangs ließen wir es beide nach Zufall aussehen und wussten doch vom ersten Tag, dass wir uns brauchten, es nicht anders ging und doch endlich war.

Ich war also in der Nacht zuvor ins Haus ihres Ex-Freundes eingestiegen. Es war ein schönes Haus mit großem Grundstück und kleinem Privatsteg. Ein Fenster auf der Rückseite stand offen, seit Tagen hatte ich das Haus beobachtet und darauf gewartet. Ich kletterte auf die Fensterbank, ließ die Beine ins Haus hineinbaumeln und sprang in die Dunkelheit. Als sich meine Augen daran gewöhnt hatten, sah ich, dass ich in einer Art Gästezimmer stand. Es schien bewohnt, Kleidungsstücke lagen über dem Sessel verstreut, das Bett war ungemacht, der Fernseher auf Standby. War das schon sein Zimmer?

Rückblickend habe ich wohl eine ganze Weile suchen müssen, ehe ich das Fotoalbum fand. Doch als ich jetzt Tina von meinem Einbruch erzählte, hörte ich mich etwas von zwei Minuten sagen.
Fotos
„Ich bin so froh, dass du in mein Leben gekommen bist, Hans. Du bist zu meinem Sohn geworden. Du bist zu Svantje geworden“, sagte sie und zog das Album aus der Papiertüte. Ihre Finger strichen über die in Folie eingeschlagene Hülle und umkreisten den Namen, der in femininer Schrift darauf geschrieben stand. Sie drückte es an ihre Brust, schloss die Augen und sog die frische Herbstluft in ihre Lungen.

„Ich bin Hans“, flüsterte ich, auch wenn ich mir wünschte, sie hätte recht. So sehr wünschte, ich hätte endlich den Grund gefunden, erfahren, dass meine Mutter mich liebt und nie weggehen wollte. Ich wünschte, Tina wäre meine Mutter, die um mich gekämpft hatte, alles riskiert hatte, auch wenn der Kampf verloren war. Ich wüsste heute immerhin, meine Mutter hatte mich immer geliebt. Mehr sogar, als es gut und erlaubt war, wenn das möglich wäre. Doch Tina ist nicht meine Mutter.

 

Sie hatte sich jetzt wieder auf den Baumstumpf gesetzt und blätterte die Seiten des Albums durch. Ihre Mundwinkel zuckten zwischen Lachen und Weinen hin und her, die Tränen hatten keinen Halt. Es war, als gäbe es einen Kreislauf, der sich in diesem Moment schloss, eine Geschichte, die ihr Ende fand. Doch dieser Tag an der Havel im Schatten der Psychiatrie war nicht das Ende. Vielleicht war er der Anfang davon, der letzte Stoß.

Tinas Lippen bewegten sich, als erzähle sie den Bildern eine Geschichte. Sie träumte sich zurück in die Zeit mit Svantje, ich fühlte mich, als wäre dabei. Sie hatte mir so viel von Svantje erzählt, ich meinte ihn zu kennen, glaubte, er sei mein bester Freund. Uns schien viel zu verbinden, die fehlende Mutter, Sehnsucht und die Frage: warum?

 

Ich wünschte, ich könnte zu Svantje gehen, ihm zurufen: „Deine Mutter liebt dich! Liebt dich! Liebt dich! Wollte nie gehen!“ Ich wünschte, er wüsste, warum seine Mutter eingesperrt war, so sehr wie ich mir wünschte zu wissen, warum meine Mutter nicht bei mir war.

So oft hatte ich davon geträumt, zu ihm zu gehen: „Hey Svantje!“, zu sagen. „Als du ein Kind warst, hat deine Mutter dich entführt, denn du solltest ihr weggenommen werden. Sie sitzt in der Klapse, weil sie nicht ohne dich kann. Sie liebt dich. Wie eine Mutter. Das ist ihr einziger Fehler.“

In meinem Traum seid ihr glücklich vereint am Schluss. In der Realität werde ich dir das nie sagen können. Ich weiß es. Tina weiß es. Die Fotos sind alles. Die Wiedervereinigung.

 

Als der Baumstumpf am nächsten Tag verlassen auf der Lichtung steht, wundert es mich nicht. Ich schließe die Augen, höre den Wind durch das Laub fahren und sehe ihr rotes Haar in der Sonne schimmern.
 
Baumstumpf

Sophie Sumburane

Sophie Sumburane

Sophie Sumburane macht klare Ansagen, bleibt dabei doch stets freundlich, obwohl sie auch schon als “vorlaute Möchtegernautorin” beschimpft wurde. Das macht ihr jedoch nichts aus, denn sie steht zu dem, was sie schreibt und ist schlicht froh, wenn ihre Texte gelesen werden und etwas im Leser auslösen. Mit dieser Einstellung hat sie sich stetig weiterentwickelt und schreibt nun keine seichten Geschichtchen, sondern knallharte Kriminalromane, in denen Missstände angeprangert werden. Hat sie sich an einem Thema festgebissen, wird ihr Wissen nach langer und intensiver Recherche in Romanform geschmiedet. Fällt sie dann nach getaner Arbeit zufrieden auf die Couch, erfreut sie sich an ihren beiden Töchtern, denen sie jede freie Minute widmet.
Sophie Sumburane

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