Eine Tasse Kaffee

Frau Maier warf einen Blick auf die laut tickende Küchenuhr. Zwölf vor Neun. Fünf Minuten hatte sie noch.

Die Tasse war heiß und sie umschloss sie mit beiden Händen. Sie dachte an ihre Mutter, die wegen der Gicht immer Schmerzen in ihren Fingern gehabt hatte. Dann lieber das Knie, dachte sie. Das braucht man nicht so oft.

Schwarzer Kaffee. Die Milch war leer. Sie musste erst zum Supermarkt und neue kaufen. Nach dem Putzen. Vielleicht konnte sie den Seppi abpassen und ihn bitten, ihr die Einkäufe abends vorbeizubringen… Nein. Das würde sie nicht tun. Frau Maier hasste es, jemanden um Hilfe zu bitten. Egal, wen. Sie musste es alleine schaffen. Warum eigentlich? Sie stellte sich Dr. Frank Schön vor, den Psychologen. Wie er sie aus seinen harmlosen blauen Augen ansah und dabei viel mehr durchschaute als ihr lieb war. „Warum wollen Sie eigentlich immer alles alleine schaffen, Frau Maier?“ fragten seine Augen. „Ich will nicht, ich muss“, antwortete sie.

Woher war die Antwort gekommen? Ich muss. Sie hörte ihren Vater. Es muss irgendwie weiter gehen. Nach dem Krieg. In der neuen Heimat. Ohne Arbeit. Ohne die Mutter. Es muss irgendwie weiter gehen.

Frau Maier trank einen Schluck Kaffee. Sie spürte, wie er – immer noch heiß, aber nicht zu heiß – ihre Speiseröhre hinunter floss, und sich dann in ihrem Körper ausbreitete. Sie stellte sich vor, wie er sich mit ihrem Blut vermischte. Dass er sie wach und aufmerksam machte. Noch aufmerksamer. Damals, als sie die Leiche im See gefunden hatte, hatte sie sich vorgenommen auf Pfefferminztee umzusteigen. Die heftige Unruhe, die sie ergriffen hatte war ihr unheimlich gewesen. Inzwischen wusste sie längst, dass diese Unruhe nichts mit Kaffee zu tun hatte. Das verschwundene Kind aus dem Kurhotel. Der Spuk im Königsschloss. Jedes Mal hatte sie schon vorher gewusst, dass es wieder so weit war. Dass etwas passieren würde, was sich nicht aufhalten ließe. Etwas, dem sie nicht aus dem Weg gehen konnte. Oder wollte?

Kommissar Brandner. er hielt sie für einsam, seltsam, neugierig. Eine lästige Alte, die sich in alles einmischte, nur, um einmal ein bisschen Aufmerksamkeit zu bekommen. Schnell trank sie noch einen Schluck Kaffee. Doch das Unbehagen, das sie jedes Mal erfasste, wenn sie darüber nachdachte, konnte sie nicht herunter schlucken. „Sie haben Angst, dass in diesem Vorwurf ein Körnchen Wahrheit steckt.“ Franks Stimme. Sanft und unerbittlich.

Frau Maier zeichnete mit dem Finger das Muster der Kaffeetasse nach. Das Hochzeitsgeschirr ihrer Eltern. Aus der Heimat. Der wertvollste Schatz ihrer Mutter. Und jedes Mal, wenn sie es aus dem Schrank geholt hatte, hatte sie Tränen in den Augen gehabt. Jedes Mal hatte Frau Maier, die damals noch nicht Frau Maier war, sondern ein kleines Mädchen, sich gefragt, warum die Mutter weinte. Warum sie sich nicht freute, so ein schönes Geschirr zu haben.

Die Uhr tickte immer lauter. Neun vor neun.

Frau Maier stand auf und ignorierte das Stechen im Knie. Höchste Zeit sich Schuhe anzuziehen.

Jessica Kremser

Jessica Kremser

Die Frohnatur Jessica Kremser steht immer unter Strom, denn sie muss zugleich Familie, Arbeit und Schriftstellerei gerecht werden. Und das ist nicht einfach, wenn man dazu neigt, jede begonnene Aufgabe zur Perfektion bringen zu wollen! Zum Ausgleich muss es dann natürlich auch Phasen des Nichtstuns geben, in denen sie auf der Couch herumlümmelt oder Freunde trifft. Anders ist das bei ihrer Romanfigur Frau Maier, die froh ist, wenn es etwas zu tun gibt oder sich jemand Zeit für sie nimmt. Auch in ruhigen Momenten geistert die kluge alte Frau jedoch in Jessica Kremsers Kopf herum, denn hinter jeder Ecke lauern Ideen für ihre Romane.
Jessica Kremser

Letzte Artikel von Jessica Kremser (Alle anzeigen)

Bildquellen

Kommentar verfassen