Erinnerung vs. Bestandsaufnahme: 2 Gedichte

»Die Queen jenes Sommers«
–> Eine sentimentale, fast sepiafarbene Erinnerung an einen Sommer mit einer englischen Austauschschülerin Mitte der 70er Jahre.

Ihre Schulterblätter sind das, was mir noch vor Augen steht
aus diesen hechelnden Hundstagen im unteren Jura der Jugend,
ihre blassen Schulterblätter, auf denen ein später Juli
viele Sommersprossen ausgesät hatte.

Ich sah den Wassertropfen zu, die sich dazwischen
entlang schlängelten, gespeist aus einem wilden Rotschopf,
wie sie Tempo aufnahmen, wenn sie die Schultern bewegte,
und ihren Rücken weiter hinunter liefen.

Mein Blick lief ihnen nach bis zum Rand der Bikinizone,
während wir hier lagen zum Trocknen auf den
sonnenwarmen Planken dieses Stegs am See, ihr riesiges
Handtuch mit dem Union Jack, fast hätte ich salutiert
vor dieser Queen aus Swindon.

Wie überlegen sie mir war, einen halben Kopf größer,
vom Größenunterschied im Kopf gar nicht zu reden.
Sie war gut in Physik, ich nur in Physis, ihr Thema:
Energie und wie sie verschwendet wird.

Könnte man mit der Kraft, die notwendig ist, um eine
Brandschutztür aus Stahl zu öffnen, nicht gleichzeitig
ein paar Orangen auspressen, fragte sie. Was da
verloren geht! Ich hatte keinen blassen Schimmer,
ganz im Gegensatz zum See.

Ich hatte nur Augen für ihren Mund, aus dem
diese Versuchsanordnungen nur so sprudelten,
ihre rauen, rissigen Lippen, die nach Zimt schmeckten
oder Holunder, da verschwimmt die Erinnerung.

Später, als wir aufstanden, blieb ihr Blick an meiner
Badehose hängen. Abklingbecken, sagte sie, grinste
und ich weiß bis heute nicht, woher sie die Vokabel hatte.
Nur den Klang habe ich noch im Ohr, den weichen
Wiltshire-Akzent einer Austauschschülerin.

Damals aber verstand ich nicht mal, was sie meinte.
Wochen später, als sie längst weg war, ging es mir auf,
in einer Physikstunde, als es um Kraftwerke ging:
Sie war die Energie, ich die Verschwendung.

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»Weniger wichtige Wahrnehmung«
–> Eine Bestandsaufnahme des Jetzt, wo sich mit zunehmendem Alter die Gewichtungen verschieben. Das Dringende fällt weg, die Gelassenheit nimmt zu. Oder wie Harald Juhnke auf die Frage, was seine Vorstellung von Glück sei, einmal antwortete: „Keine Termine. Und leicht einen sitzen.“

Ich fange an,
Wiederholungen zu mögen,
Landschaften, die andere langweilen,
den makrelenfarbenen Himmel
an irgendeinem beliebigen Mittwoch
Städte, die sich mir nicht sofort
an den Hals werfen, sondern
langsam geliebt werden wollen.

Ich fange an,
das Allmähliche zu mögen,
das traumwandlerische Kreiseln
der ersten Flocken kurz vor dem
Schneetreiben, dann wieder
die Plötzlichkeit, mit der ein einziger
Frühlingstag den Parks und Gärten
eine Tracht Flieder verpasst.

Ich fange an,
das Hinauszögern zu mögen
beim Möblieren eines neuen Gedankens,
mag es, nichts vorzuhaben, ohne Plan
hier zu sitzen mit einem Kaffee, mit
dem Brummen eines sich entfernenden
Flugzeugs und dann: Das Einsetzen einer
Stille, die es vorher nicht gegeben hat.

Hellmuth Opitz

Hellmuth Opitz

Durch einen guten Deutschlehrer entwickelte Hellmuth Opitz in der Oberschule eine Liebe zu Gedichten. Die Faszination, auf kleinem Raum neue Welten zu entfalten, ließ ihn seitdem nicht mehr los. Als Songtexter für seine Folkrockband konnte der Dichter dann erste Erfahrungen im Verfassen von Lyrik sammeln. Heute denkt er zunehmend in Bildern. Beim Spazierengehen löst sich die eine oder andere „poetische Lawine“ in ihm und Ideen werden „locker getreten“. Ein wehleidiger Weltschmerz-Dichter ist er auf keinen Fall, eher bringt er den Leser durch seine ironisierte Sichtweise zum Schmunzeln. Zur Ablenkung vom kopflastigen Tagesgeschäft hört er gern Musik, geht Darts spielen oder steht für seine Kickertruppe im Tor. Im Pendragon Verlag erhältlich sind seine Gedichtbände "Engel im Herbst mit Orangen", "Die Sekunden vor Augenaufschlag" und "Die Dunkelheit knistert wie Kandis".
Hellmuth Opitz

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