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Auf Gleis Zwei fährt ein, der Zug von Lüdenscheid nach Dortmund, Abfahrt 9.03 Uhr. Bitte Vorsicht bei der Einfahrt. Auf Gleis Zwei fährt ein, der Zug von Lüdenscheid nach Dortmund, Abfahrt 9.03 Uhr. Bitte Vorsicht bei der Einfahrt.

Das ist ja was ganz Neues! Gemäß des kartesischen Grundgedankens ist nicht nur zweifelhaft, dass der Zug pünktlich kommt, sondern, dass er überhaupt kommt. Dieser Gedanke liegt weit vom Herdecker Bahnhof entfernt, auf dessen Bahnsteig ich ihm ja nur deshalb hinterherjage, weil ich ausgerechnet am heutigen Heimspiel-Samstag noch nach Dortmund fahren muss, eines Geschenkes wegen, um das ich mich seit Wochen hätte bemühen können. Man hat eben anderes im Kopf. Während der Gedanke an die allgemeine Existenz von Zügen und ihr spezielles Zusammentreffen mit den Parametern eines konkreten Ortes – hier Gleis 2 – und einer planmäßigen Ankunftszeit – 9.03 Uhr – mir bereits wieder in weite Ferne entschwindet, werde ich von der Lautsprecherdurchsage überrascht, die mir beweist, dass es immerhin anders kommen kann, als man meistens denkt, denn der Zug ist pünktlich und kann sich noch den Luxus eines zweiminütigen Aufenthalts erlauben. Die Türen schließen hier nicht selbsttätig. Wie man plötzlich zu einem solchen Gedanken kommt, kann mir niemand schlüssig erklären. Gut, ich denke das und übrigens fällt mir ein, dass ich eigentlich noch Kaffee besorgen müsste – italienisch schwarz geröstete Bohnen – aber das kann ich in Dortmund auf dem Markt erledigen. Nur hätte ich mich dann nicht so beeilen brauchen. Als der Zug anfährt, kommt mir der wirklich absurde Einfall, ich könnte den Gedanken von eben, also den von der Existenz der Züge, ja noch einholen, würde die Bahn nur schnell genug fahren, denke dann aber an Einstein und dass man an solchen Geschwindigkeiten, selbst in Zügen, kein Interesse haben sollte. Was für Gedanken! Ich verliere mich …

9.20 Uhr. Ich betrachte die Gesichter meiner Mitreisenden; Einsteigende, Aussteigende, schwarz-gelbe Fahnen, Schals und Trikots, während vor dem Fenster die Welt an mir vorübergleitet, die Dinge von vorn auf mich zu, und dann nach hinten verschwinden. Man sitzt wie in einem Sog, aber mir scheint, als könnte ich gegen dieses Phänomen andenken, als könnte ich dem Vorübergleiten meine Gedanken entgegenstellen. Mein Kopf schützt die Gedanken vor dem Mitgerissen werden. »Entschuldigen Sie! Ihre Fahrkarte bitte!« Komisch, ich werde eigentlich selten kontrolliert. „Danke sehr.“ – »Wie spät ist es genau, wenn ich fragen darf?« Ich habe meine Uhr vergessen! – „9 Uhr 35, ´tschuldigung 36.“ In 6 Minuten kommen wir also an. Man sollte sich vorbereiten.

7867, Abfahrt 9.48 Uhr von Gleis drei, fährt heute von Gleis sieben! Der Zug mit der Zugnummer 7867, Abfahrt 9.48 Uhr nach München von Gleis drei, fährt heute von Gleis sieben!

Ein Gewühl ist das hier auf dem Bahnsteig. Fußballverrückte, Einkaufsbummler, Passanten; nie lassen die Leute einen aussteigen, immer erst selbst hinein! Den Weg im Gewühl bahnen. Denk´ an die Bohnen, italienisch geröstet!, sagt Frauke. Auf der Bahnhofsuhr ist es 9.45 Uhr; die Uhr ist beruhigend. Ich habe noch Zeit. Also schlendere ich so entspannt zur Treppe wie es eben geht. Sie müssen einen Rhythmus finden, sagt mein Arzt. Ich zähle die Stufen abwärts – zwo vier sechs acht zehn zwo vier sechs acht – Absatz – zwo vier sechs acht zehn zwo – das ist zwar rhythmisch, aber ohne Harmonie und dabei sehe ich im Vorbeigehen zu viel des bekannten Unbekannten. Die Werbetexte, die großen Musicalplakate, Limousinen vor Landschaftsidylle, Kino, Zeitungen, Zigaretten – der Zug von Dortmund nach Berlin über Bielefeld, Braunschweig, Hannover, Abfahrt 9.50, Gleis 3 fährt in wenigen Minuten ein, bitte Vorsicht bei der Einfahrt! – die Fahrkartenentwerter, sonst graue Wände und abgerissene Plakate, ein Söldner, der sie wieder anzukleben versucht – eine Welt, auf allen Seiten gleich, aus allen Blickwinkeln, das Plakat an der Litfaßsäule endet nicht, bis der Anfang in das Ende übergeht. Alpha und Omega. Menschen driften hin und her, fällt mir schwer Gesichter festzuhalten, sind irgendwie ein Teil des Sogs, nicht wie meine Gedanken, erinnerbar. „Oh, entschuldigen Sie!“ Was war denn, aber sie ist bereits weiter. Ich habe nicht einmal ihre Gesichtszüge gesehen. Haarfarbe, Augen, besondere Kennzeichen.

Können Sie sich denn an nichts erinnern?, sagt mein Psychiater. Komme mir vor wie in einem Tunnel im Gegenverkehr. Ich bitte um Aufmerksamkeit für die nächste Durchsage: Der kleine Tobias hat seine Eltern verloren. Bitte holen sie Tobias Tiemann an der Bahnhofsmission ab! Bitte holen sie Tobias an der Bahnhofsmission ab! All diese Leute »Können Sie einmal einen Schritt zur Seite…?« Ich stehe vor dem Fahrplan? Das habe ich gar nicht mitbekommen. Ich wollte doch die Bohnen… italienisch geröstet! »Ja natürlich. Entschuldigung.« Ich weiß doch, wann die Züge zurückfahren! Aber heute? 7867 zum Servicestand, 7867 bitte umgehend zum Servicestand. Erst einmal hier heraus aus dem Bahnhof und wohin als nächstes? Was wollte ich kaufen? Ich wollte mir im Zug darüber Gedanken machen. Rot. Die Ampel ist rot. Thüringer! Frische Thüringer! Bratwurst, nur… Gerade war noch grün. So ein Unsinn, hier steht man immer minutenlang. Deshalb zwängen sich so viele durch die kreuz und quer stehenden Autos. Ob Tobias seine Eltern gefunden? Renate hat auch bald Geburtstag. Wie spät ist es? – „Mensch passen Sie doch auf!“ – „Oh, Entschuldigung!“ – wieder kein Gesicht – 10 Uhr – die Glocken, richtig. Erst einmal zum Markt, Hansaplatz, das ist am besten. Die Menschen werden immer mehr, überall schwarz-gelbe Massen, das Spiel ist doch erst …

– wieder ´ne Ampel – zig Straßen muss man erst überqueren – zwo vier sechs acht zehn zwo vier – grün – der läuft mir direkt vor die Füße, man!! – pass doch mal – ich muss zuerst die CD kaufen. Dann sollte ich erst zum CD-Markt, später zum Hansaplatz – erst CD-Markt – zurück – um Gottes Willen – „deine Mutter kommt“ – ich bin auf der falschen Seite – „gib´ mir das Geld aus dem…“ – wo kommen die alle her – „Sonntag, nee vergiss es!“ – die strömen mir alle entgegen, man ist das – „die gewinnen sowieso nicht gegen Köln…“ – lästig – „das glaubst du doch selbst nicht?“ – bis man mal – „Entschuldigung, och“ – auf der anderen Seite – „…um 10 Uhr 15 …“ – will der ´nen Zug kriegen? Was die alle so reden! So jetzt auf der richtigen Seite, mit dem Strom. Ich hasse Fußgängerzonen! Heute Räumungsverkauf, Räumungsverkauf. 50% auf alle Artikel. Das ist. Ooch, man, kann die nicht – das ist doch eng genug. Nur noch 50%, eine einmalige… – die drückt mir alles ins Kreuz – greifen sie zu! – Noch zehn Meter – „Können Sie mir sagen wie spät es ist?“ – „Mensch, da ist doch ´ne Uhr!“ – „Wo?“ – Komm, noch fünf Meter – oooh, da ist es auch total voll – rämpel – ihr könnt mich mal – ich will duuurch! – so – die Luft hier – grausig! – aber drin.

7867 bitte 5499! – 7867 bitte 5499! – Ist die CD-Abteilung unten? – Ich schau mal auf den Plan. Direkt an den Rolltreppen – wo es am vollsten – 7867 bitte 5499! – geduldig sind die nicht – ja unten! Hab ich doch gewusst. Liszt, das ist ´ne gute Idee. – Wie angenehm es auf einmal hier ist. Niemand bewegt sich mehr. Alles steht schön still. Was Feines so eine Rolltreppe. Solche Dinger sollten die im ganzen Kaufhaus verlegen. Achtung, eine Durchsage: Der kleine Tobias wird gebeten sofort zum Restaurantausgang zu kommen. Deine Eltern warten dort auf dich. Liszt…, Franz Liszt! – nein, nicht die Meyer oder Fischer oder wie! – überall das Gesicht dieser Person! – also Klassikabteilung – dort drüben – 7867 bitte in die HiFi-Abteilung – 7867 bitte in die HiFi-Abteilung – unter L wie Liszt, nicht F wie… – reinhören kann ich sowieso nicht, da müsste ich Stunden warten – „Entschuldigen Sie, hier ist kein Preis drauf, wie …“ – „Ich bin hier nicht zuständig…“ „aber!“ – unverschämt, wo? dahinten an der Kasse! – Mist, da stehen mindestens zwanzig – „kommen Sie bitte hierhin ich mache die zweite Kasse…“ – toll, die kann ich auch nicht … da ist einer, warte, „Entschuldigung, entschuldigen Sie, ich muss, danke, Verzeihung – Sie!!!, hallo! – ähh, – die CD? – da ist kein Schild – ich mein kein Preis…“ „Da müssen Sie in der CD-Abteilung…“ „aber da ist kei – da war ich doch – ich…“

Entschuldigen Sie mich, ich muss mal telefonieren“ – Gott, Scheiße!!! Jetzt kauf´ ich das Ding einfach – 7867 bitte rufen sie die 2 an, bitte rufen sie die 2 an – Idioten – die Schlange – „Würden Sie sich bitte hinten anstellen?“ – „Nee!“„Aber Sie können doch nicht“ – „Sie sehen doch das ich kann“„Unverschämt!“ – „Kümmern Sie sich um Ihren Kram!“ Sie müssen einen Rhythmus finden, kluger Psychiater! Denk´ an die Bohnen, italienische Röstung! Mach´ ich Schatz!! Wenn die nicht so lange nach ihrem Geld kramte! Manche Leute sind nicht in der Lage von jetzt bis gleich zu denken. „Fünf Euro, Zehn, Fünfzig – Danke“ – einpacken muss ich die CD Zuhause; haben wir überhaupt noch Papier – hol´ besser noch welches – Mensch ich wollte die Bohnen! – „Macht 3 Euro 20“ – jetzt fängt der auch noch an. Ob man es sieht, wenn ich genervt gucke?! – „Unverschämt so was, haben Sie so etwas …“ Die regt sich immer noch auf, einfach aussitzen, gleich bin ich eh…Tut mir leid, ich habe keine Kassenrolle mehr. Gehen Sie bitte an die Nebenkasse.“Ooch – da stehn schon zehn. „Das ist doch wohl nicht wahr!“ – „Wir können doch auch nichts…“„Natürlich können Sie nichts dafür!“ nun heul´ nicht gleich. „Können Sie mir wenigstens sagen, wie teuer die ist?!“Oh – da steht kein Preis drauf.“ – „Weiß ich“„Da müsste ich erst nachfragen,“ – „Wenn Sie jemanden finden!“ – „Einen Augenblick“ – Ich glaub das nicht! Jetzt ist die Schlampe wenigstens wieder vor mir. Grins nicht! Macht Falten.

7867 bitte an Kasse 3, 7867 bitte an Kasse 3 Warten. Vielleicht einmal nicht denken. Wer sagt was von Denken: Warten. Zwo vierFrau Krämer bitte in die Gemüseabteilung, Frau Krämer bitte zehn – zwo vier sechs acht – „Entschuldigung!“den kenn´ ich doch!Der kleine Tobias kann jetzt vor dem Restaurant abgeholt werden! – den hab ich doch grade… „Der Herr möchte den Preis…“ – „Den weiß er doch auch nicht!“ „…von der CD.“ – „Wir schauen einmal im Rechner nach.“ – Ach! „Ich warte!“ Nur nicht denken – „Einen Augenblick“ – Ich hasse Augenblicke! Wie spät ist es? Wo ist eigentlich meine Uhr? „Wie spät ist es eigentlich?“ – „17,95!“ „Was?“ – „17,95, die CD kostet 17 Euro 95“„Oh, danke!“ – Tobias möchte von seinen Eltern vor dem Restaurant „abgeholt werden, wissen wir“„Wie bitte?“ – „Ach nichts“„Kann ich noch etwas für Sie tun?“ „Konnten Sie jemals?“7867, bitte einmal die 18 – Ooch„Sie entschuldigen mich!“ – „Ich weiß Sie haben Verspätung – oder Gleis 7?“ – „Möchten Sie die zahlen?“ – „Nein!!!“ – „Aber…“‑ „Ich will gar nichts…“ Kann aus der HiFi einmal jemand in die Verwaltung, einmal in die Verwaltung bitte. – „nichts!!!“„Aber Sie können die CD doch nicht so auf den Tisch…“ – „Was kann ich nicht?!“ Nur noch weg, vier sechs zehn zwo vier – Tobias könntest du bitte – weg! „Aber mein Herr, die CD!“ – nur nichts mehr – 7867 bitte – denken – 7867 – denken – „Morgen kommt Oma…“ – Wer? – „Das Grüne ist viel…“ – Geschenkpapier„7 Euro 20“ die Bohnen„noch zehn…“ – kein „passt“ – Geschenk – Tobias!!!? „Ich heiße nicht Tobias!“ „Hätten neulich gegen Freiburg noch höher…“ – nicht denken„8:0“ – nicht denken – „Werden dieses Jahr Meister!!!“ – denken – „Wie viel Zeit…?“ – denken – „Hallo?“ – den… – „Hallo!!“ – vier sechs acht vier acht zwo zwo zwo zwo zwo zwo…

Michael Helm

 

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Gelesene, gesprochene und gelehrte Literatur, das ist für Michael Helm eine Herzensangelegenheit. Für ihn ist es wichtig, dass Sprache nicht nur visuell, sondern auch akustisch wahrnehmbar ist, denn so entsteht ein neuer Zugang zu den Worten. Deshalb hört er anderen auch gerne zu. Ebenso legt er Wert auf eine entschleunigte Wahrnehmung, die ein Erlebnis noch intensiviert. So genießt er es, die Welt zu Fuß zu erkunden und die Natur um sich herum zu erfahren. Besonders fasziniert ihn zudem festzustellen, warum gewisse Texte an bestimmten Orten spielen und dabei den Schauplatz selbst zu erleben.
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