Edith

Ich weiß noch den Weg. Die Straße hinunter, dann rechts: der Schulhof, der Park, die Kirche. Die Straße ist breit und asphaltiert. Früher war sie schmal und gepflastert. Der Schulhof quadratisch. Der Park klein. Die Kirche groß.
Die Straße ist jetzt eine Hauptstraße; gefährlich für die Kinder, die doch lieber laufen wollen, als in Trauben wartend vor den Ampeln zu stehen. Der Schulhof – einmal am Tag fünfzehn Minuten lang von Stimmen erfüllt. Rufe, Schreie, Lachen. Danach wieder gefegt und stumm. Der Park – verschwiegen, immer noch, roch damals etwas mehr nach Tannen. Die Kirche etwas heller.
An dieser Straße konnte man mich jeden Morgen stehen sehen, eine orangefarbene Mütze auf dem Kopf, einen Ranzen auf dem Rücken. Auf diesem Schulhof aß ich mein Pausenbrot, fütterte mit den Krümeln die Tauben, während ich hinüberschaute zu einem Mädchen, das Edith hieß.
Die Kirche hat inzwischen kein Portal mehr. Da ist jetzt eine schwere mattglänzende Tür aus beschlagenem Kupfer. Sie wirkt dick gefüttert; sie erinnert an die Sprechzimmertüren bei Ärzten. Türen, die alles verschlucken, Gespräche unter vier Augen, Geheimnisse, Schmerzen. Die Zeit vergeht nicht, nur die Kerzen brennen hinunter. Wer hier einen Fehler macht, ist allein. Es ist niemand da, der ihn vergessen könnte. Dabei ist es doch vorbei. Aber wann kann man sagen: es ist vorbei.

Jeden Morgen stand ich an der Straße vor dem Haus, in dem sie wohnte; rief ihren Namen, bis sie sich am Fenster zeigte. Klingeln wollte ich nicht. Vielleicht hätte mir ihr Vater die Tür aufgemacht oder die Mutter. Ich war ihrem Vater schon einmal begegnet, nach der Schule auf dem Nachhauseweg. Er war eigentlich ein netter Mann. Vor allem seine Hände hatten mir gefallen – schöne breite Hände, kräftig, aber nicht gefährlich. Beim Sprechen waren sie pausenlos in Bewegung gewesen und manchmal war es mir so vorgekommen, als würden die Bewegungen überhaupt nicht zu dem passen, was er sagte. „Ah! Das ist ja wohl dein kleiner Verehrer, Edith“, hatte er gesagt. Das verstand ich nicht.
Wenn mich Edith gesehen hatte, dauerte es noch zehn Minuten bis sie unten war. Sie war immer zu spät und saß gerade beim Frühstück. Ihren Eltern war es nicht so wichtig, dass sie auf die Minute pünktlich in die Schule ging. Da war es bei mir daheim anders. Edith war etwas Besonderes.
Die anderen Mädchen in der Klasse hatten mich nie interessiert. Sie waren nicht auseinanderzuhalten. Sie hatten alle die gleichen Stimmen, das gleiche Gelächter. Alle trugen weiße Blusen mit halbem Arm, karierte oder geblümte Röcke und beigefarbene Wollstrumpfhosen. Ihre Haare waren lang, aber nicht zu lang. In der Mitte gescheitelt. Manche hatten Zöpfe, bei den anderen hielten rote oder gelbe Plastikspangen das Haar hinten und die Stirn frei. Morgens in der Schule sah man es ihnen an, dass gerade noch die Mütter vor ihnen gekniet hatten – die letzten übersehenen Haarsträhnen schnell hinter die Ohren geklemmt, den Rest Kakao aus den Mundwinkeln gewischt.
Edith hatte kurzes Haar. Kurzes, dunkles Haar, das in Fransen bis zu ihren Brauen reichte. Sie sah eigentlich wie ein Junge aus. Nur der Mund und die Augen machten sie zu einem Mädchen. Sie trug auch immer Hosen. Eine Art Trainingshosen mit einem Gummizug am Bund; viel zu weit, verwaschen und lappig. Es sah schlimm aus. Deshalb hatten die anderen auch über sie gelacht, als sie das erste Mal in die Klasse gekommen war. Mitten im Schuljahr, weil ihre Eltern zugezogen waren, von außerhalb. Die Lehrerin wollte uns Edith gerade vorstellen, da fing das Gelächter schon an. Hinten in der letzten Reihe bei Willi und Andreas. Ich sah nur Edith an, während das Gelächter von Reihe zu Reihe lief, lauter und lauter wurde. Es machte ihr nichts aus. Ich konnte es nicht fassen. Zu dem Gelächter kamen Rufe hinzu – die Hosen, die Hosen“ – man bog sich vor Lachen, zeigte mit Fingern. Sie blieb ungerührt. Sie hat sich nicht geschämt.
Ich wünschte mir, dass sie sich schämt. Ich wartete darauf, dass sie rot wird und ihr nicht anderes übrigbleibt, als auf den Fußboden zu starren. Warum sollte es ihr besser gehen als mir? Willi und Andreas hatten auch über mich gelacht. Nicht am ersten Tag, da waren sie selbst noch eingeschüchtert von der Schule, aber am zweiten schon und am dritten und in den Turnstunden. Sie sagten immer, man könne mich nicht von dem Medizinball unterscheiden. Dabei bliesen sie ihre Backen auf und taten so, als müßten sie mit den Händen ihre Bäuche tragen. Ich stand oft vor dem großen Frisierspiegel im Schlafzimmer meiner Eltern und schaute mir an, ob ich wirklich so aussehe. Richtig dick sei ich nicht, sagte meine Mutter. Und das meinte auch Vater.
Aber Willi und Andreas ließen mich erst in Ruhe, als ich der Dicke war. Seitdem ich in den Turnstunden vorgab, am Kletterseil nicht hochzukommen. Ich ließ mich unten hängen, baumelte hin und her, verdrehte die Augen. Das fanden alle lustig. Ich hätte es natürlich geschafft, ganz nach oben zu kommen, aber da hätten sie ja auch gelacht. So war es besser, viel besser. Der Dicke war sogar beinahe ein Liebling der Klasse geworden.

Ich hatte mir gewünscht, dass sich Edith schämt. Ich überlegte mir, dass vielleicht gerade mein Lachen noch fehlte. Wenn sogar der Dicke in der Klasse über sie lachte, dann müßte sie sich doch schämen. Ich schaute zu Willi und Andreas hinüber, die ihre kleinen roten Köpfe trotzig ins Genick gelegt hatten, um noch lauter lachen zu können und machte es ihnen nach. Hin und wieder trommelte ich zur Verstärkung mit meinen Fäusten auf den Tisch, was bisher noch keiner gemacht hatte – und ich bemerkte, dass es den anderen gefiel. Aber es nützte nichts. Edith hatte auch weiterhin ihre merkwürdigen Hosen an.
Sie blieb allein. In den Pausen war sie die einzige, die keinen zum Spielen fand. Die einzige, die beim Gummi-Twist ihre Mitspieler durch zwei Fahnenstangen ersetzen musste. Manchmal war ich nahe dran, zu ihr zu gehen. Mit mir hätte sie nur noch eine Stange gebraucht. Aber Willi und Andreas beobachteten mich. Auch wenn sie gar nicht in der Nähe waren. Sie waren überall. Morgens, wenn ich auf Edith wartete, behielt ich den Ranzen auf den Rücken, um schnell weglaufen zu können; um keine Zeit zu verlieren. Und auf dem Weg zur Schule ging ich ein paar Schritte vor ihr. Sie sollten es alle sehen können, dass ich Edith auch nicht leiden konnte. Vielleicht hätte ich meine Hand in ihre gelegt, wären wir nebeneinander gegangen. Ich hatte bei Edith immer Herzklopfen.

Willi und Andreas gegenüber machte ich Witze. Ich ließ im Unterricht kleine Briefe herumgehen, mit roten gemalten Herzen, worauf unsere Namen standen, Ediths und meiner. Ich machte mich darüber lustig, dass Edith rot wurde, wenn sie die Briefe bekam. Ja, da wurde sie rot!

Edith ist mir egal, Edith ist mir egal, sagte ich immer wieder und man glaubte es mir. Ich konnte es nicht begreifen, dass sie nicht böse auf mich war. Sie hätte mich stehen lassen sollen. Sie konnte doch allein sein, ihr machte es doch nichts aus. Was hat sie sich um mich gekümmert.

Schließlich traf sie sich auch nachmittags mit mir. Im Park bei der Kirche. Wir hätten auch zu ihr nach Hause gehen können. Mama hat nichts dagegen, sagte Edith, aber ich wollte nicht. Wir gingen auch nie zu mir. Der Park war sicher. Große dunkelgrüne Tannen standen dort und der Boden war weich von den abgefallenen Nadeln. Es wurde dort nie richtig hell. Das lag auch an der Kirche, die dem Park das ganze Licht wegnahm. Es machte den Eindruck, als seien die Tannen der Schatten der Kirche – so nah wirkte alles, so eng und verschlossen. Der einzige Platz, wo ich nicht an Willi und Andreas zu denken brauchte. Hier würden sie nicht auftauchen.
Aber ich habe trotzdem an sie gedacht. Und irgendwann habe ich es Willi gesagt. Ich habe ihm gesagt, dass ich nachmittags mit Edith bei der Kirche bin und er solle Andreas mitbringen, es gäbe sicher was zu lachen.

An jenem Nachmittag saßen Edith und ich hinten in der letzten Reihe im Kirchenschiff. Wir warteten bis das Sonnenlicht durch das große Altarfenster fiel. Unzählige bunte Glasstücke, die im einfallenden Licht funkeln und glitzern würden. Grün, Gelb, Rot und viele Farben, die keine Namen haben. Edith liebte dieses Fenster und diese Zeit.

Als ich hörte wie hinter uns Schritte hallten, nahm ich Ediths Hand. Es war das erste Mal.

Alexander Haeusser

Alexander Haeusser

Nachdem er an der Universität Tübingen sein erstes Seminar zum kreativen Schreiben bei Walter Jens besucht hatte, war es um Alexander Häusser geschehen: Autor wollte er sein, und nichts anderes! Dieses Ziel verfolgte er mit ganzem Einsatz und veröffentlichte 1994 seinen ersten Roman. Zudem ist er heute als Drehbuchautor tätig. Die Themen, die er behandelt, müssen naheliegend sein. Ausdauernd widmet er sich der Frage, wie große Geschichte sich auf die „kleine Geschichte“ des Einzelnen auswirkt und warum Menschen auf eine bestimmte Art und Weise handeln. Neben dem Schreiben genießt er zudem kabarettistische Auftritte auf der Bühne und legt Wert auf gute Unterhaltung.
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