Der Winterelf

Prolog
„Du hast drei Tage. Am Ende des dritten Tages, um Mitternacht, werden wir das Tor wieder für dich öffnen. Bist du dann nicht an dem Ort, an dem du gelandet bist, dann gibt es für dich kein Zurück mehr. Hast du das verstanden?“
„Ich habe verstanden.“
„Gut, dann geh nun. Wir bereiten das Ritual zur Öffnung des Tores vor. Wir müssen wissen wie es mittlerweile in der Menschenwelt aussieht. Sei in einer Stunde aufbruchbereit in der großen Halle!“

Tag 1
Agilof rieb sich die Arme. Schnee knirschte unter seinen Lederstiefeln.
Ob die Ältesten wohl gewusst hatten, dass es in der Menschenwelt so kalt war, wie in ihrer Welt im hohen Norden, wo die Eiselfen lebten? Es musste Winter sein. Winter. Davon hatte ihm seine Großmutter oft erzählt. Sie war ganz begeistert davon gewesen, wie die Welt unter einer weißen Decke aus Schnee verschwand.
Agilof konnte dieser Wettererscheinung nicht viel abgewinnen. Sie war nass und kalt. Und er hatte keine Felle bei sich, um sich warm zu halten. Die Kälte kroch in seine Knochen. Er zog seinen Umhang enger um die schmalen Schultern, aber es half nichts. Missmutig stapfte er weiter. Er war, gleich nachdem er in diesem Wald angekommen war, auf einen Baum gestiegen, um sich zu orientieren. Viel hatte er nicht sehen können, aber er hatte einen hohen Turm ausmachen können. Diesen sah er nun zwischen den Bäumen gen Himmel wachsen.
Der Turm musste über 200 Meter hoch sein. Seine Wände waren glatt und weiß. Ein Stück über der Hälfte befand sich scheinbar ein großer runder Raum, der Wände aus Glas besaß und einen viel größeren Durchmesser hatte als der Turm selbst. Obwohl Agilof als Elf auch im Dunkeln sehr gut sehen konnte, konnte er nicht sagen, was sich auf dieser Plattform befand. Es sah aus wie eine wilde Ansammlung von Stäben und großen Tellern aus Metall.

Nachdem Agilof den Fuß des Turmes erreicht hatte, umrundete er diesen vorsichtig und blieb schließlich an einer Tür stehen. Unschlüssig was er nun tun sollte, sah er an dem Turm entlang nach oben. Die Ältesten hatten ihm viele Ratschläge mit auf den Weg gegeben. Keiner davon befasste sich mit ominösen Magiertürmen. Denn was sonst, als die Behausung eines Magiers, sollte dies hier sein, mit diesen absonderlichen Gerätschaften auf dem Dach. Nun gut, Agilof wusste was sein Auftrag war, und er sollte dafür auch mit Menschen in Kontakt treten. Da konnte er auch gleich hier mit diesem Magier beginnen. Er hob die Hand und hämmerte mehrmals mit der Faust gegen die Tür. Außer einem dumpfen Nachhall seiner Schläge war im Inneren nichts zu hören. Agilof klopfte erneut. Als sich wieder nichts rührte, ging er vor der Tür in die Hocke und legte eine Hand über das Schloss. Mit geschlossenen Augen murmelte er konzentriert einige Worte in der alten Sprache der Elfen. Als er ein leises Klicken vernahm, drückte er die Tür vorsichtig auf. Lächelnd erhob er sich wieder, legte die Hand auf den Knauf seines Schwertes und betrat leise den Turm. Er schlich die Stufen empor bis er schließlich den großen Raum mit den gläsernen Wänden erreicht hatte. Von einem Magier – oder sonst einem Bewohner – hatte er keine Spur gefunden. Dieser Raum sah auch nicht so aus, als wohne hier jemand. Agilof entspannte sich, ließ die Hand vom Schwert gleiten und trat schweigend an den Rand des Raumes. Ungläubig sah er hinaus in die anbrechende Dämmerung. Noch immer hatte die Nacht ihr schwarzes Gewand über die Landschaft gelegt, aber in einiger Entfernung, vielleicht ein oder zwei Wegstunden entfernt, erhellten tausende kleine Lichter eine Stadt.
Ehrfürchtig ließ Agilof den Blick über die Landschaft schweifen. Ungläubig schüttelte er den Kopf und ließ ein kurzes, verzweifeltes Lachen hören. Er hatte sich für diese Aufgabe gemeldet, obwohl er wusste, dass sie sehr gefährlich und schwer werden konnte, also würde er sein Bestes geben. Allerdings wusste er nicht so recht wo er überhaupt anfangen sollte. Agilof seufzte und kramte kurz in seiner ledernen Tasche, die er, über die linke Schulter gehängt, bei sich trug. Er zog ein kleines in Leder gebundenes Buch sowie einen Kohlestift hervor und schrieb etwas hinein.

Erster Tag, Vor der Dämmerung
Magierturm ohne Bewohner erreicht. Von dort Blick auf eine völlig andere, dennoch nicht hässliche Landschaft. Sehr große Stadt an zwei Flüssen. Werde mich nun zur Stadt begeben.

Nachdem Agilof das Buch und den Stift wieder sicher in seiner Tasche verstaut hatte, blickte er noch einmal aus dem Fenster. Am Horizont zeigte sich ein erster schmaler Streifen einer blutroten Sonne.

Nach etwa einer halben Stunde lichtete sich der Wald und gab den Blick auf eine breite, steinerne Straße frei, auf die mit weißer Farbe Linien aufgemalt waren. Vorsichtig verließ Agilof den schützenden Schatten der Bäume, erklomm einen der großen Schneehaufen, die an den Rändern der Straße aufgetürmt lagen und blickte nach links und rechts an der Straße entlang. Nicht eine Menschenseele, geschweige denn ein Fuhrwerk, war zu sehen. Schlitternd rutschte er den Schneehaufen hinab und betrat prüfend die Straße. Sie sah aus, als sei sie aus einem Stück Stein gehauen oder aber gegossen – aber das war absurd. Allerdings musste der Elf in einem sehr reichen Gebiet gelandet sein, wenn die Menschen es sich leisten konnten, solch befestigte Straßen zu bauen. Plötzlich bemerkte Agilof zwei helle Lichter, die um eine Kurve und rasend schnell auf ihn zuschossen. Dazu erhob sich ein brummendes und knatterndes Getöse, das in den Ohren schmerzte. Der Elf schirmte die Augen etwas mit der Hand ab und starrte einem metallenen Monster entgegen, das in der Höhe nicht einmal so groß war wie er selbst. Blitzschnell sauste seine Hand zu seinem Schwert, aber als das Monstrum einen lauten Ton ausstieß, der entfernt an ein Hornsignal erinnerte, besann sich der Elf eines Besseren und warf sich im letzten Moment seitlich von der Straße fort in den Schneeberg. Genauso schnell wie es gekommen war, verschwand das Ungetüm wieder um die nächste Kurve. Noch während Agilof im Schnee lag und die Feuchtigkeit langsam in seine Kleidung kroch, preschten Dutzende weitere dieser Monster in allen erdenklichen Farben, Größen und Formen vorbei. Vor Kälte und Schreck am ganzen Leib zitternd, erhob sich der Elf schließlich und zog sich wieder in den Schutz des Waldes zurück. Außer Sichtweite zur Straße hockte er sich nieder und machte erneut Notizen in seinem Buch.

Erster Tag, Früher Morgen
Wurde von großem Metallmonster angegriffen. Beachtete mich nicht weiter, nachdem ich auswich. Artgenossen hatten genauso wenig Interesse an mir. Werde nun nicht der Straße folgen, sondern mich nach Osten wenden. Am Fluss entlang werde ich in die Stadt eindringen.

So erreichte Agilof schließlich am späten Vormittag die Stelle, an der die zwei Flüsse zusammentrafen. Zu seiner Verwunderung hatte er keinerlei Wehranlagen oder Stadtmauern gesehen und war völlig unbehelligt bis hierher gekommen. Allerdings hatte er noch viele weitere dieser metallenen Monster gesehen, aber diese hatten entweder am Straßenrand geschlafen oder ihn nicht weiter beachtet. Erst als er ganz sicher gewesen war, dass sie keine unmittelbare Gefahr darstellten, hatte er sich an ihnen vorbei getraut. Er war auch einigen Menschen begegnet, von denen ihn aber keiner aufgehalten hatte, gleichwohl sie ihn mit verwirrten Blicken gemustert hatten. Einer hatte ihm auch hinterher gerufen, dass ja wohl noch nicht Karneval sei, da Agilof mit dieser Aussage jedoch nichts anzufangen gewusst hatte, hatte er sie ignoriert.
Nun stand er frierend und gedankenverloren genau an der Spitze des hier angelegten Platzes und beobachtete ein Schiff. Wenn er auch weder Segel noch Ruder sehen konnte, so musste es doch ein Schiff sein, das, beladen mit riesigen Kisten aus Metall, schwerfällig von dem einen Fluss in den anderen abbog. Mit jedem Atemzug schien diese Welt ihm fremder und unheimlicher zu werden. Somit entschloss er sich, entgegen der Ratschläge der Ältesten, sich als erstes der Kirche zu nähern. Zwar war sie es gewesen, die mit dem Beginn der Hexenverfolgung und der Entstehung der Inquisition die Trennung der Welten heraufbeschworen hatte, aber diese Welt war so anders, als sie in den Chroniken seines Volkes beschrieben worden war. Er musste etwas finden, dass er wenigstens aus den Büchern kannte. So straffte Agilof die Schultern und machte auf dem Absatz kehrt. Mit wehendem Umhang und tief ins Gesicht gezogener Kapuze schritt er auf ein Gebäude zu, welches ihm, kurz bevor er den Platz an den zwei Flüssen erreicht hatte, ins Auge gefallen war.
Vor der Kirche atmete Agilof noch einmal tief durch, schob sich die Kapuze vom Kopf und stieß das Eingangsportal auf. Als es krachend gegen die Wand schlug, hatte der Elf bereits das Schwert gezogen und durchmaß den Mittelgang der Kirche nun mit langen Schritten.
Eine ältere, dennoch resolut wirkende Frau war zunächst wütend aufgefahren und hatte etwas sagen wollen, doch nun stand sie schweigend da. Ängstlich hing ihr Blick an der blitzenden Klinge in Agilofs Hand, die auf sie gerichtet war.
„Ich verlange umgehend einen Priester zu sprechen!“, knurrte der Elf und blickte finster auf die Frau hinab. Diese nickte nur mit Tränen in den Augen.
„Nun gut. Gehe und hole einen. Ich warte hier.“
Der Elf schob sein Schwert zurück in die Scheide und trat einen Schritt zur Seite. Verwirrt blickte die Frau zu ihm auf, um dann so schnell sie nur konnte aus der Kirche zu hasten. Seufzend ließ Agilof sich auf einer der Bänke nieder.

Pfarrer Christoph Jung war für gewöhnlich ein Mann, der äußerst durchdacht handelte. Dass er sich dennoch nach dem wirren Anruf seiner Küsterin aus Sankt Kastor direkt auf den Weg zur Kirche gemacht hatte, lag daran, dass er ein herzensguter Mensch war. Auch wenn die Vorstellung, dass Frau Bach von einem Mann mit einem Schwert bedroht werden sollte, vollkommen abwegig war, ihre Angst war deutlich hörbar gewesen. Den Tränen nahe hatte sie den Pfarrer am Telefon angefleht, sofort zur Kastorkirche zu kommen und am besten gleich die Polizei mitzubringen. Davon allerdings hatte der Mann mittleren Alters vorerst abgesehen. Er wollte sich zunächst selbst ein Bild von der Situation vor Ort machen – sicherlich gab es eine ganz einfache Erklärung für den Vorfall.
„Herr Pastor! Endlich sind Sie da!“, schluchzte Frau Bach, als Jung aus seinem Wagen stieg. „Kommt die Polizei auch gleich?“
„Na na, Frau Bach. Wir wollen die Polizei doch nicht mit einer solchen Lappalie belästigen“, entgegnete der Pfarrer und ließ ein mitfühlendes Lächeln sehen.
„Das ich mit einem … einem Schwert bedroht werde, nennen Sie Lappalie?“, empörte sich die Küsterin.
„Sind Sie denn sicher, dass der Mann Sie mit einem Schwert bedroht hat? Und Sie haben nicht vielleicht wieder vom Messwein gekostet?“
Unter dem strengen Blick des Pfarrers fühlte die ältere Dame sich sichtlich unwohl.
„Ich weiß, ich hätte nicht davon trinken dürfen, aber, bei Gott, ich habe wirklich nichts getrunken! Ich habe Ihnen versprochen, es nie wieder zu tun!“
„Schon gut, schon gut. Passen Sie auf Frau Bach. Sie gehen jetzt einfach nach Hause und ich kümmere mich um die Sache hier, ja?“, meinte Jung resigniert.
Er wusste, dass Frau Bach dem Alkohol etwas mehr zugetan war, als es gut für sie wäre, aber dennoch hatte sie ihre Arbeiten als Küsterin bisher immer zuverlässig und pflichtbewusst erfüllt.
„Wenn Sie meinen, aber bitte Herr Pastor, seien Sie vorsichtig! Der Kerl da drin ist gefährlich!“, beschwor ihn die alte Dame erneut und ließ dann die Schultern hängen.
„Versprochen!“ Jung schenkte ihr noch ein aufrichtiges, gütiges Lächeln und wandte sich dann der Kirche zu. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass an dieser Geschichte etwas dran sein sollte, aber er wollte gar nicht daran denken, was es für Frau Bach bedeuten würde, sollte er Recht behalten. ‚Arme Frau Bach. Ich sollte Sie vielleicht öfter besuchen …‘, dachte der Pastor und öffnete die Tür zur Kirche.

Während er langsam durch den Gang schritt, musterte er aufmerksam den Mann, der vorne an der Krippe stand und ihm den Rücken zugewandt hatte. Mit einigem Abstand blieb er stehen und fragte laut: „Sie wollten einen Pastor sprechen?“
„So ist es, Priester!“, bestätigte der Mann, drehte sich herum und kam ihm bis zur ersten Bankreihe entgegen.
Jung schluckte schwer, als er sah, dass seine Hand dabei auf dem Griff eines Schwertes ruhte.
Agilof folgte dem Blick des Priesters und lächelte. „Ihr habt nichts zu befürchten, wenn Ihr mir freundlich gesonnen seid, Priester. Ich habe ein paar Fragen an euch, doch zunächst nennt mir Euren Namen!“
Jung wunderte sich leicht über die Sprechweise des Fremden, aber noch mehr wunderte er sich über dessen gesamte Erscheinung. Er sah aus, als sei er geradewegs aus einem Herr der Ringe-Film gestolpert. Vielleicht hätte er doch die Polizei rufen sollen. Aber wer hätte denn ahnen können, dass tatsächlich ein Verrückter mit Schwert in der Kirche auf ihn wartet?
„Ich heiße Christoph Jung und wie heißen Sie?“, entgegnete er schließlich und bemühte sich um eine feste Stimme, die ihm sogar recht gut gelang.
„Ich bin Agilof von den südlichen Waldelfen. Ich bin hier, um mir ein Bild von Eurer Welt heute zu machen. So sage mir Priester: Seid Ihr ein Inquisitor?“
Verwirrt zog der Pastor eine Augenbraue hoch. Dieser Mann schien tatsächlich verrückt zu sein und dennoch wirkte es überhaupt nicht so, als trage er ein Kostüm. Erst jetzt bemerkte er, dass die Kleidung seines Gegenübers äußerst unpassend für das Wetter draußen wirkte. Unschlüssig schob Jung die Hände in die Taschen seines schwarzen Wintermantels.
„Ehrlich gesagt weiß ich nicht so recht, was Sie von mir erwarten. Ich habe keine Ahnung von diesen ganzen Fantasygeschichten …“
Der Mann, der sich Agilof nannte schien etwas von seiner Entschlossenheit zu verlieren. Dennoch fragte er erneut: „Seid Ihr ein Inquisitor?“
Jung seufzte und antwortete: „Nein, bin ich natürlich nicht. Die Inquisition, die Sie wohl meinen, gibt es seit hunderten von Jahren nicht mehr.“
Einen Moment ruhte die Hand Agilofs noch unschlüssig auf dessen Schwert, bevor er sie sinken ließ und meinte: „Ich glaube Euch.“
„Das … ähm … freut mich, aber“, setzte der Priester an, brach aber dann ab und zuckte hilflos mit den Schultern. „Kann ich auch dir glauben? Du musst zugeben, dass es reichlich verrückt klingt, wenn du sagst, du seist ein Elf und heißt Agilof. Dazu noch dein Aufzug …“
Jung hatte sich bewusst entschieden, zum Du zu wechseln. Er wollte dem Mann Vertrauen und Nähe suggerieren. Schaden konnte es gewiss nicht.
Der Elf blickte Jung mit einiger Verwirrung an. „Wieso sollte es verrückt klingen, Euch zu sagen, wer ich bin?“
„Na, weil es in Wirklichkeit keine Elfen gibt. Das sind doch alles nur Geschichten.“
Erkenntnis schlich sich auf das Gesicht des Elfen. Ungläubig ließ er sich auf die Bank sinken. Als er so in sich zusammengesunken auf der Bank hockte und schweigend vor sich hin starrte, bemerkte Jung plötzlich, dass der Mann am ganzen Körper vor Kälte zitterte. Unschlüssig zog der Priester die Hand aus seiner Tasche, fuhr sich über das kurze, dunkle, stellenweise aber schon grau durchsetzte Haar und ließ seine Hand kurz nachdenklich auf seinem Hinterkopf ruhen, bevor er sich schließlich einen Ruck gab und auf den Mann zuging. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter und setzte sich dann neben ihn. Kurz blickte der Elf zu dem Priester auf.
Erschrocken stellte Jung fest, dass pure Hilflosigkeit aus seinem Blick sprach. Er seufzte und meinte: „Kopf hoch! Wird sich schon alles aufklären. Wie wär’s: Du kommst jetzt erstmal mit zu mir. Da kannst du heiß duschen und dir was Trockenes anziehen. Danach sehen wir weiter.“
Überrascht hob Agilof den Kopf und sah dem Priester ins Gesicht. Dieser schenkte ihm ein freundliches Lächeln. Jung konnte sich einfach nicht vorstellen, dass dieser Mann tatsächlich gefährlich war. Er wirkte vielmehr so, als hätte er Angst. Sicher hatte er sich nicht anders zu helfen gewusst, als Frau Bach zu bedrohen. Es war ja nichts weiter passiert.
‚Vielleicht bin ich auch einfach viel zu gutmütig. Aber irgendetwas an diesem Mann sagt mir einfach, dass er nicht verrückt ist – selbst wenn er sich für einen Elfen hält. Maria im Himmel, werde ich langsam verrückt? Bin ich vielleicht überarbeitet?‘, grübelte Jung.
„Meint Ihr das ernst, Priester? Ihr ladet mich in Euer Haus ein, obwohl ich diese Frau bedroht habe, damit Ihr hierher kommt?“, fragte Agilof misstrauisch und riss Jung aus seinen Gedanken.
„Ich kann dich ja schlecht weiter frieren lassen. Aber hör bitte auf mich Priester zu nennen. Ich habe dir meinen Namen ja nicht zum Spaß verraten. Ich bin Herr Jung oder meinetwegen auch Christoph, wenn dir das eher zusagt, Agilof“, brummte Jung und erhob sich. „Na los. Komm schon. Wenn ich dich weiter so zittern sehe, fange ich auch noch an zu frieren.“
Um seine Aussage zu verdeutlichen, schob der Pastor die Hände wieder in die Manteltaschen und zog den Kopf zwischen die Schultern. Agilof war sich zwar nicht sicher, ob dies ein Trick sein sollte, aber er hatte schließlich gesagt er glaube dem Priester und das war die Wahrheit gewesen. Also stand er auf und sah den Menschen an.
„Eine Frage habe ich aber noch an Euch … Christoph. Wieso wird dies arme Kind dem Vieh zum Fraß vorgeworfen?“, entgegnete der Elf schließlich und nickte zur Krippe hinüber.
Christoph Jung atmete überrascht ein und wollte schon antworten, lächelte dann aber nur und meinte: „Das erkläre ich dir später.“
Damit ging er voran und verließ die Kirche dicht gefolgt von dem Elfen.

Es kostete den Priester fast eine halbe Stunde mühsamster Überzeugungsarbeit, bis Agilof bereit war sich in sein Auto zu setzen. Der Elf warf ihm vor, er habe geahnt, dass die Einladung nur eine Falle gewesen war und dass Jung ihn an sein Monster verfüttern wolle.
Als sie beide schließlich im Wagen saßen und Jung den Zündschlüssel drehte, stemmte der Elf sich mit aller Kraft in den Sitz und zog reflexartig das Schwert, welches er zwar vom Gürtel genommen aber nicht aus der Hand gegeben hatte, ein Stück aus der Scheide.

Eine Viertelstunde, eine Beinahe-Panikattacke und eine beherzte Ohrfeige später, schloss Christoph Jung schließlich die Tür zu seiner Wohnung auf und bat den Elfen herein. Noch während der Elf sich sprachlos umblickte, nahm ihm der Pastor die Tasche und nach einer kurzen Diskussion auch das Schwert ab und legte beides auf eine Kommode im Flur. Auch den Umhang nahm er dem Elfen ab und hängte ihn zum Trocknen im Wohnzimmer über einen Wäscheständer. Die Wohnung umfasste eine kleine, gemütliche Küche, ein kleines Badezimmer, ein Arbeitszimmer, ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und den Flur.
„Euer Heim ist wahrlich eindrucksvoll, Christoph. Die Kirche und die Ihren scheinen also noch immer sehr einflussreich und vermögend zu sein?!“
„Also ich bin ganz sicher nicht vermögend oder sonderlich einflussreich, aber danke“, bemerkte der Priester, nicht sicher, ob Agilofs Bemerkung eine Feststellung oder eine Frage gewesen war. „Jetzt mach aber, dass du unter die Dusche kommst. Das Bad ist da vorne. Ich werde dir noch eben ein paar Sachen zum Anziehen und ein Handtuch geben. Moment.“
Der Mann verschwand kurz im Schlafzimmer und kehrte mit den erwähnten Dingen zurück. Er drückte sie dem Elf in die Hand und schob ihn sachte zum Bad. Völlig verwirrt blickte sich der Elf in dem weißgefliesten Raum um.
„Ich verstehe den Sinn dieser Räumlichkeit nicht.“
Jung legte die Stirn in Falten, erklärte dem Elf dann aber geduldig, welchen Zweck Toilette, Waschbecken und Dusche erfüllten und wie sie zu benutzen waren. Daraufhin ließ er Agilof dann alleine und schloss die Tür hinter sich.

Seufzend ließ der Pastor sich an seinem Schreibtisch nieder und legte sein Gesicht in seine Hände. Nachdenklich massierte er sich die Stirn. Auf was hatte er sich da nur eingelassen? Er hörte wie die Dusche angestellt wurde und seufzte erneut. Schließlich erhob er sich und ging in die Küche. Er bereitete sich eine Tasse Tee zu und öffnete dann den Kühlschrank. Prüfend blickte er hinein und fluchte leise. Er hatte vergessen einzukaufen. Er würde wohl später noch mal los müssen. Auf keinen Fall würde er es sich antun, morgen Vormittag im Gewimmel des 24. einen Laden zu betreten. Davon abgesehen, hatte er morgen sowieso genug zu tun.
Mit einer Tasse Tee in der Hand kehrte der Priester in sein Arbeitszimmer zurück und nahm sein Handy zur Hand. Er wählte die Nummer eines alten Schulfreundes, der heute Kommissar bei der Koblenzer Polizei war.
„Alex? Ich bin es Christoph. Ich hab da ein Problem.“
„Christoph! Lange nichts gehört. Schieß los, aber fass dich kurz. Ich hab leider grad ein bisschen Stress!“
„Wer hat den nicht zu Weihnachten …“, seufzte Jung, riss sich aber dann zusammen und berichtete kurz was vorgefallen war. Er beschrieb Agilof als verwirrt, aber harmlos. Von dem Schwert sagte er jedoch nichts.
„Hmm. Pass auf, wenn er nichts über seinen echten Namen verrät und auch keine Papiere dabei hat, kann ich da eh‘ erstmal nicht viel machen. Solange er nichts verbrochen hat und keine Gefahr für sich oder andere Menschen darstellt, kann ich ihn ja nicht einsperren. Ich habe wirklich gerade genug zu tun. Außerdem kam grad eine Meldung rein, dass diese Nacht im Fernmeldeturm eingebrochen wurde. Ich muss jetzt da hochfahren …“
„Ist gut. Er kann erstmal bei mir bleiben. Ich werde ein Auge auf ihn haben, aber ich wollte den Vorfall eben gerne melden.“
„Das war ja auch richtig. Wenn du auf ihn aufpassen könntest, wäre das wirklich super. Ich melde mich in den nächsten Tagen bei dir, wenn Weihnachten rum ist! Bis dann!“
Einen Moment lang lauschte der Priester noch dem monotonen Tut Tut Tut in der Leitung, bevor er auflegte und nachdenklich einen Schluck Tee nahm.

Als der Elf schließlich, in ein Hemd und eine Hose des Priesters gehüllt, das Badezimmer verließ, erhob sich Jung vom Schreibtisch und sah nach Agilof, welcher sich interessiert in der Wohnung umsah. Das meiste schien ihn zu verwirren, und erntete lediglich einen misstrauischen Blick seitens des Elfen. Vor dem großen Bücherregal im Wohnzimmer blieb Agilof allerdings stehen. Es sah so aus, als beruhigte der Anblick der Bücher den Mann.
Als Agilof bemerkte, dass der Priester ihn beobachtete, meinte er, ohne den Blick von den Büchern zu nehmen: „Ihr sagt, Ihr seid kein vermögender Mann und dennoch habt Ihr so viele Bücher.“
„Ich bin auch nicht vermögend. Aber jetzt zu etwas anderem. Setz dich erstmal.“ Der Pastor nahm in einem gemütlichen Sessel Platz und wartete auf eine Reaktion des Elfen. Dieser blieb noch einen Moment vor den Büchern stehen und setzte sich dann auf das Sofa.
„Du sagtest in der Kirche, du hättest ein paar Fragen an mich. Gefragt hast du mich aber nur, ob ich ein Inquisitor sei. Das Alles ist für mich ein wenig … naja … verwirrend und bevor ich dir weitere Fragen beantworte, oder dich weiter hier behalte, möchte ich die ein oder andere Antwort haben“, erklärte der Priester schließlich, schützte die Ellbogen auf die Armlehnen und verschränkte die Hände ineinander.
Agilof lachte kurz auf. „Ihr glaubt, für Euch ist das verwirrend? Aber gut, ich verstehe Eure Bitte. So fragt, Prie… Christoph.“
„Gut. Also du sagst, du seist ein Elf. Glaubst du das wirklich? Und wenn ja, was tust du dann hier? Ich dachte Elfen leben in Wäldern oder so …“
„Ich glaube nicht, dass ich ein Elf bin, ich weiß es. Ich sagte doch bereits: Ich bin hier, um mir ein Bild von Eurer Welt heute zu machen. Und ja, wir bevorzugen die Nähe des Waldes.“
„Was soll das denn bitte heißen? Ein Bild von unserer Welt heute machen? Wann hast du sie denn zuletzt gesehen?“
„Ich selber habe sie noch nie gesehen. Haltet Ihr mich für so alt? Lediglich ein paar der Ältesten waren bei der Trennung der Welten zugegen.“
„Die Trennung der Welten?!“
„Sicher. Ihr müsst doch wissen, dass Tore zur Anderswelt, wie Ihr meine Heimat nennt, lange Zeit offen gewesen sind. Doch als die Kirche mit der systematischen Verfolgung und Hinrichtung der Hexen und der Ausrottung der Magie begann, sahen meine Vorfahren sich gezwungen die Übergänge zwischen den Welten zu versiegeln. Von Eurer Seite aus ist seitdem kein Tor mehr zu öffnen. Lehrte man Euch dies nicht?“
„Ähm … nein. Das hat mich niemand gelehrt. Ich weiß recht viel über die Inquisition und das Mittelalter. Auch die Geschichte davor und danach ist mir zum größten Teil bekannt, einfach weil ich mich für Geschichte interessiere, aber von einer Anderswelt ist in den Geschichtsbüchern keine Rede. Dafür müsste ich schon Märchen, Sagen und Legenden zu Rate ziehen.“
„So haben mein Volk und alle anderen Völker meiner Welt nicht Ihren Weg in Eure Chroniken gefunden?! Eure Inquisition muss wahrlich gründlich gearbeitet haben. Aber seht, Priester, hier sitze ich vor Euch: Sehe ich vielleicht wie eine Sagengestalt aus?“
Jung schwieg nachdenklich. Dass das einzige Bild, das der Elf von der Welt hatte, ein mittelalterliches war, war genaugenommen eine äußerst plausible Erklärung für sein Verhalten. Allerdings konnte der Priester seinen Worten einfach keinen Glauben schenken. Da er aber einsah, dass jede Diskussion darüber ins Leere führen würde, ergab er sich seinem Schicksal und brummte: „Gut, sagen wir mal, ich glaube dir. Was heißt dann, du willst dir ein Bild von unserer Welt machen?“
„Nun ja. Wie gesagt, wir haben uns vor hunderten von Jahren abgegrenzt. Aber nur um uns selbst und unsere Welt zu schützen. Wir würden die Tore gerne wieder öffnen. Dazu müssen wir jedoch wissen, wie die Lage hier ist. Ich glaube Euch, wenn Ihr sagt, dass es die Inquisition nicht mehr gibt. Dies ist einer der Punkte, die es in Erfahrung zu bringen galt. Dies ist meine Mission, die mir von den Ältesten übertragen wurde.“
„Das heißt also, du sollst eine Weile hier leben und forschen, ja?“
„Eine Weile ist zu viel gesagt. Bereits übermorgen werden die Ältesten wieder das Tor für mich öffnen. Jeder Tag mehr hier vergrößere die Gefahr, der ich mich aussetzen würde, sagten die Ältesten.“
„Und seit wann bist du hier?“
„Diese Nacht habe ich das Tor durchquert.“
„Du sollst in nur drei Tagen rund 700 Jahre Geschichte aufholen?“
„Eure Geschichte ist mir egal, Christoph. Mich interessiert nur, wie die Welt heute ist, ob wir uns wieder annähern können oder nicht. Alles andere kann man später lernen.“
„Gut, dann akzeptiere ich das jetzt einfach mal so und frage nicht weiter. Wie kann ich dir also dabei helfen?“
„Eure Welt ist so anders, als alles, was ich über sie gelesen habe oder was mir meine Großmutter darüber erzählt hat. Nimm nur mal diese metallenen Monster, die du Auto nennst. Um die Wahrheit zu sagen: Eure Welt macht mir Angst. Ich brauche jemanden, der sich hier auskennt.“
„Dann habe ich noch eine letzte Frage für den Moment: Wieso hast du ausgerechnet einen Priester gesucht, wenn die Kirche der Grund für die Trennung der Welten war?“
„Die Kirche war das Einzige, das mir vertraut erschien. Nichts in dieser Welt ist so, wie ich es während meiner Vorbereitung gelernt habe – nur das Kirchengebäude war mir bekannt. Also musste ich entgegen aller Ratschläge und Vorsicht den einzigen Ort aufsuchen, der mir irgendeinen Orientierungspunkt bieten konnte.“
„Das verstehe ich. Gut. Jetzt muss ich aber erst nochmal in die Stadt. Leider habe ich es versäumt einzukaufen. Ich möchte, dass du mich begleitest. Zum einen möchte ich dich ehrlich gesagt nicht allein in meiner Wohnung lassen und zum anderen, möchtest du dir ja sowieso ein Bild von unserer Welt machen. Ich schreibe noch eben einen Einkaufszettel und suche dir eine Jacke heraus.“
Damit erhob sich der Pastor und verließ den Raum. Agilof holte sein Notizbuch hervor und machte eine weitere Eintragung.

Erster Tag, Nachmittag
Entgegen aller Ratschläge habe ich einen Priester aufgesucht. Christoph Jung. Diese Welt ist einfach zu … anders. Ich glaube seiner Aussage, dass es keine Inquisition mehr gibt. Er hat mich in sein Heim eingeladen, mir trockene Kleidung gegeben und ist bereit mir zu helfen.

Jung und sein Begleiter machten sich schließlich auf den Weg in die Stadt. Nach einer kurzen Diskussion war Agilof auch bereit gewesen, sein Schwert in der Wohnung zu lassen. Zwar war der Elf nicht sonderlich erfreut, dass er wieder in das Auto steigen musste, aber die Fahrt verlief schon weit ruhiger, als noch die erste am Mittag.
In der Stadt hatte ein einziges Gedränge geherrscht. Scheinbar war Jung nicht der Einzige gewesen, der gedacht hatte heute noch dem Trubel entkommen zu können. Zunächst hatte Agilof sich im Löhr-Center über all die Menschen, schwer bepackt mit Einkaufstüten, gewundert. Für so manchen Stoß und Rempler hatte er einen bösen Blick verteilt. Jung hatte sich schweigend und hin und wieder Kopf schüttelnd neben ihm durch die Massen geschoben. Dann aber hatten sie plötzlich vor dem künstlichen, über drei Stockwerke reichenden Weihnachtsbaum in der Mitte des Einkaufscenters gestanden. Mit großen leuchtenden Augen hatte der Elf an dem Baum empor geblickt und war in ehrfürchtiges Schweigen verfallen. Der Pastor hatte nur gelächelt. So war es auch seinem kleinen Neffen beim letzten Besuch ergangen.
Der Elf war gar nicht mehr aus dem Staunen herausgekommen. In Jungs Stamm-Supermarkt war der Elf fassungslos und mit großen Augen durch die Gänge geschlichen und hatte die Regale gemustert.

Nachdem die beiden schließlich aus der Stadt zurückgewesen waren, hatte der Elf seine Eindrücke sogleich wieder in seinem Notizbuch notiert, während der Priester den Herd angeworfen und für ein einfaches, aber köstliches Abendessen gesorgt hatte.
Nach dem Essen gähnte Jung herzhaft und streckte sich. Dann warf er einen Blick auf die Uhr. „Oh, schon kurz vor acht? Komm, das wird dich auch interessieren“, stellte er fest, erhob sich und sah Agilof erwartungsvoll an. Als dieser sich etwas irritiert ebenfalls erhob, ging der Priester voraus ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Der Elf zuckte leicht zusammen, als plötzlich eine Frau auf dem Bildschirm auftauchte.
„Was zum …? Wie kommt die Frau in diesen Kasten in Eurem Heim?“, fragte er mit leichtem Entsetzen.
Der Angesprochene reagierte schnell und bevor Agilof zu einem Rettungsversuch ansetzen würde, meinte er nur: „Sie ist nicht wirklich darin. Es ist sowas wie … eine Kristallkugel. Die kennst du doch sicher, oder?“ Den leichten Spott konnte er nicht ganz aus seiner Stimme verbannen. Er war müde und heute war einfach viel Seltsames passiert. Der Elf, der den Spott nicht bemerkt hatte, erinnerte sich, dass die Menschen im Mittelalter geglaubt hatten, Hexen könnten die Zukunft in Kristallen lesen. Er nickte also und setzte sich zu seinem Gastgeber aufs Sofa.
„Dieser Kasten zeigt Euch also die Zukunft?“
„Nein, die Gegenwart. Jetzt kommen die Nachrichten. Also pass gut auf, du wolltest doch wissen, was im Moment so in der Welt los ist.“
Schweigend verfolgte der Elf die Nachrichten, die scheinbar allesamt entweder schockierend oder aber kaum von Belang waren.
Im Anschluss daran erhob sich Jung wieder. „Ich muss noch etwas arbeiten. Meine Predigt für morgen ist noch nicht fertig. Der heutige Tag verlief aber nicht so, wie ich ihn geplant hatte.“
„Verzeiht. Ich werde Euch in Ruhe Euren Aufgaben nachgehen lassen. Darf ich mich wohl in dieser Zeit noch etwas mit diesem Zauberkasten beschäftigen?“ Etwas verlegen deutete Agilof auf den Fernseher.
„Sicher. Ich zeig dir, wie man ihn benutzt.“

Daraufhin zog sich der Priester in sein Arbeitszimmer zurück und schloss die Tür. Müde setzte er sich an seinen Schreibtisch und schaltete den Laptop ein. Eigentlich fiel es ihm nicht schwer seine Predigten zu schreiben, aber heute fehlte ihm die nötige Konzentration. Zu viele Gedanken kreisten in seinem Kopf umher. So war es schließlich nach elf, als er sich endlich erhob. Er ging ins Wohnzimmer, um nach dem Elf zu sehen. Dieser war vor dem Fernseher eingeschlafen. Ohne genau zu wissen warum, musste der Priester schmunzeln. Dieser Mann dort auf seinem Sofa war schon sehr seltsam. So verwirrt konnte man doch eigentlich gar nicht sein. Leise schaltete Jung den Fernseher aus und legte eine Decke über den Schlafenden. Dann begab er sich selbst zu Bett.

Tag 2
Um sieben klingelte der Wecker des Priesters. Brummend schlug er auf das piepsende Etwas neben seinem Bett und schälte sich langsam aus seiner Decke. Verschlafen tappte er in den Flur. Im Wohnzimmer war noch alles still, so entschied er sich, den Elf erst zu wecken, wenn er selber soweit fertig war. Nach einer warmen Dusche, deckte er also den Frühstückstisch und betrat dann das Wohnzimmer. Zu seiner Überraschung war sein Gast bereits wach, saß aber im Dunkeln, da er nach eigener Aussage nicht gewusst hatte, wie das Feuer der Deckenlampe zu entfachen gewesen war.

Während des Frühstücks wirkte Agilof sehr nachdenklich. Als Jung ihn darauf ansprach, meinte der Elf: „Es ist wegen der Nachrichten gestern Abend. Ist die Welt wirklich so schlecht?“
„Die Welt selbst kann es nicht sein. Die Menschen aber wohl …“, meinte der Priester nachdenklich.
Seit er dem Elf am vorherigen Tag begegnet war, hatte er sich bereits einige Gedanken gemacht. Nicht nur zu dem, was der Elf von sich erzählt hatte – und wovon der Pastor immer noch nicht wusste, was er davon halten sollte – sondern auch zu dem Bild, dass die Welt heute bieten konnte und musste.
„Also, heute ist ja Heiligabend. Ich habe noch einiges vor, bevor ich heute Nachmittag und heute Abend jeweils eine Messe halten muss. Du kannst mich gerne zu allem begleiten“, wechselte der Pastor schließlich das Thema.
„So ich darf, werde ich den heutigen Tag gerne an Eurer Seite verbringen und Euch zur Hand gehen, wenn Ihr es wünscht“, bejahte der Elf die unausgesprochene Frage.

So machten sich Christoph Jung und Agilof gegen neun Uhr auf den Weg. Wieder blieb das Schwert des Elfen zuhause und wieder war dieser zwar nicht begeistert, auch nicht von einer neuerlichen Fahrt mit dem Auto, fügte sich aber in sein Schicksal.
Ihr erstes Ziel war ein großes Seniorenwohnheim. Die meisten Bewohner waren in einem großen Aufenthaltsraum versammelt und begrüßten den Priester sehr erfreut. Agilof sah sich verwundert um.
„Was ist das für ein Ort?“, fragte er den Priester leise.
„Ein Altenheim“, gab er zurück, doch als er das verständnislose Gesicht des Elfen sah, fügte er hinzu: „Hier leben alte Menschen, die keine Verwandten haben oder um die sich niemand kümmern möchte oder kann, die aber zu alt sind, um allein zu leben.“
Die Augen des Elfen weiteten sich. „Ihr Menschen verbannt Eure Ältesten aus Eurer Mitte? Sie haben die höchste Achtung verdient!“, empörte er sich.
„Sie haben Achtung verdient, das ist richtig, aber häufig geht es nicht anders. Daher komme ich, so oft ich kann hierher, um ihnen ein wenig ihre Einsamkeit zu nehmen. Diese wiegt an Weihnachten aber nun besonders schwer. Gleich werde ich mit den Bewohnern eine kleine Andacht in der hauseigenen Kapelle feiern. Du kannst dich gerne mit den Leuten hier unterhalten, aber erzähl lieber nicht, dass du ein Elf bist“, erklärte Jung und machte sich dann in die Kapelle auf, um die Andacht vorzubereiten.
Einen Moment stand der Elf etwas unschlüssig bei der Tür und wurde interessiert gemustert. Dann vollführte er eine galante Verbeugung und meinte laut, sodass ihn jeder verstehen konnte: „Seid mir gegrüßt, ihr ehrenwerten Ältesten! Ich begleite heute meinen Freund, den Priester und werde Euch mit Freuden von Eurer Einsamkeit befreien!“
Die Blicke die ihn nun trafen, wurden mehr kritisch denn interessiert, aber plötzlich begann eine der alten Damen zu kichern.
„So ein höflicher, wenn auch etwas eigenartiger, junger Mann. Kommen Sie doch mal etwas näher, ich beiße schon nicht. Und die anderen auch nicht. Wie heißen Sie, junger Mann?“, meinte sie freundlich und lächelte den Elf an.
„Ich bin Agilof von den … hmm … von einem sehr entfernt liegenden Ort. Und wie ist der Eurige Name, werte Dame?“, entgegnete der Angesprochene und trat näher. Da kam aber auch schon eine der Pflegerinnen in den Raum und gab Bescheid, dass die Andacht gleich beginnen würde. Agilof trat zu der alten Dame hin, die ihn angesprochen hatte und bot ihr galant eine Hand, um ihr aus dem Sessel aufzuhelfen.
„Sie sind wirklich ausgesprochen höflich“, stellte die Dame erneut fest und ließ sich aufhelfen. „Ich heiße Elsbeth Schuster.“
„Nun denn, Frau Elsbeth. Erweist Ihr mir die Ehre, Euch zur Andacht geleiten zu dürfen?“
Elsbeth strahlte Agilof an, nickte resolut und hakte sich bei seinem angebotenen Arm unter.

Nach der Andacht, der ersten, die Agilof je erlebt hatte, fanden sich wieder viele der Bewohner, sowie Jung und der Elf in dem Aufenthaltsraum ein. Agilof hatte Elsbeth Schuster wieder zu ihrem Sessel geleitet und nahm auf einem Stuhl an ihrer Seite Platz. Lächelnd musterte die alte Frau den jungen Mann.
„Tragen alle Männer ihre Haare so lang wie Sie, dort wo Sie herkommen, Agilof?“, fragte sie und bewunderte die langen kastanienbraunen Haare des Elfen.
„Die meisten schon. Gefällt Euch mein Haar?“, antwortete der Elf lächelnd.
Die Dame nickte verträumt und meinte: „Früher sahen meine Haare mal ganz ähnlich aus, aber heute bin ich grau und runzelig.“
„Das mag sein, Frau Elsbeth. Ich kann nicht abstreiten, was offensichtlich ist, aber Ihr seid sicher eine erfahrene und weise Frau. Seht, bei uns sind es die Ältesten, die den größten Respekt bekommen, da sie es aufgrund ihrer Erfahrung vortrefflich verstehen uns zu leiten. Ich würde mich geehrt fühlen, wenn Ihr mich an Euren Erfahrungen teilhaben lassen würdet und mir von Euch erzählen würdet“, erklärte Agilof mit ehrlichem Blick und neigte demutsvoll den Kopf.
Frau Schuster lachte. „Herr Jung, warum haben Sie Ihren Freund hier denn noch nicht früher mit hierher gebracht? Er ist ein kleiner Charmeur, wissen Sie das?“, rief sie zu dem Priester hinüber, der mit ein paar der Bewohner Canasta spielte und sich unterhielt.
Er sah auf und lächelte. „Nun Frau Schuster, das liegt dran, dass ich ihn noch nicht lange kenne. Es freut mich aber, wenn Sie sich mit ihm verstehen“, erklärte er dann.
Die Dame nickte und wandte sich wieder an den Elf: „Wenn es Sie wirklich interessiert, werde ich Ihnen gerne etwas aus meinem Leben erzählen. Viel zu selten interessiert es jemanden …“
Als sich ein trauriger Ausdruck auf ihr Gesicht legte, nahm Agilof behutsam ihre schrumpelige Hand in seine eigenen, glatten und schlanken Hände und schenkte ihr einen mitfühlenden Blick. Dies entlockte der Alten ein Lächeln und erfreut, dass ihr jemand zuhörte, begann sie zu erzählen.

Schließlich kam Jung zu den beiden herüber und unterbrach die Erzählungen der alten Frau höflich.
„Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen Agilof nun entführen muss, Frau Schuster, aber wir müssen noch zur Tafel. Ich werde demnächst noch mal zu Besuch kommen“, erklärte er.
„Sicher, sicher. Viel zu lange habe ich dem jungen Mann hier jetzt schon ein Ohr abgekaut. Und wenn Sie noch zur Tafel wollen, möchte ich Sie natürlich nicht aufhalten. Werden Sie uns auch bald wieder besuchen, Agilof?“, winkte die Angesprochene verständnisvoll ab.
„Es tut mir leid, Frau Elsbeth, aber das wird leider nicht möglich sein. Ich werde schon morgen wieder nach Hause zurückkehren“, erklärte der Elf ihr und blickte zu dem Priester auf. „Aber ich bin sicher, Christoph wird sich gut um Euch kümmern.“
Die Dame lächelte. „Das wird er bestimmt und wenn Sie wieder nach Hause müssen, verstehe ich das natürlich. Sollten sie aber noch einmal in der Stadt sein und mich dann besuchen kommen, würde ich mich freuen.“
Agilof erhob sich und kniete dann elegant vor Elsbeth Schuster, die noch immer in dem gemütlichen Sessel saß, nieder.
„Wenn die Weisungen meiner Ältesten mich wieder einmal hierher führen sollten, so wird es mir eine ausgesprochene Freude sein, Euch wieder zu besuchen und Euren Geschichten zu lauschen. Doch leider, kann ich Euch nicht versprechen, dass dies bald wieder der Fall sein wird. Aber nehmt meinen demütigsten Dank an, dafür dass Ihr mir von Eurem Leben und Euren Erfahrungen berichtet habt.“ Der Elf ballte die rechte Hand zur Faust, legte sie auf seine Brust und neigte sein Haupt. „Möge die Sonne stets Eure Wege erleuchten, sanfter Regen Eure Felder wässern und mögen Euch alle guten Mächte dieser Welt zur Seite stehen.“
Leicht verdutzt sahen die alte Dame und der Priester auf den knienden Elfen hinab, aber dann traten Frau Schuster einige Tränen der Rührung in die Augen.
„Ich danke Ihnen Agilof, dass Sie mir zugehört haben. Sie sind vielleicht etwas seltsam, aber Sie sind ein herzensguter Mensch. Auf Wiedersehen!“, meinte sie dann, reichte dem Elfen ihre Hände und bedeutete ihm so aufzustehen.
Agilof folgte sodann dem Priester und verabschiedete sich mit einer letzten galanten Verbeugung an der Tür von den Bewohnern des Altenheims.

Im Auto erklärte Jung seinem Begleiter, was ihr nächstes Ziel war. Sie fuhren nun zur Koblenzer Tafel, wo heute an Heiligabend zur Mittagszeit eine Speisung derer stattfinden sollte, die nicht so viel Geld hatten. Er engagierte sich regelmäßig für die Tafel, erklärte Jung, aber für Weihnachten hatte er etwas Besonderes organisiert und nicht eine bloße Ausgabe von Lebensmitteln, wie es sonst der Fall war.
Außerdem bemerkte er, wie nett er das Verhalten Agilofs gegenüber der Bewohner des Altenheims gefunden hatte. Er war froh, dass er sich in seiner Einschätzung nicht geirrt zu haben schien: Der Mann wirkte zwar etwas verwirrt, aber er war nicht gefährlich.

Als Christoph Jung und sein Begleiter die Räumlichkeiten betraten, wurde der Priester auch hier freudig begrüßt. Eine Frau mittleren Alters kam auf sie zu und meinte: „Herr Jung, da sind Sie ja endlich. Sie wollten doch früher hier sein.“
„Tut mir leid, Frau Baum, aber ich war noch im Seniorenstift und habe die Zeit vergessen. Dafür habe ich Hilfe mitgebracht. Darf ich vorstellen, dies hier ist Agilof. Er ist derzeit bei mir zu Besuch und wird uns heute unterstützen“, entschuldigte sich der Pastor und deutete dann auf den Elfen.
Dieser vollführte erneut eine galante Verbeugung und meinte, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte: „Gebt mir eine Aufgabe und ich werde sie, so es in meiner Macht steht, gewissenhaft ausführen.“
„Nun … Sie beide könnten sich um die Tische kümmern. Es stehen immer noch nicht alle an ihrem Platz und in gut einer Stunde soll es doch schon losgehen hier“, meinte die Frau verdutzt und verschwand, nachdem Jung genickt hatte, wieder in der Küche, in der ein geschäftiges Treiben herrschte. Insgesamt hatten sich fünfzehn Männer und Frauen dem Priester als freiwillige Helfer angeschlossen.
„Du solltest wirklich mit diesem Theater aufhören“, grummelte der Pastor schließlich und wandte sich Agilof zu, der ihn verständnislos ansah.
„Was meint Ihr, Christoph?“
„Na, diese seltsame Art und Weise zu sprechen und das mit den Verbeugungen.“
„Ja, mir ist schon aufgefallen, dass die Menschen hier sich gänzlich anders ausdrücken und verhalten, aber so wurde ich aufgezogen und ich werde wohl kaum einfach Verhaltensweisen ablegen, die ich seit gut hundert Jahren pflege“, erklärte der Elf grinsend.
„Hundert Jahre? Ist gut … Lass uns nach den Tischen sehen“, seufzte Jung resigniert und ging voran.

Aus einem Abstellraum trugen die beiden Männer noch einige Tische – zusätzlich zu denen die bereits aufgestellt worden waren – herbei und versahen sie mit dazugehörigen Stühlen. Die Tische wurden anschließend von ihnen gedeckt und schlicht dekoriert. Danach halfen Jung und Agilof in der Küche mit, während im Speisesaal allmählich immer mehr Stühle besetzt wurden.
Die unterschiedlichsten Menschen fanden hier zusammen: Obdachlose, Hartz 4-Empfänger, Asylbewerber, Männer und Frauen, Junge und Alte.
„Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie sich ohne dies hier kein festliches Essen hätten leisten können“, erklärte Christoph Jung, als er Agilofs faszinierten Blick bemerkte.
„Das ist unglaublich … Eine so reiche Stadt und doch so viel Elend direkt innerhalb ihrer Mauern.“
„Ja, es ist traurig, nicht wahr? Aber das wollen wir ja ändern. Hier bringen Sie doch bitte die Schüsseln auf die Tische, bevor das Essen kalt wird“, mischte sich Frau Baum tatkräftig ein.
Jung lächelte gutmütig. „Machen wir, Frau Baum. Komm Agilof, schnapp dir eine Schüssel.“

So wurde das Essen aufgetragen. Jung sprach ein Tischgebet und dankte allen Helfern, wonach der Raum schließlich vom Klappern von gut fünfzig Bestecken erfüllt war. Der Priester ließ sich an jedem Tisch einmal blicken und unterhielt sich mit den Speisenden. Selber aß er allerdings nichts.
Auch Agilof aß nichts. Er stand an eine Wand gelehnt da und beobachtete die Szenerie nachdenklich. Gestern hatte er in diesem Zauberkasten bei Jung noch gesehen, wie ein alter Mann von drei Geistern besucht worden war und die Bedeutung von Weihnachten gelernt hatte. Auch der Elf hatte dabei einiges gelernt. Weihnachten schien eine Zeit der Besinnung, des Friedens und der Liebe zu sein, dennoch stand er nun schon in der zweiten Einrichtung, die ihn sehr traurig machte. Gerne wollte er seiner Trauer Ausdruck verleihen und er hatte auch schon eine Idee. Langsam löste er sich von der Wand und trat nach vorne, dorthin, von wo der Priester zuvor gebetet hatte. Er räusperte sich hörbar und nach und nach verstummten die Gespräche. Neugierig richteten sich alle Blicke auf den Elfen. Jung sah ihn fragend an.
„Seid mir gegrüßt! Mein Name ist Agilof, ich komme von weither und bin derzeit bei diesem Mann dort zu Besuch.“ Der Elf deutete auf den Priester. Dieser nickte in die Runde und wartete angespannt darauf, was der Elf nun wieder vorhatte. „Ich gedenke Euch zur Unterhaltung bei diesem Mahl ein Lied darzubieten. Ihr werdet vielleicht die Sprache nicht verstehen, es ist die alte Sprache meines Volkes, aber ich denke, es wird Euch dennoch zu gefallen wissen.“
Damit erhob sich zunächst neuerliches Gemurmel. Der ein oder andere hüstelte amüsiert, aber als der Elf zu singen begann, erstarb jedes andere Geräusch im Raum. Selbst die Helfer in der Küche ließen die Spülbürste liegen und kamen herbei. Nicht nur hatte der Elf eine kristallklare und wohlklingende Stimme, auch die Melodie des Liedes war einerseits fremd und andererseits so einnehmend, wenn auch traurig, dass nahezu jeder – auch der Sänger selbst – Tränen in den Augen hatte, als er endete. Nachdem der Applaus verebbt war, und die Gespräche langsam wieder aufgenommen wurden, erhob sich Jung, ging zu Agilof und nahm den Elf zur Seite.
„Was für ein Lied war das?“, fragte er.
„Ein altes. Es ist in der alten Sprache der Elfen verfasst und handelt von der Schlechtigkeit der Menschen und der daraus folgenden Trennung der Welten. Es erzählt von Schmerz und Trauer. Ihr müsst wissen, dass mein Volk dem Euren stets zugeneigt war“, erklärte der Elf mit einem traurigen Lächeln und zuckte mit den Schultern.
„Es war wirklich sehr emotional, aber irgendwie war es sehr passend. Ich danke dir für deinen Beitrag zu diesem Fest.“

Nach dem Essen holte Jung noch eine Kiste aus seinem Auto. Er verabschiedete sich persönlich von jedem Gast und wünschte jedem Frohe Weihnachten. Den Kindern übergab er aus der Kiste jeweils einen Schokoladenweihnachtsmann. Diese hatte er extra für diesen Anlass besorgt und aus eigener Tasche bezahlt.
Als alle Gäste gegangen waren, machten sich die ehrenamtlichen Helfer ans Aufräumen. Es war bereits halb fünf, als die letzten Handgriffe getätigt wurden und Jung auf die Uhr sah.
„Himmel, es ist schon so spät?“, entfuhr es dem Priester. „In einer halben Stunde muss ich die Familienmesse in der Liebfrauenkirche halten. Frau Baum, es tut mir leid, aber ich muss los!“
„Ist gut Herr Jung. Wir machen den Rest schon, ist ja nicht mehr viel. Einen schönen Abend noch und Frohe Weihnachten!“, entgegnete die Frau und wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Ihnen auch! Auf Agilof, wir müssen uns beeilen!“

An der Kirche angekommen, bat der Priester den Elf, sich in die Kirche zu setzen und der Messe beizuwohnen. Bevor er in der Sakristei verschwand, meinte er noch: „Du hast mich gestern gefragt, warum das Kind dem Vieh zum Fraß vorgeworfen wird. Pass in der Messe gut auf, und du wirst es verstehen!“ Fragend zog Agilof eine Augenbraue in die Höhe, aber der Priester grinste nur und scheuchte den Elf zum Haupteingang.

Auf der Autofahrt zurück zur Wohnung des Priesters, unterhielten sich die beiden schließlich darüber, dass Agilof nun den Sinn des Kindes in der Krippe verstanden hatte. Es wurde deutlich, dass der Elf sich vielleicht mit der Kirche des Mittelalters befasst hatte, aber den christlichen Glauben vollkommen ignoriert hatte. Der Pastor ließ sich berichten, welchem Glauben der Elf anhing und schloss daraus auf eine alte Naturreligion. ‚Egal ob verrückt oder nicht, dieser Mann hat seine Rolle von hinten bis vorne durchdacht‘, dachte Jung bei sich.

Wieder in der Wohnung des Priesters angekommen, machte Agilof sich sogleich einige Notizen. Er hatte an diesem Tag einige neue Erkenntnisse gewonnen.

Zweiter Tag
Heute zwei Einrichtungen besucht, die beide auf ihre Weise deprimierend waren. Der Priester aber schien mit seiner Arbeit dort wirklich etwas Gutes zu tun.
Darüber hinaus habe ich Studien über die Religion des Priesters nachzuholen.

Jung heizte den Ofen vor und nahm zwei Tiefkühlpizzen aus dem Gefrierschrank.
„Jetzt darfst du an meiner ganz persönlichen Weihnachtstradition teilhaben“, meinte er, nachdem er die Küchenuhr eingestellt hatte und ins Wohnzimmer herüber gekommen war.
„Ich habe an Weihnachten immer viel zu tun, sodass es irgendwann selbstverständlich wurde, dass ich an Heiligabend nichts Aufwendiges koche, so wie andere, sondern mir einfach eine Fertigpizza mache. Dazu schaue ich jedes Jahr meinen Lieblingsweihnachtsfilm Der kleine Lord“, erklärte er weiter.
Der Elf hatte sein Notizbuch beiseitegelegt und meinte: „Es ist mir eine Ehre, an Eurer Tradition teilhaben zu dürfen. Aber ich habe noch zwei Fragen: Was ist eine Fertigpizza? Und was ist ein Film?“
Der Priester lachte und schüttelte den Kopf. „Lass dich einfach überraschen.“
Und das tat Agilof dann auch.

Die zweite Messe, die Jung an diesem Tag halten musste, begann um 23 Uhr. Diese Christmette wurde in der Kastorkirche gefeiert. Auch hierher begleitete Agilof seinen Gastgeber wieder. Da der Elf äußerst neugierig und interessiert an Jungs Arbeit war und die beiden früh genug aufgebrochen waren, begleitete der Elf den Priester zunächst in die Sakristei. Daran, dass auch Frau Bach zugegen sein würde, hatte der Pastor nicht gedacht. Allerdings schaffte es Agilof, die Küsterin mit einer wortgewaltigen, äußert höflichen und von tiefen Verbeugungen begleiteten Entschuldigung zu besänftigen. Der Messe wohnte der Elf wieder als Besucher bei.
Als Agilof schließlich nach Mitternacht gemeinsam mit Christoph Jung die Kirche verließ, hatte es wieder begonnen zu schneien. Die Hände tief in den Taschen der geliehenen Jacke verborgen, sah der Elf in den grau-schwarzen Himmel empor.
„Ich hätte Eure Welt zu gern ohne diese lästige Wettererscheinung gesehen“, brummte der Elf.
„Also ich mag Schnee. Irgendwie macht er alles ruhiger und friedlicher, finde ich“, bemerkte Jung und blickte ebenso den dicken Flocken entgegen.
Eine Weile standen die Männer schweigen so da, bis Jung schließlich dem Elfen freundschaftlich auf den Rücken klopfte und meinte: „Frohe Weihnachten, Agilof!“
„Euch auch, Christoph“, antwortete der Elf und wand seinen Blick dem Pastor zu.
„Lass uns heimfahren. Ich bin müde. Morgen ist auch noch ein Tag.“

Wieder in der warmen Wohnung des Priesters angekommen, dauerte es nicht lange, bis Dunkelheit und Stille Einzug hielten. Sowohl Jung, als auch Agilof waren schnell dem Schlaf der Gerechten anheimgefallen.

Tag 3
Christoph Jung wurde von dem Geräusch der Dusche geweckt. Er gähnte herzhaft und sah verschlafen auf die Uhr. Kurz vor acht. Der Wecker hätte sowieso jeden Moment geklingelt. Jung stellte ihn aus und streckte sich ausgiebig. Als erstes setzte der Pastor Kaffee auf. Das Badezimmer war ja besetzt, aber als Jung den Frühstückstisch gedeckt hatte, kam Agilof gerade in die Küche. Er trug wieder seine eigene Kleidung.
„Guten Morgen. Ich hoffe, ich habe Euch nicht geweckt?“, grüßte der Elf seinen Gastgeber.
„Ach, ich hätte doch jetzt sowieso aufstehen müssen. Sag, sind dir deine Sachen nicht zu kalt, wenn wir gleich wieder unterwegs sind?“, entgegnete dieser.
„Ich werde doch heute wieder aufbrechen. Dazu kann ich ja nicht Eure Kleidung tragen. Aber wenn Ihr es gestattet, werde ich die letzten Stunden, bevor ich zu dem Ort zurückkehre, an dem ich diese Welt betreten habe, gerne mit Euch verbringen und auch Eure Jacke wieder tragen, wenn wir hinausgehen.“
„Du glaubst also immer noch, dass du durch irgendein mysteriöses Tor in diese Welt gelangt bist, und dass sich dieses heute wieder für dich öffnet?“
„Natürlich, denn so ist es geschehen und ich vertraue auf die Ältesten.“
„Gut, wo musst du denn hin und wann musst du da sein? Ich werde dich mit dem Auto hinfahren und wenn nichts passiert, hörst du ein für alle Mal mit diesem Anderswelt-Quatsch auf, einverstanden?“, meinte Jung genervt.
„Es betrübt mich, dass Ihr meinen Worten noch immer keinen Glauben schenkt, aber ich bin einverstanden. So werdet Ihr letztlich die Wahrheit erkennen.“
Der Elf ging an dem Priester vorbei und ließ sich am Frühstückstisch nieder. Jung seufzte und setzte sich seinem Gast gegenüber.
Während des Frühstücks ließ der Priester sich erklären, wo der Elf angeblich in diese Welt gekommen war. Dabei musste er schockiert feststellen, dass es wohl Agilof gewesen war, der in den Fernmeldeturm eingebrochen war. Er sagte dazu aber nichts weiter und überlegte, welchen Ort der Elf meinen konnte. Schließlich fiel dem Elf wieder ein, dass er bei seiner Ankunft ein Schild gesehen hatte, dass auf alte Tempelanlagen hingewiesen hatte.
„Super, da hab ich ja jetzt was versprochen. Aber ich steh zu meinem Wort. Ich werde dich also heute um Mitternacht zu den Resten des Mercuriustempels im Stadtwald begleiten. Aber vorher wirst du mich wieder zu drei Messen begleiten müssen.“
„Ich folge Euch mit Freuden. Ich habe Euch viel zu verdanken.“

Nachdem auch der Priester schließlich geduscht hatte, machten sich die beiden Männer auf zur ersten Messe am Morgen dieses ersten Weihnachtstages. Die zweite Messe folgte auf dem Fuße und so war es schließlich schon Mittag, als die beiden Männer durch die verschneiten Straßen wanderten. Bis zur letzten Messe, die Jung heute halten musste, war es noch ein paar Stunden hin. Der Priester hatte Agilof den Vorschlag gemacht, ihm ein wenig die Stadt zu zeigen und der Elf war nur zu gerne darauf eingegangen. Das Auto hatten sie bei der Kirche stehen lassen. Da an diesem Feiertag die Geschäfte geschlossen und die Menschen daheim bei ihren Familien waren, waren die Straßen wie leergefegt.
Einzig am Hauptbahnhof waren vereinzelt einige Menschen unterwegs. Dem Priester fiel bereits aus der Ferne eine Gruppe von vier jungen Männern auf, die, scheinbar leicht alkoholisiert, beisammen standen. Als eine junge Frau mit Kopftuch den Bahnhof verließ, deuteten die Männer zu ihr hin und setzten sich plötzlich in Bewegung. Jung blieb stehen, hielt Agilof am Arm und beobachtete die Szenerie aus einiger Entfernung. Die vier Männer umringten die Frau. Einer von ihnen zerrte grob an ihrem Kopftuch. Ein Pärchen kam aus dem Bahnhof, sah kurz zu der Gruppe und wandte dann eilig den Blick ab. Zügig eilten sie davon. Jung fluchte äußerst unpriesterlich und begann zu laufen. Ehe Agilof verstand, was überhaupt los war, war der Priester schon bei der Gruppe angekommen.
„Könnt ihr scheiß Kanaken uns nicht mal an Weihnachten in Ruhe lassen?“, schimpfte einer der Männer.
Er wurde von Christoph Jung mit einer Hand fest an der Schulter gepackt.
„Die Einzigen, die hier die Ruhe stören, seid ihr!“, stieß er hervor.
„Was willst du denn jetzt? Kümmere dich um deinen eigenen Kram!“, schnauzte der Mann und drehte sich zu dem Priester herum. Er versetzte ihm einen unsanften Stoß. Agilof begann zu laufen.
Jung stolperte rückwärts, was für Erheiterung bei den vier Männern sorgte. Der Priester aber fing sich, straffte die Schultern und machte wieder einen Schritt nach vorne.
„Wenn ihr auf offener Straße meine Mitmenschen anpöbelt, dann ist das mein Kram“, erklärte er ruhig.
„Ich rede mit diesem Ausländerpack immer noch so wie ich es will, klar?“
„Vor Menschen wie euch, habe ich wirklich keinerlei Respekt. Ihr behandelt andere wie den letzten Dreck, dabei seid ihr selber das was unsere Gesellschaft runterzieht!“, fauchte Jung wütend, da er sich nicht mehr zurückhalten konnte. Diese Fremdenfeindlichkeit und der Hass gegen andere Menschen waren ihm einfach zuwider.
„Hast du mich grade als Dreck bezeichnet?“, bellte der Mann vor ihm und seine drei Freunde bauten sich drohend hinter ihm auf. Die Frau war vergessen. Sie nutzte die Gelegenheit und machte sich aus dem Staub.

Gerade als der Mann die Faust ballte, kam Agilof schlitternd zwischen ihm und dem Priester zum Stehen.
„Wagt es nicht Eure Hand gegen diesen Mann zu erheben!“, fuhr er den Anführer der Gruppe an und schenkte ihm einen eiskalten Blick.
Dieser grinste aber nur und meinte über den Elf hinweg zu Jung: „Süß. Hat dein Lover schon Karneval oder was soll dieser Aufzug?“
Noch bevor der Priester in irgendeiner Art und Weise reagieren konnte, schnellte Agilof zu Boden, trat dem Mann die Beine weg und setzte ihm einen Fuß auf die Brust.
„Möge deine Schlechtigkeit dich niederwerfen und deine Männlichkeit verwelken, wie ein verdorrter Ast, auf dass du niemals das Böse in dieser Welt weitersähen kannst!“
Ungläubig starrte der Kerl am Boden zu dem Elf hinauf. Seine Freunde hatten sich schnell wieder gefangen und die Verwirrung abgeschüttelt. Zwei von ihnen wollten Agilof packen, aber dieser wich elegant aus und verpasste dem einen von ihnen einen derben Schlag in die Rippen. Keuchend sank der Mann auf die Knie. Der Anführer hatte sich mittlerweile wieder aufgerappelt und wollte auf den Elf zugehen, aber dieser warf ihm über die Schulter einen lodernden Blick zu.
„Ihr unwürdiges Gewürm werdet euch umgehend bei dem Priester entschuldigen oder ihr werdet den Tag verfluchen, an dem ihr geboren wurdet!“, grollte der Elf.
Christoph Jung hatte bisher nur mit offenem Mund dagestanden und die Szene ungläubig verfolgt. Jetzt aber riss er sich zusammen und mischte sich ein: „Agilof, lass gut sein …“
Der Anführer der kleinen Gruppe aber zog herzhaft die Nase rauf und spukte dem Priester vor die Füße. Kalte Wut flackerte in den Augen des Elfen auf. An der Seite waren ein paar Schaulustige stehen geblieben.
„Agilof, komm jetzt bitte. Du bringst uns nur in Schwierigkeiten!“, bat Jung eindringlich und musterte flüchtig die Reihe der Schaulustigen. Zumindest waren keine bekannten Gesichter dabei.
Der Elf schenkte den vier jungen Männern noch einen Blick voller Verachtung, drehte ihnen den Rücken zu und bedeutete dem Priester zu gehen.

Die kleine Menge an Menschen begann sich schnell wieder zu zerstreuen, aber die vier Männer wollten das nicht auf sich sitzen lassen. Agilof hörte wie einer der vier laut Fluchte und davonrannte. Er hörte außerdem, wie jemand hinter ihm ausholte. In einer einzigen fließenden Bewegung wirbelte er herum, griff den Arm seines Angreifers und verdrehte ihn. So zwang er den Mann zum einen in die Knie und zum anderen ließ er so das Messer fallen, das er gezogen hatte. Auch die anderen beiden Männer schienen es nun mit der Angst zu tun zu bekommen, ließen ihren Anführer im Stich und nahmen die Beine in die Hand. Bedächtig hob der Elf das Messer auf und musterte es.
„Schlechter Stahl für einen schlechten Menschen, das passt.“
Achtlos warf der das Messer zur Seite. Jung hob es auf, damit es keinen weiteren Schaden anrichten konnte. Agilof sah sich kurz um. Ein paar der Schaulustigen waren erneut stehen geblieben.
„Was seid ihr nur für rückgratlose Feiglinge? Einer der euren bedarf eurer Hilfe und ihr steht nur da und schaut zu“, warf er ihnen entgegen, was dazu führte, dass sich auch die letzten Interessierten peinlich berührt schleunigst von dannen machten.
„Und du…“, fuhr er dann, an den am Boden knienden Mann gewandt, fort, „Du solltest sehen, dass du mir aus den Augen kommst, bevor ich meine guten Manieren vergesse. Zuerst bedrohst du eine wehrlose Frau, dann erhebst du die Faust gegen einen guten und gerechten Mann und zu allem Überfluss ziehst du die Waffe hinter dem Rücken deines Gegners. Da wo ich herkomme, würdest du auf alle Zeit geächtet werden und ein Leben als Vogelfreier führen.“
Größter Unglaube und Verwirrung sprachen aus dem Blick des Mannes, aber er nickte hastig, erhob sich und lief eilig davon. Agilof sah ihm nach, dann drehte er sich zu dem Priester um, lächelte ihn an und meinte: „Ihr wolltet mir die Stadt zeigen?!“
Jung starrte ihn mit großen Augen und offenem Mund an. Schließlich fing er sich wieder, schluckte und erwiderte dann: „Herr im Himmel. Du glaubst gar nicht wie froh ich bin, dass ich dir das Schwert abgenommen habe! Sei froh, dass alles so glimpflich abgelaufen ist und niemand die Polizei gerufen hat. Die vier hätten das zwar verdient, aber was hätten wir denen bitte sagen sollen?!“
Der Elf zuckte nur mit den Schultern, nicht zuletzt, weil er nicht wusste was die Polizei war, und Jung seufzte. „Lass uns zu mir fahren. Da können wir uns noch etwas unterhalten“, brummte der Priester schließlich.

In den Stunden bis zur nächsten Messe unterhielten sich die beiden Männer dann auch. Erneut sprachen sie über Agilofs Herkunft und die Welt der Menschen. Zwischendurch bereitete Jung etwas zu essen. Aber auch während des Mittagessens verstummten ihre Gespräche nicht. Der Priester befragte den Elf über dessen Verhalten der Gruppe Männer gegenüber und fragte ihn, was passiert wäre, wenn er sein Schwert gehabt hätte. Der Elf aber schwor ihm, dass er keinen der Männer ernsthaft hatte verletzten wollen und Jung glaubte ihm. Hätte er den Mann verletzen wollen, hätte er das Messer nicht zur Seite geworfen.
Nach der Messe am Nachmittag kehrten die beiden in die Wohnung des Priesters zurück. Während Jung sich in sein Arbeitszimmer zurückzog, um mit seiner Familie zu telefonieren, schrieb Agilof wieder einmal in sein ledernes Buch.

Dritter Tag
Noch diese Nacht werde ich diese Welt wieder verlassen. Ich glaube, der Priester wird mir fehlen. Er hat mir einiges über diese Welt und die Menschen beigebracht. Ich werde den Ältesten einiges zu berichten haben…

Als Christoph Jung aufgelegt hatte und ins Wohnzimmer zurückkehrte, beobachtete er den Elf eine Weile. Dieser ließ sich bei seinen Aufzeichnungen nicht stören.
„Darf ich fragen, was du da eigentlich immer schreibst?“, fragte Jung schließlich.
Agilof sah auf und lächelte. „Sicher“, meinte er und übergab das Buch an den Priester.
Interessiert blätterte Jung durch das Buch. Es enthielt einige kurze Einträge zu den letzten Tagen, aber auch detaillierte Berichte, wie zum Beispiel über das Altenheim oder die Nachrichten. Er entdeckte sogar ein paar Zeichnungen. Da war eine von seinem Auto. Ebenso entdeckte er seinen Fernseher und eine Skizze der Tiefkühlpizza vom vorherigen Tag – nebst ausführlicher Beschreibung derselben. Überrascht stellte er fest, dass der Elf auch eine Zeichnung von Frau Schuster sowie von ihm angefertigt hatte. Verwundert hob er den Blick. „Deine Zeichnungen sind wirklich sehr gut“, meinte er anerkennend.
„Habt Dank. Dies war einer der Gründe, wieso die Ältesten mich für diese Mission auserwählt haben. Ich habe eine gute Beobachtungsgabe und das Talent meine Beobachtungen festzuhalten.“
„Das sehe ich.“ Der Priester betrachtete noch einmal kurz das Portrait seiner selbst und reichte dem Elfen dann das Buch zurück.
„Hör mal, was wirst du eigentlich tun, wenn sich heute Nacht kein Tor für dich öffnet?“, fragte er schließlich.
Der Elf schwieg eine Weile nachdenklich. „Ich vertraue auf die Ältesten, aber falls dies wirklich geschehen sollte, so bin ich in Eurer Welt gefangen. Was ich dann tun werde, weiß ich nicht. Sicherlich werde ich versuchen, einen Weg zurück zu finden“, meinte er dann.
„Wenn du irgendwie Hilfe brauchst, so werde ich gerne versuchen dir diese zukommen zu lassen.“
„Ich danke Euch, Christoph, aber ich bin überzeugt, dass dies gar nicht nötig sein wird.“
Der Priester nickte nur und hing dann seinen eigenen Gedanken nach. Wie würde Agilof wohl reagieren, wenn er erkennen musste, dass es kein magisches Tor in eine andere Welt gab. Was würde er tun? Jung mochte den Mann, der dort auf seinem Sofa saß, irgendwie und er hatte noch immer zu seinem Wort gestanden. Er würde Agilof helfen. Ihm vielleicht einen Platz bei einer Therapie besorgen, ihm helfen seine Familie zu finden, vielleicht einen Job – irgendwie so etwas eben.

Die verbleibenden Stunden, bis sie sich schließlich auf den Weg in den Koblenzer Stadtwald machten, verbrachten die beiden Männer mit Reden und Fernsehen. Als sie aufbrachen, sah sich Agilof noch einmal leicht wehmütig in der Wohnung des Priesters um. Dann legte er seinen Umhang an, nahm seine Tasche und sein Schwert und folgte dem Priester zum Auto. Auf der Fahrt schwiegen beide. Jung, weil er sich immer noch Gedanken machte, wie Agilof gleich reagieren würde und Agilof, weil in diesen drei Tagen einfach viel zu viele Gedanken in seinem Kopf entstanden waren.

Während Agilof sich bestens im Wald zurecht zu finden schien, war der Pastor froh, dass er an eine Taschenlampe gedacht hatte. So standen sie schließlich mitten in der Nacht im stockfinsteren Wald und warteten. Agilof hatte das Schwert nun wieder umgegürtet und ließ seinen Blick über die Ruinen der römischen Tempelanlage schweifen. Jung warf einen Blick auf die Uhr. Fünf vor zwölf. Er schüttelte den Kopf und überlegte, wie er sich nur hierfür hatte bereit erklären können. Andererseits war er davon überzeugt, dass Agilof ihn gleich brauchen würde.
„Und hier bist du also vorgestern Nacht gelandet?“, fragte Jung endlich, um die Stille zu durchbrechen.
„Ja. Gleich nach meiner Ankunft stieg ich auf einen Baum und habe von dort diesen Turm gesehen, von dem ich Euch berichtet habe.“
„Aha.“
Wieder ein Blick auf die Uhr. Punkt Mitternacht.
„Siehst du, Agilof. Jetzt haben wir Mitternacht und es passiert überhaupt…“ Der Priester verstummte, als ein Licht über einem der Mauerreste erschien. Er zog die Augenbrauen in die Höhe und beobachtete sprachlos, wie das Leuchten sich ausbreitete und einen Torbogen, flankiert von zwei schweren, gewundenen Säulen aus Licht formte.
„Aber das … das ist unmöglich …“, stieß er hervor.
Agilof aber lächelte und meinte: „Ich sagte Euch, dass Ihr letztlich die Wahrheit erkennen würdet. Es ist nicht unmöglich. Es ist Magie. Wartet bitte kurz, Christoph.“
Agilof trat durch das Tor, war aber kurz darauf zurück.
„Die Ältesten werden das Tor geöffnet halten, bis ich mich von Euch verabschiedet habe, Christoph. Ich möchte mich für alles bedanken, was Ihr für mich getan habt.“
Der Priester war noch immer fassungslos. Als ihm bewusst wurde, dass Agilof die ganze Zeit die Wahrheit gesagt hatte, war er nicht sicher, ob er lachen oder weinen sollte.
„Hört mich an, Priester. Ich weiß, dies hier muss für Euch so verwirrend sein, wie Eure Welt für mich.“
Jung schüttelte schließlich ungläubig den Kopf. „Ich dachte die ganze Zeit, du seist verrückt. Und jetzt stehst du hier vor einem Tor aus Licht.“
„Versucht nicht es jetzt zu verstehen. Nehmt Euch dafür Zeit. Ich möchte mich nun von Euch verabschieden.“
„Was wirst du deinen Ältesten nun berichten? Über unsere Welt?“, fragte Jung den Elfen, ohne seine Bemerkung über die Verabschiedung zu beachten.
„Ich werde ihnen berichten müssen, dass es nicht möglich sein wird die Mauer einzureißen. Zu groß ist die Kluft, die unsere Welten trennt. Außerdem …“
„So sind die Menschen wirklich so schlecht?!“
„Das sind sie wohl. Ihr aber zeigtet mir, dass sie es nicht alle sind! Dank Euch weiß ich, dass es eine Hoffnung für diese Welt gibt. Ihr seid ein guter Mensch, Christoph. Möge die Sonne stets Eure Wege erleuchten, sanfter Regen Eure Felder wässern und mögen Euch alle guten Mächte dieser Welt zur Seite stehen.“
Der Elf ballte die rechte Hand zu einer Faust, legte sie auf seine Brust und verneigte sich tief vor dem Priester.
Dieser wusste nicht recht, was er tun sollte. So antwortete er schließlich: „Gott schützte dich, Agilof.“
Der Elf richtete sich wieder auf und kramte kurz in seiner Tasche. Er zog einen schweren Lederbeutel hervor.
„Dies ist alles Gold, das die Ältesten mir für die Erfüllung meiner Mission mitgaben. Ich möchte, dass Ihr es bekommt. Ich bin mir sicher, Ihr wisst, was damit zu tun ist.“ Agilof überreichte Jung den Beutel. Als der Priester in vorsichtig öffnete, kamen unzählige Goldmünzen darin zum Vorschein.
„Aber das kann ich doch nicht annehmen…“
„Doch, könnt Ihr. Tut mir nur einen Gefallen: Fragt Frau Elsbeth, ob Ihr etwas für Sie tun könnt und richtet Ihr meine Grüße aus. Aber jetzt muss ich wirklich gehen. Der Zauber ist kräftezehrend und ich möchte die Ältesten nicht so lange damit belasten. Lebt wohl, Priester. Und wer weiß, vielleicht werden wir uns ja eines Tages wiedersehen. Ich werde diesen Tag mit Freude erwarten.“
Damit trat der Elf durch das Tor, welches sogleich zu verblassen begann. Bald war es wieder stockfinster in den Ruinen.

Jung starrte noch immer auf die Stelle, an der der Elf im Licht verschwunden war. Würde er nicht den schweren Beutel voller Gold in den Händen halten, würde er wahrhaftig an seinem Verstand zweifeln.
Plötzlich kam dem Pastor ein Gedanke und er lachte verzweifelt auf. Wie, um Himmelswillen, sollte er nur Alex, dem Polizisten, erklären, dass der Fremde einfach verschwunden war?

Ende

von Marina Bonzelet

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4 Gedanken zu “Der Winterelf

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