Von Claudia Werning
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Es gibt Träume, die hegt man seit Kindertagen.
Und Pläne, die man irgendwann im Leben umsetzt.
Und dann gibt es diese Augenblicke, in denen es einem wie Schuppen von den Augen fällt und man intuitiv weiß, was man unbedingt tun will.
Ein solches Aha-Erlebnis hatte auch die Frau, von der hier die Rede ist: Angelika Rehse, eine weitere Debütantin bei Pendragon. 2003 war das, als sie zusammen mit ihrer Familie in die Heimat ihrer Eltern fuhr – nach Schlesien. Und plötzlich das Bedürfnis hatte, alles Gehörte, Erzählte und Erlebte in einem Buch festzuhalten.
Für die nächste Generation. Und gegen das Vergessen.
20 Jahre ist das jetzt her – eine lange Zeit vom ersten Gedanken bis zu dem Moment, als Angelika Rehse diesen Roman auch tatsächlich in den eigenen Händen halten konnte. Und im wahrsten Sinn des Wortes fehlte es auch nicht an Stolpersteinen auf dem Weg: Vor dem Verlagsgebäude legte sie doch tatsächlich erst mal eine veritable Bauchlandung hin, ehe sie das Manuskript übergeben konnte. Aber weil eine Mutter von vier Kindern so schnell nichts aus der Bahn wirft, war auch dieses Hindernis schnell überwunden.
Dass die 74jährige, die schon lange im Lippischen beheimatet ist, einmal unter die Autoren gehen könnte, war wirklich nicht vorauszusehen. Von außen betrachtet gleicht ihr Lebenslauf dem unzählig anderer Kinder, die in der Nachkriegszeit zur Welt kamen. Geboren in Sande bei Wilhelmshaven, wo ihre aus Schlesien vertriebenen Eltern und großen Brüder vorübergehend ein neues Zuhause gefunden hatten, wuchs sie zwischen ostpreußischen Flüchtlingskindern und weiteren Heimatvertriebenen auf. Eigentlich hätte das wissbegierige Mädchen gerne Abitur gemacht und am Senckenberg-Institut in Wilhelmshaven geforscht, doch das kam für die Eltern nicht in Frage. So fing die Jugendliche bei einem Arzt an, wurde MTA und arbeitete im Krankenhaus. Das Wohl anderer im Blick zu haben, hatte sie sich schon damals auf die Fahnen geschrieben.
Dass sie nach der Geburt des ersten Kindes zu Hause blieb, war für den Familienmenschen Rehse, der seit 53 Jahren verheiratet ist, eine Selbstverständlichkeit. Und dass ihre wahren Schmuckstücke nicht daheim in der Schatulle liegen, sondern ihr mittlerweile acht Enkel beschert haben, genießt sie mit großer Freude.
Wenngleich die finanziellen Mittel für Bücher nach Kriegsende auch knapp waren – gelesen hat die Frau mit dem verschmitzten Lächeln schon immer gern. „Als Kind habe ich nur ein einziges Buch besessen – ein Märchenbuch, aus dem mir ein Mädchen aus der Nachbarschaft vorgelesen hat, als ich einmal lange krank war“, erinnert sich Angelika Rehse. Ihren Lesehunger mussten geliehene Lektüren aus der örtlichen Bibliothek stillen. Ein Hobby übrigens, das sie mit ihrem Angetrauten teilt. Nicht nur, dass bei jedem Urlaub Richtung Plattensee eine zusätzliche Badetasche mit Literatur jeder Art mit auf die Reise durfte, die Bücherliebe ihres Mannes geht mittlerweile so weit, dass für Heiligabend ein Leseverbot ausgesprochen werden musste.
Streng genommen hat Angelika Rehse vor ihrem Debut dann doch schon ein wenig geschrieben. Aber eher für den Hausgebrauch: Tagebücher, die Familienchronik, kleine Kurzgeschichten, Reiseberichte für die Verbandszeitschrift ihres Manns und auch eine Abhandlung über die Stellung der Frau im Alten Testament. Aber eben kein Buch.
Die Idee dazu kam der geschichtsinteressierten Frau tatsächlich erst, als sie vor dem ehemaligen Haus ihrer Eltern in Schlesien stand.
Schlagartig fielen ihr die Erzählungen ihrer Mutter ein.
Die Gespräche der Heimatvertriebenen, die sie als Kind heimlich unter den Fenstern der Baracken belauscht hatte.
Der Nachbarsjunge, der von seinen Eltern unendlich viel Prügel bezogen hatte – und der dann die Vorlage für den kleinen Josef in ihrem Roman lieferte.
Wie passte das alles zusammen – die Behauptungen, man habe von nichts gewusst? Oder nicht anders gekonnt? Was hatte sich in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts tatsächlich ereignet? Warum machten sich so viele das Gedankengut des Dritten Reichs offenbar so schnell zu eigen? Und als Großmutter trieb sie vor allem auch die Frage um, ob die heutige Jugend tatsächlich gegen alle Anfeindungen gegen die Demokratie gefeit sei.
Angelika Rehse, die schon im Konfirmandenunterricht mit unbequemen Fragen aufgefallen war, fing an zu recherchieren. Gründlich. Sprach mit Historikern und Zeitzeugen, wühlte in Archiven und Bibliotheken. Und ließ sich sogar von einem Züchter zeigen, wie Kaninchen geschlachtet werden. Um ganz nebenbei zu erfahren, dass manche Rassen während des Dritten Reichs umgetauft werden mussten, weil sie den Namen des französischen Erzfeindes in ihrer Bezeichnung getragen hätten.
Sie fing an zu schreiben, verwarf die Anfänge, legte das Papier immer wieder zur Seite. Ohne ihren Mann, da ist sich Angelika Rehse sicher, wäre das Projekt vielleicht gescheitert. Immer wieder habe er ihr den Rücken gestärkt und sie ermuntert. Und als die Geschichte dann endlich fertig erzählt war, habe nicht nur der Verleger gestöhnt: „zu lang“. Auch einer der Söhne wollte die ausufernde Rahmenhandlung lieber gestrichen sehen.
408 Seiten sind es dann doch geworden. 408 Seiten, die von einem kleinen Jungen erzählen, dem es an Liebe und Geborgenheit mangelt und der auf ganz subtile Weise von den braunen Machthabern für ihre Zwecke missbraucht wird. Und von einem alten Mann, der seine Schuld erkennt und wenn schon nicht auf Vergebung, so doch zumindest auf Verständnis hofft.
Eine Geschichte, die zu Herzen geht – vor allem, wenn sie so gekonnt vorgetragen und vorgelesen wird wie von der Autorin selbst. Kürzlich war Angelika Rehse mit ihrem Buch zu Gast in einem Seniorenzentrum – mit selbstgebackenen schlesischen Mohnkränzla* übrigens. Keine Stecknadel hätte man fallen hören können – so gebannt lauschten die Zuhörer der empathischen und stets zugewandten Frau. Schnell wurde der Vergleich zu den Fake News der heutigen Zeit gezogen. Und ein ehrliches, vermutlich aus der langen Lebenserfahrung resultierendes Fazit gezogen: „Ich persönlich möchte für mich nicht die Hand ins Feuer legen, dass ich in der Zeit ein Gutmensch gewesen wäre.“
Wie junge Leute wohl auf diesen Text reagieren werden? Wären sie sich ihrer Sache so sicher? Für ihren nächsten Auftritt vor einer Schulklasse hat sich die Autorin viel vorgenommen: Die Jungen und Mädchen wachrütteln und hellhörig machen für das, was heute abläuft. Und ihnen bewusst machen, dass Freiheit und Demokratie keinesfalls selbstverständlich sind.
Es bleibt zu hoffen, dass ihre Botschaft auf fruchtbaren Boden fällt.
*P.S. Das Rezept für die leckeren Kekse wollen wir nicht vorenthalten:
Dafür wird benötigt: 100g gemahlener Mohn, 175g Butter, 100g Zucker, 1 Pck. Vanillezucker, ½ Pck. Backpulver, 150g Mehl, 100g Stärke, 1 Prise Salz, 5EL Milch
Und so geht’s: Den Often auf 180°C Ober/Unterhitze vorheizen. Butter, Zucker und Ei schaumig rühren. Den Mohn mit Mehl, Stärke, Backpulver und Salz dazugeben und alles kurz zu einem glatten Teig verrühren. So viel Milch hinzufügen, dass der Teig spritzfähig ist. Diesen dann mit einer großen Sterntülle auf ein Blech mit Backpapier spritzen. Die Plätzchen auf mittlerer Schiene 10 bis 15 Minuten goldbraun backen. Aus dem Ofen nehmen und, trotz besseren Wissens, direkt einen Mohnkränzla probieren!
Pendragon
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Fehlt im Rezept für die Mohnplätzhen nicht die EI-Angabe? 😉 Mit fröhlichem Gruß aus Berlin-Kreuzberg in meine Ravensberger Heimat von der Nestflüchterin (1967) aus sancta herfordia. 🙂