ÁMBAR – Ein Blick hinter die Kulissen

Interview mit dem argentinischen Autor Nicolás Ferraro. Er wurde 1986 in Buenos Aires geboren und studierte Grafikdesign. Heute arbeitet er in der Abteilung für Kriminalliteratur der Nationalbibliothek. Er entdeckte das Noir-Genre für sich und schrieb daraufhin seinen Debütroman »Dogo« (2016). Mit »Ámbar« (2023) gewann er den renommierteren Premio Hammett und die englische Ausgabe (»My favourite Scar«) wurde für den Edgar Allan Poe-Award nominiert. Seine Romane wurden ins Portugiesische, Französische, Italienische und Englische übersetzt.

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Was hat dich zu diesem Buch inspiriert, einer Mischung aus Coming-of-Age-Roman, Roadtrip und Noir?

Vor Jahren habe ich zufällig den Trailer zu Debra Graniks Film Winter’s Bone gesehen, der auf dem gleichnamigen Roman von Daniel Woodrell beruht. Dabei ist mir aufgefallen, dass die Protagonistin ein junges Mädchen in einer gewalttätigen Männerwelt ist, eine ungewöhnliche Figur in dieser Art von Geschichten. Das Bild hat sich mir eingeprägt. Als männlicher Autor kann es schnell passieren, dass man weibliche Figuren zu klischeehaft darstellt. Das wollte ich vermeiden. Außerdem sollte es ein Teenager sein, weil die Pubertät die Zeit ist, in der man seine Identität ausbildet. Und dass Ámbar als Tochter eines Kriminellen ihre Identität
immer wieder neu erschaffen muss, erschien mir ein äußerst interessanter Konflikt als Ausgangspunkt. Das war wie eine Coming-of-Age-Geschichte in Dauerschleife.
Die Vorstellung, dass die Noir-Literatur im Grunde eine Literatur der Verzweiflung ist, hat mir geholfen, meine Geschichte besser zu verstehen. Die Figuren sind nicht immer böse und kriminell, sondern vor allem verzweifelt. Sie wollen überleben und irren dabei herum, sind heute hier und morgen dort … das alles hat den Eindruck verstärkt, dass die Protagonisten sich nicht wirklich vorwärtsbewegen, sondern von sich selbst entfernen, dass sie ständig irgendetwas zurücklassen, T-Shirts, Freundschaften, Bekannte, Häuser, Teile ihrer Geschichte. Es sind Menschen, zu deren Lebensform chronische Verlassenheit gehört.

Die Protagonistin Ámbar schlägt sich mit typischen Teenager-Problemen herum – Schule, Freunde, Jungs –, nur dass sie zudem noch ihren kriminellen Vater auf seinem Rachefeldzug begleitet. Wie war es, eine solche Figur zu erschaffen, was war das Schönste und was das Schwierigste daran?

Gerade diese beiden Aspekte unter einen Hut zu bringen, war schwer. Ámbar ist ein fünfzehnjähriges Mädchen, aber sie ist keine typische Fünfzehnjährige. Die Tatsache, dass sie die Tochter eines Kriminellen ist, verleiht ihr eine größere Reife als anderen Jugendlichen in dem Alter, eine Abneigung gegen die Welt und Wissen, das sie nicht haben sollte: wie man ein Auto stiehlt, eine Schusswunde näht oder schießt. Aber dennoch hat sie die gleichen Wünsche wie ihre Altersgenossinnen. Es ist, als würde ihr Herz für die gleichen Dinge schlagen, aber mit Stacheldraht umwickelt sein, der so was Triviales von ihr fernhält. Als Tochter von Víctor Mondragón muss sie sich daran gewöhnen, alles zurückzulassen und sich ständig zu verstellen. Und wenn dem Herzen etwas zu lange verweigert wird, wird der Herzschlag irgendwann zu dem verklingenden Echo dieses Wunsches, der sich nie erfüllen wird. Ich glaube, das Schönste und das Schwierigste war, zu erzählen, wie Ámbar sich langsam und schmerzvoll den Stacheldraht abreißt, der ihr Herz umschließt.

Auf dem Roadtrip mit ihrem Vater besucht Ámbar verschiedene Orte in Argentinien. Sind das ganz konkrete Orte, an denen du selbst schon warst, oder hast du sie aus anderen Gründen ausgesucht?

Ich hatte nicht das Glück, diese Orte zu bereisen, aber mir gefällt der Satz, dass im Nirgendwo alle Orte gleich sind. Ich bin in Tandil aufgewachsen, einer Stadt in den Bergen mitten in der Provinz Buenos Aires. Daher rührt vielleicht meine Liebe zu diesen Orten, wo man nicht selten mit einem Gewehr bewaffnete Männer zu Pferd begegnete und die Grundstücke so weit auseinanderlagen, dass die Nachbarn sich angewöhnt hatten, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, weil die Polizei sowieso zu spät kommen würde. Es ist also kein bestimmter Ort, der mich reizt, sondern eher diese Gegenden. Gegenden, in denen man allein ist. Im Guten, ja, aber vor allem im Schlechten.

Im Roman werden auch kulturelle Aspekte behandelt, wie zum Beispiel die Sprache Guaraní und folkloristische Gebräuche. Wie wichtig war es dir, sie zu beschreiben, und hast du gehofft, sie dadurch anderen Kulturen näherzubringen?

Für mich ist das Entscheidende an einer Geschichte nicht, was man erzählt, sondern wie man sie erzählt. Deshalb ist es wichtig, die Handlungsorte angemessen zu darzustellen. Es sind die Details, die letztendlich eine ganz bestimmte Atmosphäre schaffen. Und was der Umgebung in Ámbar ihre Identität verleiht, ist nicht nur die rote Erde, die Hitze oder die Vegetation, sondern auch die Sprache, die Art und Weise, wie die Figuren miteinander reden. Zu alledem kommt noch die Mythologie und der damit verbundene Glaube. Eine Gegend ist nichts ohne ihre eigenen Stimmen. All das hat dazu beigetragen, dass eine schon unzählige Male erzählte Geschichte von Verfolgung und Rache sich von diesen Motiven löste und ein ganz eigenes Leben bekam.

Der Roman ist vielschichtig, und man kann unterschiedliche Botschaften hineininterpretieren. Welche ist dir persönlich am wichtigsten?

Beim Schreiben gehe ich immer von einer konkreten Situation aus, einem Konflikt, der die Figuren zwingt, ihre Komfortzone – oder das, was sie dafür halten – zu verlassen und etwas Neues zu entdecken. Nicht nur in der Welt um sie herum, sondern vor allem in sich selbst. Daraus entstehen dann andere Themen und Botschaften,
aber das sind eher Nebeneffekte. Neben dem Thema der Identität hat es mich außerdem interessiert, was passiert, wenn die Familie, die ja eigentlich ein Zufluchtsort sein sollte, der Ort der größten Gefahr ist.

In dem Roman erscheint alles ganz natürlich. Wie war der Schreibprozess? Hast du alles vorher geplant oder hast du die Geschichte ihren eigenen Weg gehen lassen?

Ganz am Anfang stand dieses Bild des Tattoos von Ámbars Namen auf der Haut ihres Vaters, von seiner Lieblingsnarbe. Eine Worddatei mit einer halben Seite Text, die lange Zeit einfach nur auf meinem Computer war. Dann kam die Pandemie, ich zog um und habe wegen der Beschränkungen nicht viel mitgenommen. Einen Schreibtisch, einen Computer, einen Stuhl und ein paar Bücher. Und da fiel mir diese halbe Seite wieder ein. Ausgehend von ihr, fing ich an zu schreiben und entdeckte die Geschichte, während ich schrieb. Ansonsten habe ich oft drei oder vier Szenen, die mir als Leuchtfeuer dienen und mich leiten, während ich nach und nach herausfinde, was dazwischen passiert. Ich versuche, zu erreichen, dass sich die ersten Szenen organisch entwickeln. Ich denke daran, was die Figuren brauchen und nicht was ich selbst als Autor brauche.

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