Fernweh, Heimweh. Wir ersehnen und suchen das, was wir nicht haben. Zu spüren, was uns fehlt, ist überwältigend. Wir glauben ja zu wissen, wie es sich anfühlt, noch bevor wir es gefunden haben. Und so raubt uns die Sehnsucht manchmal den Schlaf, bemächtigt sich der Träume, macht uns blind und hellsichtig, treibt uns fort. An Orte und zu Menschen, die sie vielleicht stillen könnten, unsere Sehnsucht.
Meine Sehnsucht war die Seefahrt. Bevor ich überhaupt die Viertel meiner Heimatstadt Reutlingen kannte (das Tor zur Schwäbischen Alb genannt, von Schleppern und Kränen, Docks und Kanälen tausend Kilometer entfernt), klangen mir schon Lieder über Schiffe und die Fremde in den Ohren. Ich weiß noch, wie die erste Fahrt verlief; ich schlich mich heimlich fort, als Mutter schlief. Ja, schon als Knirps wurde mir die Sehnsucht nach Meer und weitem Himmel in den Kopf gepflanzt. Und schuld daran war Anne, meine Schwester.
Anne – damals noch ein Twen – war ein Fan von Freddy. Es verging kein Tag, an dem nicht seine Lieder aus ihrem Zimmer tönten. Und so wurde für mich der singende Seemann aus Österreich, der beständig von der inneren Zerrissenheit sang, keinen Platz in dieser Welt zu finden, zum Inbegriff des Seefahrers als dem ewig Getriebenen. Fuhr ein weißes Schiff nach Hongkong, hatte er Sehnsucht nach der Ferne, aber dann in weiter Ferne, hatte er Sehnsucht nach Zuhaus. Das Heimweh nach St. Pauli war seine Berufung. Rastlos, den Elementen ausgesetzt und nur dem Abenteuer verpflichtet, blieb er auf tragische Weise unbrauchbar für jede soziale Gemeinschaft. Was mir als mittelmäßigem Schüler und lausigem Fußballer sehr entgegen kam. Natürlich war Freddy, das spürte ich damals schon, eine Art domestizierter Seemann, der auch zum Schwiegersohn taugte. Richtige Seefahrer waren wildere Gesellen, die auf der Haut Anker-Tatoos und im Mund Goldzähne trugen. Aber meinem kindlichen Gemüt reichte Freddys grober schwarzer Rollkragenpullover völlig aus, um meine Fantasie zu entzünden. Nur der Wind, nur der Wind. Weiß, wie einsam wir sind. Nie war allein sein schöner.
Ich erinnere mich an die sentimentalen Stunden mit Anne, in der Bude unterm Dach, die sie selbstironisch „Backfisch-Bar“ nannte und passend dekoriert hatte. Ein Fischernetz mit blauen Glaskugeln als Schwimmer hing an der Schräge über unseren Köpfen, und durch die halbgeöffnete Luke wehte der seltsame Geruch der Dachschindeln herein. Der Duft nach gebranntem Ton und Teer. Für mich roch es nach Hafen.
Meine Schwester zeigte mir Bilder von Hamburg. Nächtliche regennasse Straßen, auf denen sich grelle Leuchtreklamen spiegelten, die taghell beleuchtete Werft „Blohm und Voss“. All die Ansichten für den Touristen wurden für mich zu Traumbildern, die mich nicht mehr losließen. An solchen Abenden vergaß ich, dass draußen vor dem Fenster die Schwäbische Alb lag, wo wir immer mit der Familie an den Wochenenden hinauf mussten. Wenn meine Schwester die Dachluke öffnete, gab es für mich nur die blaue Dunkelheit des Meeres. Anne hatte mein Leben auf den Kopf gestellt. Zum Meer hin seien es von Hamburg aus die Elbe lang noch hundert Kilometer, sagte sie und wusste auch, dass man in der Seefahrt die Stunden in „Glasen“ misst. In jener Welt galt sogar eine andere Zeitrechnung.
Wir haben Hamburg und den Norden nie besucht. Meine Schwester und ich wollten natürlich schon, doch am Ende gewann immer die bodenständige Mutter und der Bodensee. Aber die Sehnsucht blieb, daran konnte sie nichts ändern.
Jetzt lebe ich seit fünfundzwanzig Jahren im Sehnsuchtsort meiner Kindheit, in Hamburg. Und genau so lange gehe ich nun schon als Familienurlaub einmal im Jahr segeln. Auf immer demselben Segelschoner unter holländischer Flagge. Der Skipper des hundert Jahre alten Schiffes und seine Familie sind inzwischen zu Freunden geworden, und oft sitzen wir abends noch an Deck und erzählen uns bis spät in die Nacht Geschichten. Früher fuhr er große Pötte, aber seine Liebe galt immer den Windjammern. Die Langeweile auf den vollautomatisierten Containerschiffen sei unerträglich. Er habe sich Seefahrt anders vorgestellt. Mit diesem Schiff lebe er seinen Traum. Das Wasser klatscht an die Kaimauer, die Takelage knarzt und aus dem Salon unter Deck erklingt leise Musik. Was will das Meer von mir? Es lässt mir keine Ruh´. Komm wieder her zu mir! Ruft es mir zu.
Freddy. Mir zuliebe.
Alexander Haeusser
Letzte Artikel von Alexander Haeusser (Alle anzeigen)
- Edith - 31. Januar 2020
- Tantes Plätzchen - 23. Dezember 2016
- Nur der Wind - 25. Juni 2015
Bildquellen
- Möwen: Oliver Berghold