Raymond Radiguet war ein Phänomen der französischen Literatur, wie sein großer Bewunderer und Freund Jean Cocteau ihn betitelt. Cocteau, seineszeichens ebenfalls einflussreicher Schriftsteller und Maler, ist von dem jungen Mann geradezu bezaubert, wie man in seinen ausschweifenden Briefen nachlesen kann. Diese Briefe wurden nun erstmals von Hinrich Schmidt-Henkel ins Deutsche übersetzt und, zusammen mit weiteren Briefen und Texten, der bibliophilen Ausgabe des Klassikers »Den Teufel im Leib« beigefügt, welche dieses Jahr bei Pendragon erschienen ist. Hier gibt es bereits einen kleinen Vorgeschmack.
»Raymond Radiguet habe ich bei einer Gemäldeausstellung kennengelernt, gemeinsam mit Max Jacob. Er ließ sich nie die Haare schneiden. Seine Haare bauschten sich wie ein Backenbart auf seinen Wangen, und er war sehr, sehr kurzsichtig. Als er mich zum ersten Mal in der Rue d’Anjou besuchte, sagte das Dienstmädchen: »Im Vorzimmer sitzt ein Kind mit einem Spazierstock.« Tatsächlich, er trug einen leichten Stock, und später ein Monokel. Er ist das Wunderkind des Romans, so wie Rimbaud das Wunderkind der Dichtung. […]
Mit vierzehn Jahren wusste Raymond Radiguet alles und brachte uns alles bei. Und wir gingen bei ihm in die Schule. Sein Tod durch Typhus war umso eigenartiger, als er von nichts anderem träumte als alt zu werden. Er verabscheute die Wilde’sche Sicht auf die Jugend. Er vereinte den Übermut der Kindheit mit dem Ernst des reifen Alters. Ich sperrte ihn wie einen Schüler ein, damit er seine Meisterwerke schrieb. Fast jeden Tag sperrte ich ihn ein, damit er Den Teufel im Leib schrieb. Das Ende hatte er hingeschludert wie bei einem Schulaufsatz. Dann kehrte er mit mir nach Chantilly zurück, um es ins Reine zu schreiben. […]
Ich muss auch erklären, dass Raymond Radiguet seine Klassiker gelernt hatte. Raymond Radiguets Klassiker waren unsere Bücher. Er las sie bei seinem Vater, am Boden eines Bootes auf der Marne in Le Parc-de-Saint-Maur, wo er wohnte. Er trat wie ein Widerspruchsgeist auf den Plan, mit anderen Worten, alles, was für uns neu war, wischte er weg. Er war der erste, der zu mir sagte: »Wir müssen schreiben wie alle anderen.«
Mit »schreiben wir alle anderen« meinte er zum Beispiel, einen Roman zu verfassen oder ein Gedicht, ein gereimtes. Er sagte: »Wir müssen abschreiben, denn es ist unmöglich, bei jemandem abzuschreiben, der etwas Eigenes hat; also verschafft man sich durch das Abschreiben eine Grundlage, und dann beweist man sich darin, wo abzuschreiben unmöglich ist.« […]
Radiguet hat den Fluch der großen Auflage erfunden. Er sagte: »Flüche sind tot, ein Buch muss man durch eine hohe Auflage verfluchen, es muss in sämtliche Hände geraten und darf nur in den Händen bleiben, die es wirklich behalten, vor den Augen, die es wirklich lesen wollen.«
Das war vollkommen neu, wie alles mit Radiguet. Sein »neu« sah nicht immer neu aus, denn er stand im Gegensatz zu einer extrem aufrührerischen und skandalträchtigen Epoche. Es ging ihm insgesamt um eine Ordnung, eine Unordnung, die Ordnung darstellte. Darum habe ich später meinem Festvortrag im Collège de France den Titel De l’ordre considéré comme une anarchie [Über eine als Anarchie betrachtete Ordnung] gegeben.«
Aus Jean Cocteau, André Fraigneau, Gespräche, Éditions du Rocher, Monaco 1988. Erstmals ins Deutsche übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel.
Pendragon
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