U

Januar 2006

Der Schweiß lief mir in Strömen den Rücken herunter. Ein Blick auf die Sanduhr. Es waren erst sieben Minuten vergangen. Ein dicker Mann erhob sich ächzend von seinem Handtuch. Das Holz knarrte leidvoll unter seinen schweren Schritten. Geräuschvoll schloss er die Tür. Nun war ich ganz allein in der Sauna und sinnierte darüber, dass Männer scheinbar weniger Scheu hatten, ihre ganze Leibesfülle öffentlich zur Schau zu stellen. Schemenhaft konnte ich das Dünengras und den breiten Strand von St. Peter-Ording erkennen. Nur die spärlich beleuchtete Holzbrücke, die von der Uferpromenade bis zum Meer führte, war etwas deutlicher zu sehen.
Weitere drei Minuten verrannen. Ich starrte in das künstliche Kaminfeuer in der Schwitzhütte und stellte mir das Prasseln von Holzscheiten vor. Draußen herrschten Minusgrade und ein eisiger Wind vom Meer brachte zusätzliche Kälte. Bei diesem Wetter ging niemand freiwillig spazieren.
Noch fünf Minuten ausharren. Das Atmen fiel mir schwer. Sediert von der Hitze blickte ich aus dem Fenster hinaus ins Dunkle. Eine Gestalt rannte die Brücke hinunter zum Meer. Ich wunderte mich über das Tempo, denn die Holzbohlen waren schon am Nachmittag rutschig gewesen. Jetzt mussten sie spiegelglatt sein. Eine zweite Gestalt rückte in mein Blickfeld. Im Laufschritt versuchte der Größere den Kleineren einzuholen. Der glitt aus, fiel und rappelte sich gleich wieder hoch. Dennoch verringerte der Verfolger den Abstand, war nur noch wenige Meter entfernt. Ich hielt den Atem an. Die Hitze war beinahe unerträglich. Mein Herz schlug schneller. Der Größere packte den Kleineren an der dicken Jacke und hatte ihn fest im Griff. Er nahm den Kleinen an die Hand, der nun folgsam mit dem Verfolger Richtung Promenade verschwand. Ich musste über mich selbst lachen. Ich las wohl doch zu viele Krimis. Offenbar war ein Kind bei einem abendlichen Spaziergang ausgebüchst.
Die Sanduhr war längst abgelaufen. Nichts wie raus hier. Der kühle Wind umfing mich. Ich sog die eiskalte Luft zur ersten Abkühlung ein. Noch einmal kehrte mein Blick zur Seebrücke zurück, die nun wieder menschenleer war. Ich schnappte mir einen Schlauch und richtete den harten Wasserstrahl auf meinen rechten Fuß. Mein Herz setzte einen kurzen Schlag aus.
Es waren nur wenige Besucher in der Dünentherme. Um diese Jahreszeit wirkte St. Peter-Ording immer fast gespenstisch ausgestorben. Viele Restaurantbesitzer und Geschäftsinhaber hatten nach dem Trubel um Neujahr nun die Gelegenheit genutzt, auch mal Urlaub zu machen. Scheinbar schätzten nur wenige Besucher die graue Melancholie der Nordsee, die dem Januar so eigen ist.
Noch rasch ins Tauchbecken und dann ein warmes Fußbad. Das Beste am Saunieren war das wohlig-warme Gefühl danach. Nur mit dem Bademantel bekleidet schlappte ich durch den Gang, der das Hotel mit der Dünentherme verband. Außer mir schien niemand mehr unterwegs zu sein. Dabei war es erst acht Uhr abends. Wahrscheinlich saßen die wenigen Gäste bereits beim Abendessen oder waren schon wieder zum Fernsehgucken auf ihren Zimmern. Der lange verlassene Flur in der vierten Etage atmete Einsamkeit. Mein Zimmer lag ganz am Ende des Gangs. Dort angekommen blickte ich gedankenverloren aus dem Fenster in die Dunkelheit. Auch in der Dünentherme gingen so langsam die Lichter aus und in der Ferne sendete ein Leuchtturm in regelmäßigen Abständen kleine Lichtblitze in die Nacht hinaus. Ich verharrte noch einen Augenblick und öffnete dann mit einiger Mühe die Tür zu meinem Zimmer mit einer Chip-Karte. Was war aus den guten alten Hotelschlüsseln geworden?
Ich verspürte keinen Hunger. Nachmittags hatte ich mir ein großes Stück Kuchen in einem der altmodisch anmutenden Cafés gegönnt, das gut und gerne zwei Mahlzeiten ersetzte. Fast hätte ich mich auf die Suche nach einem anderen Lokal gemacht, aber ich war durchgefroren von einem langen Spaziergang auf dem Deich …

***
Stickige Heizungsluft und der Duft von frischem Kaffee schlugen mir entgegen. Das Café war mit zwölf Tischen und anderen auf antik getrimmten Möbeln vollgestopft. Zwei überdimensionierte Kristallleuchter ließen den Gastraum in wenig schmeichelhaftem Licht erscheinen. Dicke Teppiche schluckten jedes Geräusch. Wenigstens die Blumen in der Vase auf den Tischen waren echt. Aber die Kuchenauswahl war unschlagbar – noch dazu hausgemacht.
„Moin“, wurde ich strahlend von einer rundlichen Bedienung begrüßt.
Schnell zog ich die Hand von dem Rosenblatt zurück. Ich fühlte mich ertappt.
„Was darf’s denn sein?“ Als Lina, so hatte sie sich vorgestellt, die Bestellung aufnahm, sprachen wir kurz über das ungewöhnlich frostige Wetter.
„Aber ab morgen soll’s tauen“, verkündete sie lächelnd. „Dann kann man auch endlich wieder am Strand spazieren gehen.“
Sie zwinkerte mir aufmunternd zu. Offenbar hatte die Optimismus ausstrahlende Kellnerin mir meine Enttäuschung angemerkt. Denn der ansonsten für ausgedehnte Spaziergänge so ideale Strand war in den letzten Tagen eine einzige Eisfläche gewesen. Wie auf rohen Eiern war ich direkt nach meiner Ankunft zur Wasserkante geschlittert. Nach der Fahrt von Bielefeld an die Küste führte mein erster Weg stets direkt ans Meer. Am Ufer hatten sich jedoch nur schmutzig-bräunliche Eisklumpen bewegt, wie in einer Maschine für Softdrinks – nur nicht so appetitlich. Die Wellen hatten dafür gesorgt, dass sich kleine Klippen am Ufer aufgetürmt hatten. Ein außergewöhnlicher Anblick. Als ich nach Norden blickte, konnte ich in der Ferne das Blinken des Leuchtturms Westerhever erkennen.
Ich trank meinen Cappuccino und aß genüsslich die Friesentorte. Erst als ich bezahlen wollte, merkte ich, dass ich der letzte Gast war. Lina sah müde aus und ich lud sie ein, sich zu mir zu setzen. Wir kamen ins Plaudern. Sie erzählte mir von ihren Reisen in ferne Länder, die ihr Mann und sie gemacht hatten. Ich hörte aufmerksam zu. Südostasien hatte mich auch schon immer fasziniert. Lina schwärmte von Kambodscha, Laos und besonders von Thailand. Von der Schönheit der Tempel, der tropischen Vegetation, den sanftmütigen Menschen und den herrlichen Stränden. Ihre Augen bekamen einen besonderen Glanz. Dann erwachte sie aus ihren fernen Erinnerungen, warf einen raschen Blick auf die Uhr.
„Oh, jetzt muss ich mich aber beeilen. Ich muss meinen Sohn vom Sport abholen.“
Ich zahlte und verließ das überheizte, aber gastliche Café. Fröstelnd zog ich die Schultern hoch und machte mich vorsichtig auf den Weg zum Hotel. Für einen Spaziergang war es zu ungemütlich. Zeit für die Sauna.
***
Am nächsten Morgen wachte ich früh auf. Der Himmel bleischwer und grau. Feiner Nieselregen schlug gegen die großen Panoramascheiben des Frühstücksraums. Nur drei andere Gäste saßen verstreut in dem großen Restaurant. Eine Kellnerin lehnte gähnend an der Theke, während ihre Kollegin gelangweilt Rotweinkelche polierte, die für meine Begriffe bereits blitzblank waren.
„Tee oder Kaffee“, leierte die Bedienung betonungslos ihr Morgenritual runter, kaum dass ich Platz genommen hatte. Ich bediente mich ausgiebig am reichhaltigen Büffet. Croissants und Nutella, Eier und Speck waren eine Kaloriensünde wert. Ich würde das später wieder ablaufen, beruhigte ich meine mahnende innere Stimme.
Ich blickte aus dem Fenster Richtung Strandpromenade und Seebrücke. Lina hatte recht gehabt. Tauwetter. Ich bestellte noch einen Kaffee und las in der Zeitung. Am späten Vormittag hatte der Wind die Regenwolken vertrieben, der Horizont war zumindest hellgrau. Ich fuhr mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock. In meinem Zimmer kramte ich meine Sportsachen hervor und griff meine Walkingstöcke. Hinterm Deich gab es in einem kleinen Kieferwäldchen schöne Laufstrecken. Der Boden war schnell matschig geworden, aber nicht mehr halb so glatt. Rasch fand ich mein Lauftempo und folgte der Beschilderung tiefer in den Wald. Es nieselte wieder. Abgesehen von einem älteren Pärchen traf ich keine Menschenseele. Das Haar hing mir bereits tropfnass im Gesicht. Ich lief immer tiefer in den Wald hinein. Schon seit geraumer Zeit hatte ich keine Wegweiser mehr gesehen. Gerade wollte ich umkehren, als es plötzlich im Unterholz knackte. Ich fuhr herum und sah hinter einem Strauch einen Mann. Wir starrten einander wie versteinert für den Bruchteil einer Sekunde an. Der Mann machte einen Schritt auf mich zu. Bedrohlich, wie mir schien. Ein kleiner elektrischer Stoß schoss mein Rückgrat hinauf bis zum Nacken. Panisch drehte ich mich um, klemmte die Stöcke unter die Arme und rannte so schnell ich konnte den Weg zurück, den ich gekommen war. Erst als mir die Luft wegblieb, wagte ich es, mich mit schmerzenden Lungen umzudrehen. Der Mann war verschwunden. Erst jetzt fiel mir auf, dass er nur eine dünne Windjacke getragen hatte. Und er hatte irgendwie anders ausgesehen. Fremd. Aber ich hatte ihn nur flüchtig gesehen. Rundes Gesicht, schwarze Haare, wahrscheinlich auch dunkle Augen, aber seine Haut war so hell wie meine gewesen.

Völlig durchnässt und mit schlammbespritzten Schuhen kam ich eine Stunde später im Hotel an, erleichtert ein bekanntes Gesicht zu sehen. Doch die Rezeptionistin musterte mich missbilligend von oben bis unten, als hätte sie höchstselbst gerade das Entrée gewischt. Oben in meinem Zimmer angekommen, stellte ich mich lange unter die warme Dusche. Danach streckte ich mich auf dem blütenweißen Laken aus. Ein flaues Gefühl in der Magengrube blieb. Ich schalt mich einen Angsthasen. Wahrscheinlich hatte ich den Mann nur beim Pinkeln erwischt. Dann dämmerte ich weg.
Eine Stunde später schreckte ich mit rasendem Herzen hoch. Mein Magen knurrte. Ich hatte unbändigen Hunger auf etwas Süßes. Linas Café, das wäre jetzt genau das Richtige.
Zwischenzeitlich war dichter Nebel von der See her aufgezogen. Ich konnte keine fünfzig Meter weit gucken. Es war, als würden die Feuchtigkeitspartikel alle Geräusche dämmen. Auf der Straße begegnete ich weder Mensch noch Fahrzeug. Ich wich einigen Pfützen aus und stand kurze Zeit später wieder auf den schweren Teppichen. Die Stimmung im Café hatte sich verändert. Die wenigen anwesenden Gäste unterhielten sich gedämpft, flüsterten beinah. Lina war nirgends zu sehen. Eine andere Bedienung erkundigte sich knapp nach meinen Wünschen. Ich fragte nach Lina.
„Haben Sie es noch nicht gehört?“, fragte sie schockiert. „Linas Sohn ist verschwunden.“
„Wie, verschwunden?“, entgegnete ich entgeistert.
„Gestern Abend. Es muss so zwischen sieben und neun gewesen sein. Lina hatte U vom Sport abgeholt und mit ihm eine Kleinigkeit gegessen. Dann ist sie noch mal allein los, um ihren Mann von der Arbeit abzuholen.“
„U?“, fragte ich.
„Ja, so heißt der Kleine. Seinen richtigen Namen kann keiner aussprechen. Er kommt aus Thailand. Der Arme hat vor gut einem Jahr beim Tsunami seine Eltern verloren. Lina und Udo machten dort gerade eine Rundreise, als die Welle im Süden die Küste erwischte. Sie sind dann dorthin gefahren, um zu helfen. Der kleine U war erst acht und total traumatisiert. Lina und Udo haben sich um ihn gekümmert und schließlich adoptiert. Das erste halbe Jahr hier hat er kein Wort gesprochen. Immer nur mit großen traurigen Augen in die Welt geguckt. Ich glaube, er fand es beruhigend, dass der Strand hier so breit und das Meer so weit weg ist“, fügte sie nachdenklich hinzu.
„Hat er sich denn dann gut eingelebt? Das war doch sicher schwierig“, erkundigte ich mich, ohne eine genaue Vorstellung davon zu haben, wie fremd sich der Junge hier gefühlt haben musste.
„Ja, das war eigenartig“, sagte Linas Kollegin langsam. „Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, lebte der Junge plötzlich auf, lachte viel und lernte auch unheimlich schnell Deutsch. Ein richtiger kleiner Sonnyboy. Alle hier haben ihn ins Herz geschlossen.“ Sie seufzte. „Hoffentlich finden sie ihn schnell. Er ist schon einmal weggelaufen, aber das war ganz am Anfang. – Und da war es auch nicht so kalt draußen.“ Den letzten Satz flüsterte sie nur noch.
Plötzlich hatte ich keine Lust mehr auf Kaffee und Kuchen. Ich entschied mich für einen Espresso, den ich viel zu heiß hinunterkippte. Ich verbrannte mir die Zunge und mein Magen rebellierte gegen das bittere Gebräu. Eilig verließ ich das Café, zog mich rasch im Hotel um und begab mich wieder auf die Walkingstrecke durch den Wald. Das Laufen wurde ja fast schon zur Manie. Aber ich war unruhig. Da half erfahrungsgemäß nur Bewegung. Als ich meinen Laufrhythmus fand, nahm die Nervosität ab. Ich atmete tief ein und aus. Der Druck auf meiner Brust verschwand allmählich. Ich verscheuchte den Gedanken an die seltsame Begegnung mit dem Mann vom Vormittag. Es wurde bereits dunkel. Der Wind fegte durch die Bäume und zerrte an meinen Haaren. Die dürren Bäume bogen sich. Ich schaute nach oben, als könnte der wachsame Blick verhindern, dass ich von einem herabstürzenden Ast erschlagen würde. Dann lag ich am Boden, mein Knie schmerzte. Die Baumwurzel hatte ich übersehen. Vorsichtig streckte ich mein rechtes Bein aus. Das funktionierte fast reibungslos. Gut, also nichts gebrochen. Ich stützte mich mit den Händen auf, die noch immer in den Schlaufen der Stöcke steckten. Ungeduldig befreite ich sie. Jetzt reicht’s mit Sport, schimpfte ich vor mich hin. Gerade wollte ich den Rückzug antreten, da bemerkte ich etwas Blaues auf dem Weg. Ich beschleunigte meine Schritte und ignorierte das lädierte Knie. Als ich näher kam, sah ich, dass es ein Turnschuh war – in Kindergröße. Hektisch blickte ich mich um, ohne zu wissen wonach. Alles war still. Der Wind hatte den Atem angehalten. Langsam dämmerte es mir, dass dies die Stelle sein musste, wo ich den Fremden gesehen hatte. Ob er etwas mit Us Verschwinden zu tun hatte?
Vorsichtig fasste ich den Schuh am Schaft an und machte mich schleunigst auf den Rückweg. An der Rezeption fragte ich, wo ich die zuständigen Polizeibeamten erreichen konnte, die sich um den Fall des vermissten Jungen kümmerten. Die Dame an der Rezeption beäugte mich misstrauisch, gab mir dann aber kommentarlos die Nummer.
Wenig später saß ich mit einem Polizisten in der Lobby. Er nahm den Schuh in Empfang und ließ sich schildern, wo ich ihn gefunden hatte. Ich erzählte ihm auch von dem Fremden, konnte aber keine exakte Personenbeschreibung geben. Der Beamte war nicht begeistert und hatte es sehr eilig, wieder auf die Wache zu kommen. Zwischenzeitlich hatten sich die Einwohner von St. Peter-Ording zusammengefunden und verschiedene Suchtrupps gebildet. Die Polizei setzte Spürhunde ein.

Am nächsten Tag hingen überall im Ort DIN-A4-Zettel mit Us Foto und der Bitte, sich zu melden, wenn jemand etwas über seinen Verbleib wüsste. Auch die Lokalzeitung veröffentlichte den Aufruf auf der ersten Seite und im Radio bat die Polizei um die Mithilfe der Bevölkerung.
Doch alle Bemühungen blieben ergebnislos. Der Neunjährige blieb verschwunden.
Ziellos streifte ich durch St. Peter-Ording. Eigentlich auf der Suche nach einer neuen Winterjacke. Aber mir stand der Sinn nicht nach Shopping. Das erschien mir zu belanglos. Was Lina wohl durchmachte? Ich mochte es mir gar nicht ausmalen.
Nach einem frühen Abendessen war ich direkt in mein Zimmer gegangen. Ich saß auf dem Bett und betrachtete die sternenlose Dunkelheit. Es war unendlich still. Kaum zum Aushalten. Ich schaltete den Fernseher an. Us Verschwinden war sogar Thema in der „Tagesschau“. Ein Foto aus glücklicheren Tagen wurde eingeblendet. Der Junge lachend am Strand. Dann die Suchtrupps, die jeden Quadratzentimeter der Umgebung durchkämmt hatten. Ohne Erfolg. Nach neuesten Erkenntnissen fahndete die Polizei nach einem einschlägig vorbestraften Sexualstraftäter, der erst vor neun Monten aus der Haft entlassen worden war. Ich schloss die Augen. Nein, bitte nicht, flüsterte ich.

Am nächsten Morgen regnete es heftig. Ich fuhr mit dem Auto nach Ording. Eine Besserung des Wetters war nicht in Sicht. Ich parkte den Wagen und kletterte auf den Deich. Sich richtig durchpusten lassen, das macht den Kopf frei, sagte ich mir. Ich hatte schlecht geschlafen. Der blutige Thriller, den ich im Gepäck hatte, erschien mir nicht die geeignete Ablenkung in Anbetracht der Umstände. Und auch das Fernsehen brachte nur Mord und Totschlag. Und zu allem Überfluss eine Reportage über Sextouristen, die sich in Thailand an Minderjährigen vergingen. Gruselig.
Der Wind blies mir die Haare ins Gesicht. Selbst auf diese Entfernung war das wütende Tosen des Meeres zu hören. Im Schutze des Deiches lagen idyllisch einige schöne Häuser. Was für ein Luxus, so wohnen zu dürfen, dachte ich. Jeden Tag das Meer direkt vor der Haustür zu haben. Ob die Bewohner das noch zu schätzen wussten? In einiger Entfernung hatte sich eine Gruppe von Menschen versammelt, die lautstark etwas riefen. Ein Geburtstagsständchen vor der Haustür?, überlegte ich. Der Norddeutsche lässt sich aber auch durch nichts abhalten. Neugierig beschleunigte ich meine Schritte und behielt die seltsame Versammlung fest im Blick. Beim Näherkommen sah ich, dass einige mit Knüppeln bewaffnet waren, und andere zornig die Fäuste schwangen. Alles Männer, eine Frau war nicht dabei.
„Komm raus, du Schwein! Dann zeigen wir dir mal, wie das ist, wenn man sich an Schwächeren vergreift!“
„Ja, genau! Wir kriegen dich! Los, wir brechen die Tür auf!“, brüllte ein anderer.
Ich blieb wie angewurzelt auf dem Deich stehen. Während ich mit klopfenden Herzen überlegte, was da vor sich ging, bogen zwei Polizeiwagen um die Ecke. Die Beamten sprachen beschwichtigend auf die Männer ein und bahnten sich energisch ihren Weg zur Haustür, die nun einen Spalt breit geöffnet wurde. Die Polizisten verschwanden im Haus. Ein Mann rief empört: „Den schützt ihr? Aber was ist mit unseren Kindern?! Wer schützt die vor so ’nem perversen Miststück?“
Langsam löste sich die Versammlung auf. Die eben noch so entschlossen wirkenden Männer gingen mit hängenden Schultern ihrer Wege. Zwei von ihnen kamen direkt auf mich zu.
„Entschuldigung …“, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen.
Sie blickten nicht auf.
Ich räusperte mich und setzte dieses Mal etwas lauter an: „Entschuldigung! Ich möchte mich nicht einmischen, aber was ist da denn passiert?“
Zwei müde blickende Augenpaare guckten mich an. „Was ist das für ein Staat? Der da“, er deutete mit einer wütenden Handbewegung auf das jetzt wieder friedlich wirkende Haus, „hat meinen Jungen und wird auch noch von der Polizei beschützt. Das ist passiert!“
Abrupt wendete er sich ab, um seine Tränen zu verbergen. Der andere Mann legte ihm beschwichtigend seine Hand auf die Schulter und zog ihn weiter.
Ich wollte am liebsten vor Scham im Boden versinken. Aber wieso beschützen? Hatte die Polizei den Täter denn nicht festgenommen? Und warum war U dann offenbar noch nicht zu Hause?

An meinem letzten Urlaubstag ging ich noch einmal ins Café. Lina stand müde hinter der Kuchentheke. Ihre Augen verquollen und das blonde Haar klebte stumpf am Kopf. Sie versuchte ein schwaches Lächeln.
„Nichts Neues?“, fragte ich leise.
Sie schüttelte stumm den Kopf. Wir guckten uns einige Sekunden an.
„Was ist denn mit diesem … diesem Mann, den sie verdächtigt haben?“ Ich brachte es nicht über mich, das Wort Pädophiler in ihrer Gegenwart auszusprechen.
„Die sagen, er hätte ein Alibi.“
Wir schwiegen.
„Ich vermisse ihn so.“ Linas Stimme zitterte. „Auch wenn er nur ein Jahr bei uns gelebt hat, ist es, als sei er schon immer da gewesen. Ich glaube nicht, dass ihm etwas passiert ist. Ich würde das doch spüren, wenn er tot wäre.“
Ihre Stimme wurde bei den letzten Worten schrill. Ich nickte bestätigend, obwohl ich anderer Meinung war.

Januar 2011

Mein Haar war schweißnass. Die leichte Sommerhose klebte an meinen Oberschenkeln. Ich war jedes Mal dankbar, wenn sich der Ventilator in meine Richtung drehte. Drei Wochen war ich kreuz und quer durch Thailand gereist. Oft hatte ich dabei an Lina denken müssen, obwohl mein Urlaub an der Küste schon fünf Jahre zurücklag. Wie es ihr wohl ging. Nach alldem … Ich wünschte, sie wüsste, dass sie mich zu dieser Reise inspiriert hatte. Ich ließ die üppig grüne Landschaft an mir vorbeiziehen. Der klapprige Bus hatte schon das Pensionsalter überschritten und so erreichte ich mein Ziel erst nach Einbruch der Dunkelheit. Ein kleines Fischerdorf an der Ostküste. Ein Motorradtaxi brachte mich zu einer einfachen Bungalow-Anlage direkt am Strand.
Ich war der einzige Gast. Die Hitze hatte nachgelassen und erst jetzt merkte ich, wie hungrig ich war. Nach einer schnellen Dusche ging ich die wenigen Meter zum Restaurant, das aus vier Tischen mit Stühlen direkt im Strand bestand. Zufrieden bohrte ich die bloßen Zehen in den noch warmen Sand. Die kleinen Wellen plätscherten träge ans Ufer. Zikaden zirpten und irgendwo bellte ein Hund.
Die Besitzerin, eine resolute Thai um die fünfzig, brachte mir ein Glas kühles Wasser und die Speisekarte. Zu meiner Erleichterung waren die Gerichte auch auf Englisch beschrieben. Ab und an auf der Reise hatte ich mich mit gebratenem Reis begnügen müssen – das Einzige, was ich auf Thai bestellen konnte, wenn die Menüs nicht übersetzt worden waren. Langsam blätterte ich die Karte durch. Zu meiner großen Überraschung standen dort auch einige Gerichte auf Deutsch. Das hatte ich selbst in Bangkok nicht erlebt. Englisch war die Sprache der Wahl. Ich fragte die nette Besitzerin, ob sie deutsch spräche.
„Ich? Nein“, wehrte sie auf Englisch ab.
„Aber wer hat die Speisekarte übersetzt?“ Ich war wirklich neugierig, denn während das Deutsch sprachlich einwandfrei war, hatte die englische Übersetzung die typisch witzigen Verdreher wie Frech Fried für Pommes.
Sie deutete vage in Richtung des Nachbarhauses. „Das war der Junge.“
Ich lobte seine ausgezeichneten Deutschkenntnisse. Die Restaurantbesitzerin strahlte. „Er ist ein guter Junge. Immer freundlich und hilfsbereit, dabei hat er so viel Schreckliches erlebt.“
Ich blickte sie fragend an.
„Tsunami“, sagte sie. Wir schwiegen beide einige Sekunden. „Seine Mutter starb und sein Vater lag mehrere Monate im Koma. Dann hat er sich auf die Suche gemacht. Der Junge war fast ein Jahr verschwunden. Keiner weiß, wo er war. Die Familie spricht nicht darüber.“
„U?“, fragte ich.
„Kennen Sie ihn?“

Eike Birck

Eike Birck

Manchmal fragt man sich, wann Eike Birck schläft. Neben ihrer Funktion als Pressefrau und Lektorin im Pendragon Verlag ist sie zudem Romanautorin und Redakteurin für zahlreiche Magazine. Als wären diese Aufgaben noch nicht genug, hat sie ihr Herz der Arminia Bielefeld verschrieben und fiebert bei jedem Heimspiel live im Stadion mit. Und dann sind da auch noch ihre Reisen quer durch die Welt, von denen die lebensfrohe Historikerin etliche spannende Geschichten zu erzählen weiß.
Eike Birck

Letzte Artikel von Eike Birck (Alle anzeigen)

Bildquellen

Kommentar verfassen