Herzensbrecher

Manchmal stiftet einen lohnende Lektüre zu Überlegungen an, die einen in ganz abseitige Gefilde führen. So ging es mir mit dem neuen, exzellenten Roman „Das Regenmobil“ von Nicholson Baker (Rowohlt). Der Amerikaner Baker, ein Liebhaber detailreicher Schilderungen, schlüpft hier in die Rolle des Lyrikers Paul Chowder, der mit dem Manuskript für seinen neuen Band „Kummermütze“ (ein nicht gerade verkaufsfördernder Titel) nicht recht vorankommt. Kein Wunder: Seine Freundin Rosslyn hat ihn vor einiger Zeit verlassen und er dümpelt vor sich hin, genervt von den zwischen Mäkelei und seufzender Geduld getragenen Anmerkungen seines Verlegers. Er gewöhnt es sich an, Zigarren zu rauchen und verliert sich in Betrachtungen von Gegenständen wie etwa einem Regenmobil, einer sich autonom bewegenden Sprinkleranlage für den Garten, mit dem er die Tomaten seiner Nachbarin wässert. Also ein Meister der Schluffigkeit und Prokrastination, der das Schreiben der Gedichte immer weiter hinausschiebt und sich stattdessen lieber mit dem Songschreiben befasst. Er, der einstige Fagottspieler, möchte lieber Dance-Songs verfassen und investiert deshalb in kostspielige elektronische Geräte und Keyboards, mit denen er Loops und Rhythmen erzeugen kann. Wie Baker den Spagat zwischen der lebendigen Darstellung dieser Gegenstände und dem Porträt eines ehrgeiz- und orientierungslosen Dichters hinbekommt, ist einfach meisterhaft und liebenswert zugleich, zumal sich in dem Roman wunderbare Anmerkungen zu vielen Popsongs finden. Zum Beispiel greift sich Baker mehrfach den von Paul McCartney geschriebenen Beatles-Song „Blackbird“ heraus. Er beschreibt den Sechs-Ton-Sprung, den der Song in der Textzeile „Blackbird singing in the dead of night“ bei dem Wörtchen „of“ vollführt, und damit melodisch symbolisiert, wie die Amsel angesichts einer stockfinsteren Nacht ihren Gesang anhebt. Daraufhin habe ich mir bei youtube diverse Aufnahmen und Coverversionen von „Blackbird“ angehört und –gesehen. Besonders herzzereißend ist ein Clip, der einen jungen Vater auf einer Geburtstation mit einem sterbenden Säugling zeigt. Seine Frau ist bei der Geburt gestorben und auch sein Sohn wird die Nacht nicht überleben. Man sieht also den Mann mit seiner akustischen Gitarre da sitzen, wie er als Abschiedslied „Blackbird“ singt, unterlegt vom Wummern der Herzrhythmusmaschine, an die der kleine Junge angeschlossen ist. Wirklich Tränen rührend und man fragt sich am Ende, wie man eigentlich darauf gekommen ist, sich dieses Video anzusehen. Es fällt einem (fast) nicht mehr ein. Subtile Inspiration, das ist das Kennzeichen eines wirklich großartigen Romans…

Hellmuth Opitz

Hellmuth Opitz

Durch einen guten Deutschlehrer entwickelte Hellmuth Opitz in der Oberschule eine Liebe zu Gedichten. Die Faszination, auf kleinem Raum neue Welten zu entfalten, ließ ihn seitdem nicht mehr los. Als Songtexter für seine Folkrockband konnte der Dichter dann erste Erfahrungen im Verfassen von Lyrik sammeln. Heute denkt er zunehmend in Bildern. Beim Spazierengehen löst sich die eine oder andere „poetische Lawine“ in ihm und Ideen werden „locker getreten“. Ein wehleidiger Weltschmerz-Dichter ist er auf keinen Fall, eher bringt er den Leser durch seine ironisierte Sichtweise zum Schmunzeln. Zur Ablenkung vom kopflastigen Tagesgeschäft hört er gern Musik, geht Darts spielen oder steht für seine Kickertruppe im Tor. Im Pendragon Verlag erhältlich sind seine Gedichtbände "Engel im Herbst mit Orangen", "Die Sekunden vor Augenaufschlag" und "Die Dunkelheit knistert wie Kandis".
Hellmuth Opitz

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  • blackbird-1283862_1280: https://pixabay.com/de/amsel-vogel-tier-hintergrund-1283862/

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