Szenen aus einer Kindheit
von Gérard Scappini
1-
Diese fensterlose
enge Küche ängstigt mich.
Unter dem Waschbecken
versteckt
Mama
den weißen Nachttopf
aber
genau dort hausen Kakerlaken,
die nachts
aus der Wand heraus kriechen
und durch
die kleine Küche rascheln.
Als ich
Marie-Louise meinen Mut
demonstrieren will
und einen langen schwarzen Kakerlak zertrete
zerknickt
das Gerippe
unter meinem Fuß,
mehliges Blut leimt den zermalmten Rumpf
an meine dünne Schuhsohle.
Ich flüchte aus dem Raum
so schnell ich kann
und kuschele mich weinend
in Mamas Arme.
2-
Eine Sensation.
Henri,
der ein echtes Rennrad fährt und in einem Verein trainiert,
gar an richtigen Rennen
teilnimmt,
habe ich heute besiegt!
An diesem Nachmittag
klettere ich
wie mein Idol Charly Gaul,
ich mag keine französischen Stars
Arrogant finde ich Sie.
Gaul dagegen kommt aus einem kleinen Land,
ist bescheiden,
radelt stark und redet nicht viel.
Vom Start weg
zerstampfe ich meine geklumpte Kraft auf die Pedale,
zerre die Lenkstange nach vorne,
kippe das Rad zwischen den Beinen bis Wade und Schenkel schmerzen.
Ich steige hinauf ohne mich umzudrehen,
das Gesicht verzerrt,
den Mund weit offen,
den Blick nur auf diese Strecke geheftet
und passiere als Erster die Ziellinie.
Danach steht die Straße Kopf,
bricht der Jubel aus!
Alle skandieren meinen Namen.
Umarmt,
getätschelt,
geküsst,
mit Wasser beschwippt.
Und Francine
überreicht mir drei rote Klatschmohne.
Sogar Onkel Raymond, ein älterer Anwohner,
der die Sommertage wie festgenagelt an seinem Fensterbrett verbringt,
kriecht die Treppe hinunter,
um mir zu gratulieren,
fädelt sportliche Pläne für mich ein.
Niemand sieht Vater.
Er nähert sich.
Sein zorniger Blick löst die allgemeine Freude auf.
Angst breitet sich auf meinem Gesicht aus.
Ich stehe wackelig auf den Beinen.
Bleich.
Während Vaters rechter Arm unwiderruflich nach Hause zeigt.
Als ich an ihm vorbeitappe,
zerbröselt eine schallende Ohrfeige meinen Triumph.
– Monsieur Napolitana, ruft Onkel Raymond, will Vaters Zorn hemmen und erzählt begeistert meine Großtat.
– In der Schule muss er siegen, nicht auf der Straße!
3-
Ohne
Mama zu wecken
schleiche ich mich ins Schlafzimmer,
stupse Marie-Louise wach
um mit ihr zu spielen.
Die Sonne
scheint durch die Dachluken
und annonciert schon einen heißen Sommertag.
Mit Marie-Louise
blättere ich in ihrem Bilderbuch,
wir kichern,
sie presst häufig ihren Zeigefinger gegen den Mund,
ermahnt mich ruhig zu bleiben.
Langsam
dreht sich Mama um,
öffnet
ihre Augen,
sieht uns beide in Marie-Louises Bett sitzen.
Morgen Mami, lächeln wir entgegen.
Seid ihr schon lange auf? fragt sie halbwach,
rappelt sich jetzt auf,
sitzt noch
auf der Bettkante,
und öffnet ihr Nachthemd.
Gerade
schaue ich in ihre Richtung,
als
zwei weiße pralle Brüste
sich vor meiner Nase entblößen.
Mutter blickt
mich erschreckt an
verbirgt
blitzartig ihren blanke Busen,
ohrfeigt mich schimpfend mit voller Wucht.
Noch
konsterniert über ihre Reaktion,
ohne zu verstehen
was gerade geschehen ist,
ich
falsch gemacht habe,
renne ich
schluchzend
aus dem Zimmer.
4-
Eines kalten Winterabends,
während
Mama Kartoffeln schält,
Marie-Louise und ich
unsere Hausaufgabe
schweigend
erledigen,
werkelt Papa,
hörbar genervt,
an dem schönen Kohleherd,
Hochzeitsgeschenk
und zugleich
einziger weißer Fleck in dieser stickigen Küche.
Er beheizt
die gesamte Wohnung,
versorgt die Familie mit warmem Wasser,
trocknet baumelnde Unterwäsche,
die an einer Leine aus Schnur
darüber hängt
und in diesem Backofen
backt Mama wunderbare Apfeltorten.
Pascal, ruft Papa,
gibst Du mir Dein Boot?
ich kaufe Dir später ein neues, stammelt er
das Feuer will ich anzünden,
aber ohne Holz schaffe ich es nicht, verstehst Du?
Still
bleibe ich
schaue ihn an,
nicke,
hole mein Segelschiff,
das letzte Geburtstagsgeschenk Omas aus der Spielkiste
und händige es Papa wortlos aus.
Stolz,
bin ich
ihm helfen zu können
und beobachte schluchzend
wie mein Boot
knisternd
völlig verbrennt.
5-
Die Schaufenster
glitzern in einer feierlichen Stimmung
und ziehen meine Kinderaugen an,
während Vaters Hand, die meine festhält, zur Beeilung mahnt.
Zurzeit hält er sich in der Stadt auf, sagt Mama,
und Du kannst ihm Deinen Brief persönlich abgeben.
Aufgeregt.
bin ich.
Auf einmal
entdecke ich eine Kindermenge,
entweiche
der väterlichen Obhut
renne los.
Sofort
erkenne ich ihn!
In einem Riesenschlitten
hält er sich auf
mit seinem roten Mantel,
an dem noch Schneeflocken von seinen endlosen Reisen pappen,
und seinen
bis zum Knie reichenden roten Stiefeln,
dem langen weißen Bart.
Wie auf den Bildern, seufze ich außer Atem
schlängele mich
durch eine Unmenge von Kindern,
und lasse meinen Brief
in den Schlitz eines viereckigen großen Holzkastens fallen.
Überglücklich bin ich
Wie heißt Du?
Ich schrecke zusammen,
Wie ist Dein Name? wiederholt der Weihnachtsmann lächelnd
Ich erröte,
senke den Blick, antworte leise:
Napolitana, und ziehe höflich meine Mütze herunter.
Nein, nein, strahlt er mich an
seine gelblichen Zähne hervorzeigend,
Deinen Vornamen möchte ich wissen!
und streckt seine,
in weißen Handschuhen versteckten Hände aus
und hebt mich auf seinen Schoß.
Mir
entgeht
in der Aufregung
was der Weihnachtsmann
mir erzählt,
aber
ich fühle
einen wachsenden Stolz in mir,
als ich auf seinem Schoß hockend
mit ihm sprechen darf.
Als wir
In die Rue d’Alger
einbiegen,
zerbröckelt meine Freude.
Vor einem Schuhgeschäft,
inmitten von Kindern,
ragt noch ein Weihnachtsmann empor.
Ich
bin völlig
durcheinander,
kann
es nicht
bergreifen.
Papa, es gibt doch nur einen Weihnachtsmann?
Ja, antwortet Papa, aber die,
die Du gesehen hast,
sind seine Stellvertreter auf Erden, verstehst Du?
6-
Pascal, ruft Mutter,
Du gehst jetzt mit Papa in die Stadt,
es ist doch besser,
Robert, fügte sie hinzu
wenn ein Kind
dabei ist.
Vater
probiert
mehrere Regenmäntel
in verschiedenen Farbtönen an,
entscheidet sich
für den langen grauen.
Im Schaufenster
hatte er ihn
vorher
erspäht
und seine Wahl stand schon vor dem Anprobieren fest.
Nur
die richtige Größe
müsste schon da sein.
Vater
gibt den ausgewählten Gabardine Mantel
an den Verkäufer zurück,
und spricht
ihn diskret an.
Ach, Sie wollen in vier Raten bezahlen? wiederholt er
laut und deutlich.
Einen kleinen Augenblick, Monsieur,
in diesem Falle,
muss ich wohl mit meinem Chef sprechen, und kehrt ihm den Rücken.
Vater
bleibt stehen,
lächelt mich verlegen an, schaut sich
verunsichert in dem Laden um.
Ein
eleganter betagter Mann
kommt
auf ihn zu
stellt sich knapp
mit Monsieur Dumoulin vor
und verlangt nach seinem Ausweis.
Na po li ta na …buchstabiert er fast.
Er blickt zu Vater auf.
Sind Sie Franzose? und schaut flüchtig auf mich.
Ihr Name klingt sehr Italienisch,…ach
tatsächlich sogar hier geboren!
Unwohl
fühle ich mich,
diesen alten
vornehm gekleideten Mann
finde ich
unsympathisch
und wie er Vater taxiert.
Wo arbeiten Sie denn?
Im Arsenal, antwortet Vater leise,
als ob er sich schämen würde.
Dort arbeitet wohl die halbe Stadt, lächelt er süffisant
Wissen Sie, Monsieur, er blickt kurz auf Vaters Ausweis,
den er immer noch in der Hand hält,
für einen Kredit benötige ich
eine Arbeitsbescheinigung,
und eine Lohnabrechnung des laufenden Monats, verstehen Sie.
Habe ich alles dabei, sagt Vater
und holt die Dokumente aus seiner Tasche heraus.
Sie kaufen wohl oft auf Kredit ein, sagt er herabblassend.
Na Gut.
Sie machen jetzt eine Anzahlung über
ein Viertel des Einkaufswertes, und kommen dann
Ende des jeweiligen Monats hierher um die anderen Raten auszugleichen.
7-
Pascal,
ruft mich
Marie Louise
als
ich durch
den Garten einlaufe.
Sie sitzt
unter dem Feigenbaum
und
scheint mich abzupassen
Was ist los? frage ich etwas überrascht.
warum hockst Du hier?
Ich muss
mit Dir reden Pascal
aber schwör mir
zuerst
Du sprichst
mit
niemandem darüber.
ja, klar versprochen, sage ich
aber warum?
Und sie erzählt
fast
ohne Luft zu holen,
noch
unter Schock
und
weint dabei leise.
Martine
meine Freundin
ist heulend
nach Hause gerannt,
sie wird
bestimmt
nie wieder hier
mit mir
spielen wollen.
Und sie beschreibt
wie Vater Mutter als Nutte
beschimpft hat,
die
es vorzieht
mit einem Liebhaber
ins Bett zu steigen
als ihn
im Sanatorium zu besuchen.
Und dabei
hat er sie mit seinen Fäusten
ins Gesicht
geschlagen.
Mehrmals.
Und wo ist Mutter jetzt?
Marie Louise
schluchzt heftig,
Ich kann sie kaum beruhigen.
Pascal, gehen wir zur Oma?
ich kann nicht
in die Wohnung, ich habe Angst.
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- Die Schule des Lebens - 3. November 2016
Bildquellen
- gerard-blog: Gérard Scappini
Habe beim Lesen fast die Luft angehalten. Sehr gute Texte, der Stil gefällt mir. Macht neugierig auf mehr. Gruß Eva
So meistert eure Sätze und pauket euch zur Petze, so grüßet die Gesetze und achtet auf Absätze. Denn das Tippen auf der Taste, das Rühren mit den Schnüren, bestimmet eure Kaste und öffnet viele Türen.
Sehr bewegende Worte, die einen Alltag beschreiben, den nur wenige von uns so kennen.
Gefällt mir sehr und macht neugierig auf mehr!