Andrea Fischer Schulthess: Wer ist sie – und wenn ja wie viele?

Beitrag von Claudia Werning, mit Fotos von Serafin Schulthess

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Die glamouröse Diva, der es nicht genug bling bling geben kann? Oder die neugierige Zoologin, die sich mit dem Fressverhalten des calidris cantus, einer Schnepfenart, auskennt?

Die Femme fatale, für die es rote Rosen regnen soll oder doch eher die Mutter, die auf einem Mamablog eigene Erfahrungen teilt?

Die bunte und laute Darstellerin, die es auf der Bühne so richtig krachen lässt oder die ernsthafte Journalistin, die vor dem Leid der Welt nicht die Augen verschließt?

Höchste Zeit, die Frau mit den gefühlt hundert Leben kennenzulernen. Und wenn schon nicht in ihrem Theater in Zürich, dann zumindest auf der Frankfurter Buchmesse. Denn Andrea Fischer Schulthess ist obendrein auch noch Autorin.

Auch dort ist die 56jährige eine auffällige Erscheinung – mit ihrem türkisfarbenen Petticoat Kleid, das einige Tattoos freigibt, den silbrig grauen Haaren und den knallroten Lippen. Das Buch indes, aus dem sie liest, scheint auf den ersten Blick so gar nicht zu ihrem Outfit zu passen. In „Noch fünf Tage“ erzählt sie die Geschichte einer lebensmüden Buchhändlerin, die ihr Ableben jahrelang minutiös plant, den Abgang aber plötzlich infrage stellt, als es so weit ist.

Schwermut – eine Gemütsverfassung, die auch in Andrea Fischer Schulthess‘ Familie nicht unbekannt ist. Ihre Großmutter beging Suizid, ihre Mutter hat sie eher als abwesend denn liebevoll zugewandt in Erinnerung. Auch sich selbst beschreibt die 56jährige als Außenseiterin. „Ich war das komische Kind, das sich gerne kostümierte und nur Blödsinn im Kopf hatte“, blickt sie zurück. Dass sie noch mit über 50 Jahren die Diagnose ADHS erhielt, scheint vieles im Nachhinein zu erklären und sie selbst nicht zu verwundern.

Die Schule fiel ihr mehr oder weniger leicht – schwieriger war da schon die Entscheidung: Was werden nach dem Abitur? Eigentlich hatte sie mit einem Germanistikstudium geliebäugelt. Aber was sollte sie, die schon immer gerne geschrieben und mit Sprache gespielt hat, da noch Großartiges lernen? Also suchte sie die Herausforderung und entschied sich für Zoologie – obwohl sie eigenen Angaben nach alles andere als eine begabte Naturwissenschaftlerin war. „Ich bin nicht mutig“, stapelt die Schweizerin tief, „aber ich mache Dinge, die ich mir eigentlich nicht zutraue.“ Durchgezogen hat sie das Studium bis zum Ende, einschließlich eines Aufenthalts in den Niederlanden und einer Diplomarbeit über die besagten Wattvögel.

Kürzer war dagegen das Gastspiel, dass die gebürtige Züricherin dann als Lehrerin gab. Zu unkonventionell waren die Lehrmethoden, die Schulleitung not amused. Kurzerhand beendete sie ihr Engagement. „Ich kam mir vor wie eine Staubsaugerverkäuferin“, kommentiert Andrea Fischer Schulthess rückblickend diese Zeit. Aber sie freut sich, dass sie mit einigen ihrer Schülerinnen und Schüler noch heute Kontakt hat.

Es musste also etwas Neues her, Zooführungen alleine waren wirklich nicht abendfüllend genug, und so bewarb sich die junge Frau an der renommierten Ringier Journalistenschule. Daran, dass sie die Aufnahmeprüfung bestehen würde, hatte wohl nur sie selbst Zweifel. Nach der Ausbildung arbeitete sie für verschiedene Zeitungen, unter anderem für den Tagesanzeiger, wo auch der Mamablog erschien. Aber nachdem ihre eigenen Kinder in die Pubertät kamen und ihre Probleme nicht unbedingt öffentlich verhandelt sehen wollten, war auch damit Schluss. Und überhaupt – es schmeckte der Schweizerin so gar nicht, in die Erziehungsratgeberecke abgeschoben worden zu sein. Sie drängte es eher in Richtung Reportage.

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Endlich erwachsen werden – das war der Anspruch, den sie an sich selbst stellte. Aber es bedurfte erst eines Umwegs über die Kommunikationsabteilung der Krebsliga, sie ihre wahre Berufung fand: das Theater. Und eigentlich auch gar nicht so abwegig, wenn man doch schon immer gerne Geschichten erfunden und erzählt hat – am liebsten über Tiere – und zudem mit einem Mann verheiratet ist, der ausgebildeter Schauspieler und Tänzer ist.

Dass sie gemeinsam 2010 das Mini-Theater „Hannibal“ gründeten, ist einem enttäuschenden Theaterbesuch mit ihren Kindern zu verdanken. Das geht doch besser, dachten sich die Eltern und sind seitdem mit Leidenschaft dabei, sich Verrücktes auszudenken, Requisiten zu entwerfen und Geschichten von einer ganz anderen Warte zu erzählen. Spielerisch und ohne erhobenen Zeigefinger. So darf sich das junge Publikum im März nächsten Jahres auf die Premiere eines neu erzählten „Robin Hood“ freuen.

Arg gefordert war das Ehepaar, als wegen Corona keine Aufführungen möglich waren. „Ich wäre verrückt geworden, wenn ich nur hätte rumsitzen dürfen“, gibt die Tausendsassa zu und schüttelt sich energisch. Also stellte sie flugs gemeinsam mit ihrem Mann Adrian monatlich gefilmte Puppenspiele ins Netz, die so großen Anklang fanden, dass mittlerweile nahezu jedes Kind in der Schweiz das „Hannibal“ kennt.

Zu diesem denkbar ungünstigen Zeitpunkt hatte das Ehepaar aber auch schon die Verantwortung für eine andere kulturelle Institution in Zürich übernommen: das Millers, eine Art Kulturfabrik auf einem alten Brauereigelände. Sie als künstlerische Leiterin, er als Barchef, Büro- und Bühnenmensch. Ausgerechnet sie, die nie hatte ein Theater leiten wollen. „Ich bin damals aufgefordert worden, mich um die Stelle zu bewerben“, erzählt Andrea Fischer Schulthess. Gesucht worden sei eine Gastgeberin, die auch über den Tellerrand hinausblicke. „Als ich hinterher erfahren habe, wer alles an diesem Posten interessiert war, hätte ich fast die Panik bekommen“, kann sich die Schweizerin nur allzu gut erinnern.

Aber wie war das doch gleich? Herausforderungen suchen und annehmen, gerade weil man es sich nicht zutraut!

Mittlerweile ist das Millers nicht nur das zweite Zuhause der umtriebigen Kulturschaffenden, sondern auch eine Heimstatt für Varieté, Comedy, Kabarett, Dragshows und die LGBTQ-Community. Fischer Schulthess‘ Ziel war und ist es, ein Gesamtpaket für Kinder wie Erwachsene zu schnüren, einen Ort zu schaffen, an dem man nicht die Norm erfüllen muss. Und das natürlich mit Anspruch: „Das Haus muss sein Profil bewahren“, betont die quirlige Frau, die das Theater inzwischen mit einer weiteren Künstlerin leitet. Eine Herkulesaufgabe, gerade in Zeiten, in denen das Geld nirgends mehr locker sitzt. Halb ernst, halb belustigt fügt sie hinzu: „Satiriker werden bald arbeitslos, sie werden von der Realität überholt.“

Das Theater liegt der 56jährigen aber noch aus einem ganz anderen Grund am Herzen. Gezielt setzt sie die Bühne auch dafür ein, Mittel für Hilfsorganisationen zu beschaffen. „Ich bin ganz gut darin, Geld einzutreiben“, bekennt sie. „Herz und Kohle“ nennen sich beispielsweise Benefiz-Sausen, zu denen sie in unregelmäßigen Abständen ins Millers einlädt. Nachdem die Journalistin das Leid in den Flüchtlingslagern auf Griechenland mit eigenen Augen gesehen hat, werden mit dem Erlös unter anderem dortige Hilfsprojekte unterstützt. Humor und Klamauk, um menschliches Elend sichtbar zu machen? Fischer Schulthess sieht darin keinen Widerspruch. „Humor ist ein trojanisches Pferd“, hat sie einmal gesagt.

Und während ich in Gedanken in der warmen Schreibstube noch einmal zu unserem Gespräch draußen auf der kalten Bank auf dem Frankfurter Messegelände zurückkehre – sie kann das Dampfen einfach nicht lassen – ist die Journalistin längst schon wieder anderswo unterwegs. In Syrien, genauer gesagt in Damaskus. Weil sich nach dem Sturz des Assad-Regimes dort nun die Möglichkeit ergibt, ein Hospital aufzubauen, will sich die 56jährige vor Ort über das Projekt informieren. „Jede Spende hilft und sei sie auch so klein“. Selbst der Kauf nur eines einzigen Krankenwagens sei besser als nichts tun, weist sie Kritiker entschieden in die Schranken. So klingt eine, die hin- und nicht wegschaut.

Dem Nahen Osten fühlt sie sich überhaupt sehr verbunden – vor allem auch als Mutter. Als die Hamas am 7. Oktober 2023 Israel überfiel, hielt nicht nur die Welt den Atem an, sondern auch Andrea Fischer Schulthess ganz persönlich – studierte ihre Tochter zu diesem Zeitpunkt doch dort an der Uni in Nablus. Auch um ihre israelischen und palästinensischen Freunde machte sie sich große Sorgen.

Hartnäckig wie die 56jährige nun mal ist, und unzählige Telefonate und Mails später, schaffte sie es als Journalistin im Frühling dieses Jahres, in die Krisenregion zu reisen. Dort interviewte sie Frauen der israelischen „Women Wage Peace“ Organisation und ihrem palästinensischen Pendant „Women of the Sun“ für eine Reportage. Beide Gruppierungen setzen sich seit Jahren gemeinsam für einen dauerhaften Frieden in der Region ein und wurden auch schon mehrfach für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. „Wenn doch diese Frauen am Verhandlungstisch säßen…“ Sie muss den Satz nicht beenden, um ihre Botschaft zu vermitteln.

Und was kommt als nächstes? Ist sie, die gerne über Flohmärkte bummelt, ein Gläschen Kaiserwässerchen trinkt und gelegentlich auch mal einen Hefezopf backt, jemals zufrieden mit dem bisher Erreichten? Die 56jährige stockt einen Moment: „Gute Frage – ich glaube, ich bin ein Monster, das immer Hunger hat“ und schiebt ein „Vielleicht, wenn ich aufhöre, über mich nachzudenken“ hinterher.

Tja, wer ist sie nun – diese Andrea Fischer Schulthess?

Keine Frau, die in irgendeine Schublade passt.

Aber eine Frau mit einem großen Herz.

Pendragon

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