Tantes Plätzchen

Um es gleich zu sagen: Ich konnte das Geheimnis letzten Endes nicht lüften. Etwas Licht in das Dunkel zu bringen ist mir schon gelungen – aber der Preis für diesen zweifelhaften Erfolg war hoch. Zu hoch. Hätten mich meine Eltern bei der Aufklärung jener rätselhaften Vorgänge, von denen die Rede sein wird, unterstützt, hätten sie mich zum Fragen ermutigt – es wäre alles anders gekommen.

Vater und Mutter war es jedoch Rätsel genug, wie sie jedes Jahr an Weihnachten die Heimsuchung von Tante Edeltraud und Onkel Walter überhaupt überstehen sollten, und es gab für sie anscheinend kein anderes Geheimnis, als dass die Jahre an den beiden ungeliebten Gästen spurlos vorüber gingen.
So bot sich uns jedes Jahr am 23. Dezember um die Mittagszeit der selbe Anblick, als wäre es eine Wiederholung im weihnachtlichen Fernsehprogramm, eine magische Aufzeichnung.
Im Türrahmen lauerte Edeltraud. Klein gewachsen und drahtig, im grünen Lodenmantel, die Wangen immer rosig und straff; überragt von dem schräg hinter ihr stehenden Walter, der – ohnedies hochgeschossen – auch noch einen Filzhut auf dem kaum behaarten Schädel trug. Synchron streckten sie mir die Hände zum Gruß entgegen. Doch bevor ich nach ihnen greifen konnte lagen sie schon auf meinem Kopf, und unendlich viele Finger wuschelten, kraulten und ziepten mein Haar. Ein schallendes Lach dröhnte in meinen Ohren.
Nur wegen mir würden sie kommen. Ich hatte mich von Anfang an bedroht gefühlt.

Sie trugen immer dieselbe Kleidung. Edeltraud blieb in ihrem Lächeln immer faltenlos. Und wenn ich es genau überlege – Walter hatte zu keiner Zeit mehr Haare gehabt.
„Irgendetwas konserviert sie“, flüsterte Mutter einmal und sah kopfschüttelnd in den Spiegel.
„Deine Schwester ist eine Hexe“, zischte Vater zurück, „der ist alles zuzutrauen.“
Mutter wusste im Grunde, dass er Recht hatte. Aber ihr Mitleid mit Edeltraut war stärker. Denn Edeltrauds Ehe war kinderlos geblieben; ihr sehnlicher Wunsch, eigene Kinder zu haben, hatte sich nicht erfüllt. Sicher fühlte sich Mutter verpflichtet, ihrer Schwester wenigstens einmal im Jahr das Gefühl zu geben, im Kreise einer Familie zu sein. Und deshalb nahm sie Edeltrauds Komplimente und Plattitüden so, wie sie eben nicht waren – nett gemeint.

Sätze die Edeltraud immer sagte:
„Dein Kind hält dich jung und schön“,
„Die Kind gibt dir Kraft“,
„Ohne Kinder ist Weihnachten traurig“
… und wie sie zu verstehen waren:
„Du warst schon immer die Hässlichere von uns beiden“,
„Du bist ein elender Schwächling“,
„So viel Glück hast du gar nicht verdient“.

Ich konnte die Kinderliebe von Edeltraud jedenfalls nicht glauben. Hätte sie mich nicht mit Geschenken überhäufen müssen? Hätte sie nicht ihrer Freude an mir durch Bücher und teure Chemie-Experimentierkästen Ausdruck verleihen können? Stattdessen begnügte sie sich jedes Jahr mit selbst gebackenen Plätzchen. Mit einer Tüte Schwarzweiß-Gebäck, die ausdrücklich nur für mich bestimmt war, die ich aber (was mir lange Zeit nicht aufgefallen war) nie probiert hatte. Ich hätte schon früher Verdacht schöpfen müssen. Doch ich hielt mein Gefühl der latenten Bedrohung, der schwelenden Gefahr, die von meiner Tante ausging, für ein Hirngespinst. Es war auf jeden Fall besser, dachte ich, meine wahrscheinlich überreizten Phantasien für mich zu behalten, als damit unnötig meine Eltern zu belasten.

Die rituellen Besuche von Edeltraud und Walter fanden in einer Zeitspanne von etwa zehn Jahren satt, prägten also meine Kindheit. Besonders deutlich erinnere ich mich jedoch an ein Weihnachtsfest in den Siebzigern. Ich muss etwa zwölf Jahre alt gewesen sein und hatte in dieser Phase meines Lebens durchaus einen Hang zu Okkulten. Ich hatte mich in Alchimie versucht und nicht nur unseren Wohnungsschlüssel vergoldet – und las abends im Bett stundenlang gruselige Literatur von Dingen auf der Schwelle und seltsamen Verwandlungen. Ich liebte es, in Vollmondnächten keinen Schlaf zu finden, liebte und fürchtete es. Denn was ich als Kind mühsam getrennt und in Gut und Böse geschieden hatte, damit es mich nicht verwirren konnte, begann sich in dieser Zeit meines Lebens zu vermischen und übte eine große Faszination auf mich aus. Das fing bei den Mädchen an, reichte über geblümte Hemden bis zu den Weihnachtsplätzchen. Nichts war eindeutig. Alles trug immer schon seinen Gegensatz in sich. Ich war sehr durcheinander, sehr dünnhäutig, aber auch irgendwie hellsichtig. Eine Hellsicht, die mich am späten Nachmittag jenes 23. Dezembers plötzlich erkennen ließ, woher der Schrecken von Edeltrauds und Walters Besuchen eigentlich rührte.

Wie in jedem Jahr saßen wir an diesem Nachmittag im verdunkelten Wohnzimmer und mussten Walters Urlaubsdias und seinen Ausführungen folgen. Dutzende von Magazinen mit leuchtenden Sommerbildern von norwegischen Fjorden und Wandertagen, auf denen ein kleiner, von Walter dirigierter Licht-Pfeil die Marschroute der Tante und des Onkels anzeigte, denen ja nichts anderes blieb, als Reisen zu unternehmen, weil sie niemanden hatten, der sie zu Hause hielt. Ich musste Vater nicht sehen, um zu wissen, dass er mit den Augen rollte: uns hielt viel zu Hause – vor allem das Geld. Tatsächlich waren Edeltraud und Walter reich und ließen keine Gelegenheit aus, damit anzugeben. Sie sprachen von ihrem Haus „im Grünen“ (ich glaubte lange, das sei ihre Adresse) und von dem großen neuen Auto „das vor der Tür wartete“. Vater ließ sich einmal zu der Bemerkung hinreißen, dass man die wirklich wichtigen Dinge im Leben ja nicht mit Geld kaufen könne. Worauf mich Edeltraud mit stechenden Augen ansah.
Die Fjorde und Wälder ratterten vorbei. Ich wurde schläfrig. Ein Zweig des Weihnachtsbaumes reichte an den Projektor, und unter der Hitze der Glühbirne verströmten die Tannennadeln einen betäubenden Duft, der den Raum erfüllte. Ein Geruch von unendlich weiten Wäldern, in denen Trolle ihr Unwesen trieben und Zaubersprüche die Geschicke der Menschen lenkten. Ich träumte. Was, wenn es diese Wesen wirklich gab? Und welches dieser unheimlichen Wesen steckte im Kleid meiner Tante?
Erst als Edeltraud bei einem Magazin-Wechsel aufsprang, um die schwarzweißen Plätzchen zu holen wurde ich munter. Mutter und Vater wechselten vielsagende Blicke und rückten enger zusammen. Es wurde ganz still, nur der Ventilator des Projektors rauschte.
Ich kannte Tantes Gebäck-Zeremonie, ihre Ansprache, wie viel Mühe sie sich gegeben habe, all die Liebe, die darin steckte, dass sie dabei nur an mich gedacht habe und all ihre Gedanken und Wünsche darin eingebacken seien; ich wusste, dass sie jedes dieser kleinen Schachbrett-Plätzchen mit spitzen Fingern in eine eigens mitgebrachte Glasschale legen und auf den Tisch stellen würde. Ich hatte das alles schon etliche Male erlebt, aber zum ersten Mal spürte ich ganz deutlich, dass die drohende Gefahr, die ich bislang nur als dumpfes Gefühl gekannt hatte, von diesem Plätzchen ausging.
Edeltraud schob mir die Schale mit dem Gebäck zu.
„Nur für dich!“, sagte sie und starrte mich an.
„Komm, iss!“
Ihre Augen funkelten, und ein Speicheltröpfchen rann über die Unterlippe auf ihr Kinn.
Ich konnte meinen Blick nicht abwenden. Wie hypnotisiert griff ich nach einem der trocken und staubig aussehenden Plätzchen – und öffnete den Mund.
Wäre Edeltraud nicht durch meinen Vater abgelenkt worden, dem vermeintlich aus Versehen ein Dia-Magazin aus den Händen gefallen war – ich hätte es mir in den Mund gesteckt. Doch so war der Bann gebrochen, und Mutter konnte mir das Plätzchen unbemerkt aus der Hand nehmen und zurücklegen.
„Er hebt sich das für später auf“, sagte sie zu Edeltraud, und die Erleichterung war ihr deutlich anzumerken. Meine Tante war verstimmt.
Es gab kein später. Der Dia-Vortrag ging zu Ende, der Besuch war vorüber, ohne dass ich die Plätzchen noch einmal zu Gesicht bekommen hatte.
Erst als Edeltraud und Walter längst wieder auf der Autobahn waren (ihr Auto war sicher froh gewesen, nicht mehr warten zu müssen), entdeckte ich das Gebäck zufällig zwischen Zwiebelschalen und gebrauchten Kaffeefiltern im Küchenabfall.
Ich stellte Mutter zur Rede. Sie erklärte mir sanft, dass mich meine Tante auf ihre Art sicher lieb habe, ihre Plätzchen aber ungenießbar wären. Niemandem könne man die Backkünste ihrer Schwester zumuten. Vater nickte betroffen und wuschelte zärtlich mein Haar.
Ich hätte mich mit der Erklärung begnügen sollen. Läge es in meiner Macht, ich würde es sofort ungeschehen machen, dass ich damals aus kindlicher Neugier eines der Plätzchen aus dem Abfall holte, um seine Wirkung auszuprobieren. Doch nicht an mir selbst – wie feige ich war! -, sondern an der Katze der Nachbarin.
Mohrle hieß sie, war schwarzweiß wie das Gebäck, und ich gab ihr das Plätzchen im Hausflur auf der Treppe. Nie werde ich vergessen, was sich dort in der Silvesternacht abspielte – allein, dass ich ein Kind war, mag meine Handlungsweise verständlich machen und entschuldigen.
Sterne vielen vom Himmel und vor den Fenstern sprühte Feuer., als Mohrle mit ihrer kleinen rosafarbenen Zunge zögerlich das Plätzchen leckte, um schließlich – von mir ermuntert – davon abzubeißen. Sie kaute nur kurz.
Während sich das Treppenhaus mit Rauchschwaden füllte und zischend Raketen in den Nachthimmel schossen, löste sich das Kätzchen vor meinen Augen in wenigen Sekunden in Luft auf. Und blieb verschwunden.
Meine Eltern und die Nachbarin sagten, das arme Tier habe – vom Lärm des Feuerwerks geschockt – panisch die Flucht ergriffen und wahrscheinlich sei ihm in der Nacht etwas zugestoßen.
„Das nächste Mal klappt es bestimmt!“, hatte Edeltraud nach ihrem Besuch beim Hinausgehen im Treppenhaus gerufen. Ich hatte Mutter fragend angesehen.
„Noch länger zu bleiben“, war ihre Antwort gewesen.
Aber ich wusste jetzt, was Edeltraud wirklich gemeint hatte.

Schwarzweiß-Gebäck

Für den unschuldigen hellen Grundteig

200g Butter
100g Puderzucker
1 Päckchen Vanillezucker
1 unbehandelte Zitrone
2 Eier, 1 Eigelb, 300g Mehl
50g Speisestärke

Für die „dunkle Seite“ der Geschichte

2 Essl. Kakao
2 Essl. Rum
1 Msp. gemahlener Zimt

Für später
Eiweiß

Zutaten des Grundteigs mit dem Knethaken des Handrührers zu einem glatten Teig verkneten. Teig in zwei Portionen teilen In eine Hälfte davon die dunkle Seite der Geschichte kneten. Teige in Folie gewickelt eine halbe Stunde kühl stellen.
Jeweils zwei gleich lange helle und dunkle kantige Stränge formen (Durchmesser jeweils 1,5 cm). Stränge rundherum mit Eiweiß bestreichen. Jeweils einen hellen und dunklen Strang aneinander setzten, das andere Paar farblich versetzt darauf legen, gut andrücken. Evtl. noch einmal kaltstellen. Strang in etwas 45 Scheiben schneiden. Auf mit Backpapier ausgelegte Backbleche legen. In den auf 175 Grad/Umluft vorgeheizten Backofen schieben. Etwa 12-14 Minuten backen.

Gefahrlos essen.

Alexander Haeusser

Alexander Haeusser

Nachdem er an der Universität Tübingen sein erstes Seminar zum kreativen Schreiben bei Walter Jens besucht hatte, war es um Alexander Häusser geschehen: Autor wollte er sein, und nichts anderes! Dieses Ziel verfolgte er mit ganzem Einsatz und veröffentlichte 1994 seinen ersten Roman. Zudem ist er heute als Drehbuchautor tätig. Die Themen, die er behandelt, müssen naheliegend sein. Ausdauernd widmet er sich der Frage, wie große Geschichte sich auf die „kleine Geschichte“ des Einzelnen auswirkt und warum Menschen auf eine bestimmte Art und Weise handeln. Neben dem Schreiben genießt er zudem kabarettistische Auftritte auf der Bühne und legt Wert auf gute Unterhaltung.
Alexander Haeusser

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