In einer Billardkneipe, die es nicht mehr gibt, traf ich einen Mann, der so nicht existierte. Es war ein Dienstag vor ziemlich genau einem Jahr. Einmal die Woche spielte ich in einer netten Runde ein Pokerturnier. Nein, nicht was Sie jetzt denken, es ging nicht um Haus und Hof, nein, der Einsatz betrug lediglich 15 Euro. Zu gewinnen gab es Sachpreise, die den jeweiligen Wert von 60 Euro nicht übersteigen durften. Klingt also alles nur noch halb so aufregend. Mein Hobby. Turnierpoker. Ich spiele gerne. Aber nur live. Am Tisch. Mit und gegen richtige lebendige Menschen, von denen ich zuweilen nur die Vornamen kenne, aber die mir mittlerweile sehr ans Herz gewachsen sind. Es ist fast schon eine Art Familientreffen. Menschen, die zusammenkommen, um zu gewinnen. Dabei nie vergessen, dass es um den Spaß an der Sache geht und die Liebe zu einem Kartenspiel, um das sich viele Mythen ranken. Geschichten von Gewinnern, Geschichten von Verlierern. Schnelles Geld, tiefer Fall. Schicksale. Tragödien. Ein Spiel, das Existenzen vernichten kann und auch schon hat. Reichlich. Eine Stadt im Südwesten der USA lebt davon. Pokern ist wie alles im Leben: Außer Kontrolle ist nichts auf der Welt gut. Nicht einmal die Liebe. Sie wissen bestimmt, was ich meine.
Aber eigentlich geht es hier gerade nicht um Poker, sondern um diesen Mann, der so nicht existiert, in einer Billardkneipe, die es nicht mehr gibt. Ich spreche von Wolf. Tom Wolf, Ex-Zielfahnder des BKA. Der ewig Suchende. Der harte Typ, der sein Herz schon vor Jahrzehnten an die Liebe seines Lebens verloren hat: ausgerechnet an die Frau seines besten Freundes. Sie sehen, auch Romanfiguren haben ihre Probleme. Und manchmal werden sie auch lebendig. Wie an jenem Abend. Da stand er also: Wolf. So, wie ich ihn immer gesehen hatte, vor meinem geistigen Auge, wenn ich ihn durch die Welt irren ließ, auf der Suche nach Philip, nach Peter, nach etwas Glück in seinem Leben. Wolf, der Mann klarer Regeln und Prinzipien. Ein Mann der Extreme. Ein Kerl. Ein richtiger Typ. Er stand an die Bar gelehnt und nippte an einem Jacky-Cola, unterhielt sich mit dem Wirt, dem Schweeg. Ich musste ihn angestarrt haben, jedenfalls drehte er sich um und sah mir direkt in die Augen. Diesen Blick hatte ich unzählige Male beschrieben. Wie auch die sparsamen, kontrollierten Bewegungen. Jede Linie in seinem markanten Gesicht. Die grauen Bartstoppeln. Das geschorene Haar. Der drahtige Körperbau. Und diese Ausstrahlung irgendwo zwischen „Willste Ärger? Kannste haben“ und „Lass mich in Ruhe“, die schnell in „Ruhe in Frieden“ umschlagen konnte.
Die Pokerpartie ging los. Ich setzte mich und wartete auf Karten. Doch irgendwie lief das Spiel an mir vorbei. Ich spürte Wolf in meinem Rücken. Es gab ihn also. Ausgerechnet in einer Spelunke (Das ist liebevoll gemeint.) in Ingelheim stand er in aller Seelenruhe an der Bar und … ja, was? Wartete auf mich? Bestimmt nicht. Aber diese Begegnung sollte Folgen haben. Doch zunächst hatte meine mangelnde Konzentration auf das Spiel Folgen für mich und meinen Chipstand. Ich glaube, schon nach einer Stunde war ich All-in und dann alles los. Ich stand auf, wünschte meinen Freunden noch viel Glück und wollte mich wieder Wolf widmen. Mir war am Tisch eine Idee gekommen: Ich würde einen Trailer zum Thriller machen. Wolf hetzt die Meute. Mit dem echten Wolf in der Hauptrolle. In meinem Kopf existierte der Film bereits. Ich sah die Bilder, hörte die extra dafür komponierte Musik. Jeder Schnitt saß, jede Szene war bis ins kleinste Detail durchdacht.
So viel zur Theorie. Die Praxis stellte mich vor ein Problem: Wie schaffte ich es, Wolf dafür zu gewinnen? Sie verstehen das Problem nicht?! Ich sag es mal so: Sie wollen, als Typ, einen Film drehen und müssen einen anderen Kerl dafür im schummrigen Licht einer zweifelhaften (Entschuldigung Schweeg!) Kaschemme ansprechen. Etwa so: „Hi, ich drehe einen Film und bringe dich ganz groß raus!“ Ich meine, wir waren nicht in Hollywood oder von mir aus auch in Babelsberg, nein, wir waren in Ingelheim. (Sie dürfen jetzt gerne auf der Karte nachsehen.) Wissen Sie jetzt, was ich meine? Jedenfalls fiel mir nichts Besseres ein, ich musste es einfach probieren. Als ich mich umdrehte, war er verschwunden.
René Fischer. So hieß mein Wolf. Inhaber einer Berge- und Abschleppfirma ganz in der Nähe. Passte ja irgendwie. Schließlich versuchte auch meine Romanfigur immer etwas zu bergen und hoffte, von Anke abgeschleppt zu werden. Na ja, so ähnlich jedenfalls. Viel mehr war aus dem Wirt nicht rauszubekommen. Was für mich hieß, Wolf in seiner Firma aufzusuchen, wollte ich an meinem Plan festhalten, den Trailer zu produzieren.
Wieder wollte es das Schicksal, dass wir uns begegneten. Zwei Wochen später. Wieder in jener Spelunke. Wieder stand er an der Bar. Wieder trank er Jacky-Cola. Ich grüßte in die Runde, bestellte Kaffee und stand etwas verloren herum. Dann war er da, der magische Moment. Wieder ein Blick. Wieder drohte ich einzuknicken. Aber was hatte ich schon zu verlieren? Ich brannte für meinen Thriller.
„Hi! Ich bin Martin und Krimiautor.“ Nur dieser Blick. „Ja, das hört sich jetzt vielleicht etwas seltsam an, aber du siehst aus wie die Hauptfigur in meinem Thriller. Falsch, du bist es wirklich.“ Der Blick. „Also, willst du in meinem kurzen Film mitspielen?“ Der Blick. So ging das nicht. „Schweeg!“ Mein Hilferuf wurde vom Wirt erhört. „Schweeg, bitte sag ihm, dass ich kein Spinner bin und ich ihn nicht für einen Porno casten will. Und auch ausgehen will ich nicht mit ihm.“ Der Blick – jetzt vom Schweeg; seine Worte: „René, das ist kein Spinner. Den kenn ich.“ Ich sah Wolf an. Entspannung sah anders aus; seine Worte: „Ich habe keine Ahnung, wovon du hier redest.“
In einer Billardkneipe, die es nicht mehr gibt, traf ich einen Mann, der so nicht existiert. Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Er war und ist Wolf – den Trailer findet ihr im Anschluss an diesen Beitrag, René (Wolf) Fischer besucht regelmäßig meine Lesungen. Es war ein großes Glück ihn zu finden. Den Wolf.
Martin Schoene
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- Wolf - 14. Januar 2015
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- Wolf: Martin Schöne