Terror im Namen des Islam – Boko Haram in Nigeria.

Wir sind alle Charlie. #JeSuisCharlie. Furchtbar, ohne Frage, was da in Frankreich passiert ist. „Islamisten“ richten Menschen hin und das im Namen einer Religion, die den Gläubigen Gewaltfreiheit propagiert. Der Hinweis, dass „Islamismus“ nichts mit dem Islam zu tun hat, ist so abgegriffen, dass er nur noch durch unsere Gehirne rieselt, ohne hängen zu bleiben. Die Vereinnahmung der „Pegida“-Demonstranten und der Fakt, dass nach dem Anschlag mehr Menschen als je zuvor bei dem „Abendspaziergang“ gegen „die Islamisierung des Abendlandes“ demonstrierten, zeigt, dass immer weniger getrennt wird. Nicht nur in den Köpfen von Nazis.

Dabei fängt der Fehler schon beim Namen an. Radikaler Islamismus. Warum benennen die Medien dieses Phänomen nicht als das was es ist, nämlich Terrorismus? Warum wird aus einem Terrorist ein radikaler Islamist? Das schürt Ängste vor einer Religion, die friedlich ist. Deren Prophet seinen Gläubigen gar verbietet, Gewalt anzuwenden. Warum wird eine besonders konservative Form des Islam, der Salafismus, in den Medien zu einer Terrortruppe gemacht? Wohin das führt, zeigt der Fall des im Januar 2011 in Ägypten zu Tode gefolterten Salafisten, der, weil er eben Salafist war, als Sündenbock herhalten musste. „Wir sind alle Sayed Bilal“, hieß es damals, eine Facebook-Gruppe wurde gegründet und, wie ich auch in meinem aktuellen Kriminalroman Gefährlicher Frühling zum „Arabischen Frühling“ erläutert habe, die revolutionäre Bewegung, die in Tunesien begonnen hatte, schwappte nach Bilals Tod auch nach Ägypten. Und doch wird noch immer der Name Salafisten als Synonym für Terroristen verwendet.

Ich warte auf den Tag, an dem eine christliche Minderheit von 0.01% die Kreuzzüge wiederbelebt und Terroranschläge im „Morgenland“ verübt. Dürfen dann die Medien schreiben, der „Radikale Katholizismus“?

Ohne Frage, es sind Menschen, die den Islam wie ein Schild vor sich hertragen, die grausame Attentate in der Vergangenheit verübt haben. Doch sind diese Menschen keine Muslime. Sie instrumentalisieren die Religion, verstümmeln die Worte des Koran und rufen zum Djihad auf. Wie falsch das ist, zeigt ein Blick auf die eigentliche Bedeutung des Wortes Djihad. Der Djihad ist ein Kampf, das ist wahr, aber der Kampf mit sich selbst, um ein besserer Mensch zu werden, nicht gegen andere. Und am allerwenigsten mit Waffengewalt.

Doch immer wieder bietet der Islam offenbar einen Nährboden für Terroristen, so scheint es. Schließlich kommen diese Menschen aus Ländern, in denen der Islam dominant ist. Lassen sich im Jemen, in Afghanistan oder Syrien ausbilden. Aber ich für meinen Teil glaube viel mehr, dass es nicht der Islam ist, der zur Radikalisierung dieser Menschen führt, sondern viel mehr dessen sozioökonomische Einbettung in den oft armen Heimatländern dieser „Islamisten“.

#BringBackOurGirls, vielleicht erinnert sich noch jemand? Selbst die First Lady hielt traurig guckend ein Pappschildchen in eine Kamera und wurde fleißig retweetet. Aber kamen die Girls dadurch back?

Meine eben aufgestellte Hypothese möchte ich nicht durch Al Kaida Terroristen belegen, auch nicht durch IS oder die drei Terroristen von Paris. Denn Terror im Namen des Islam gibt es auch, wir erinnern uns, in Nigeria. Einem westafrikanischen Land, mit einem hohen Anteil an Muslimen, aber auch Christen. Einem armen Land. Einem Land mit einem Präsidenten, der unfähig ist, seine Bevölkerung zu schützen und sich doch, als sei nichts gewesen, in diesem Sommer zur Wiederwahl stellen wird. Einem Land, in dem es Menschen noch immer an Grundlegendem fehlt, in dem die Ungleichheit zwischen urbanem und ländlichem Raum mitunter dramatisch ist. Nigeria ist vor allem aber auch ein Land, in dem Jungen und Männer noch immer mehr wert sind, als Frauen und Mädchen.

#BringBackOurGirls.

Es ist aber auch ein Land, das von der „westlichen Welt“ weitgehend gar nicht wahrgenommen wird. Kleingehalten wird. Das wohl am häufigsten bemühte Beispiel für die Mauern, die beispielsweise die EU vor afrikanischen Nationen aufbaut, um sie auf dem Weltmarkt chancenlos bleiben zu lassen, sind die Agrarsubventionen. Geld für die heimischen Bauern, die damit sehr viel günstiger produzieren können und somit ihre Waren sehr viel günstiger auf dem Weltmarkt anbieten können. Ein afrikanischer Bauer kann dagegen mit seinen Kartoffeln nicht ankommen, wird keinen großen Betrieb aufbauen können, wird nicht exportieren können und stets auf den Verkauf auf dem heimischen Wochenmarkt hängen bleiben.

Ein Beispiel, zugegeben, ein sehr plakatives, doch es gäbe noch unzählige mehr. Und diese Perspektivlosigkeit dieses Bauern kann zu Unzufriedenheit führen, zu Missgunst, Wut. Ein Nährboden – unabhängig von der Religion des Bauern.

Ein Mensch, dem es gut geht, wirtschaftlich, gesundheitlich, persönlich, wird sich keiner Terrormiliz anschließen. Doch ein Mensch, der von allem enttäuscht ist, kann anfällig sein, egal, welcher Religion er angehört.

Und dieses „Alles“ ist in Nigeria, wenn wir den Bogen zurück zu #BringBackOurGirls schlagen, auch die Bedrohung des Patriarchats durch die Emanzipierung der Frau.

Eine Lebensform, an die sich der nigerianische Mann seit Generationen gewöhnt hat. Er ist der Ernährer seiner Familie, die in Nigeria auch aus mehreren Ehefrauen bestehen kann, und hat somit auch als Einziger ein Anrecht auf Bildung. Bei einer solchen Weltsicht besteht die Notwendigkeit für Schulbildung für Mädchen gar nicht. Warum sollen sie lesen können, wenn sie nur waschen und kochen müssen?

Doch dieses Bild beginnt sich in Nigeria zu wandeln. Frauen emanzipieren sich, drängen in die Schulen, die Universitäten und Berufe. „Wie wunderbar!“, möchte man rufen, kann eine Gesellschaft und eine Wirtschaft schließlich nur wachsen, wenn sie über gebildete, mündige Bürger verfügt. Doch scheint dieses Empfinden noch nicht bei allen angekommen zu sein, nicht nur in Nigeria. Der Mann hat Angst um seinen Stand, um das Patriarchat. Vielleicht kann Boko Haram auch deswegen so ungehindert agieren, weil Männer mit der gleichen Angst die Taten ein Stück weit gutheißen? Vielleicht sogar Goodluck Jonathan, der Präsident.

Es wurden Mädchen aus einer Schule entführt, sie mussten zum Islam konvertieren und wurden oder werden – wahrscheinlich – in „traditionelle“ Ehen verkauft. Und die Regierung kann sie angeblich nicht finden. Einen weißen Lehrer aus Deutschland, der ebenfalls seit Monaten in der Hand der Terrormiliz war, konnte man befreien. Aber ein paar hundert junge Frauen sind unauffindbar? Und die Welt schaut zu.

Es werden Bomben auf Schulhöfen gezündet, Kinder sterben, weil sie sich bilden wollten, und die Welt schaut zu. Erst vor kurzem wurde ein Massaker mit mehr als 2000 Toten angerichtet, unter Menschen, die nicht so leben, wie Boko Haram es vorsieht, und die Welt schaut zu. Trauert um 12 Tote in Paris, keine Träne für 2000 in Nigeria und das, obwohl diese Menschen alle aus ähnlichen Motiven getötet wurden. „Der Wert weißen Lebens“ (http://www.taz.de/!147680/) ist noch immer ein höherer.

Im Übrigen aus meiner Sicht mit ein Grund, warum der IS, warum Boko Haram immer grausamer werden. Wie sonst sollten sie Gehör finden? Wir sind abgestumpft, niedergemetzelte Nigerianer oder Syrer interessieren uns nur noch am Rande, bis eine neue Stufe der Grausamkeit erreicht wird. Aus dem diffusen Gefühl, abgehängt, überholt worden zu sein, wird mit Hilfe der „Angebote“ und des Geldes von Boko Haram ein Gefühl, durch Terror wieder etwas bewegen zu können, die alte, die gewünschte Weltordnung wieder herzustellen. Und solange dies nicht auf europäischem oder (nord!)amerikanischem Boden geschieht, schaut die Welt zu. Schickt Waffen, wie jüngst an die Kurden und verdient Geld mit dem Elend anderer.

Diese Ignoranz lässt in mir noch eine Vermutung aufkommen, die mich so sehr erschreckt, dass ich beinahe auswandern möchte. Finden westliche Regierungen Terrorgruppen wie Boko Haram vielleicht sogar gut? Woher haben die ihre Waffen? Unterstützen westliche Regierungen Terroristen mit Waffenlieferungen, ohne, dass wir etwas davon erfahren? Werden die Taten in den heimischen Medien extra klein gehalten, damit die Empörung nicht zu groß wird und Terroristen weiter fleißig aufstrebende Nationen in den Bürgerkrieg reißen können, und somit gleichzeitig vom wirtschaftlichen Aufstieg fern halten? Hat der Westen Angst, um seine Vormachtstellung?

Eine Behauptung, die ich natürlich nicht beweisen kann, die ich aber auf Grund meiner bis hierher angestellten Überlegungen fundiert äußern kann, wie ich finde. Oder warum tut niemand etwas dagegen, dass Mädchen in Nigeria ermordet werden, weil sie sich bilden wollen?

#BringBackOurEmpathie

Sophie Sumburane

Sophie Sumburane

Sophie Sumburane macht klare Ansagen, bleibt dabei doch stets freundlich, obwohl sie auch schon als “vorlaute Möchtegernautorin” beschimpft wurde. Das macht ihr jedoch nichts aus, denn sie steht zu dem, was sie schreibt und ist schlicht froh, wenn ihre Texte gelesen werden und etwas im Leser auslösen. Mit dieser Einstellung hat sie sich stetig weiterentwickelt und schreibt nun keine seichten Geschichtchen, sondern knallharte Kriminalromane, in denen Missstände angeprangert werden. Hat sie sich an einem Thema festgebissen, wird ihr Wissen nach langer und intensiver Recherche in Romanform geschmiedet. Fällt sie dann nach getaner Arbeit zufrieden auf die Couch, erfreut sie sich an ihren beiden Töchtern, denen sie jede freie Minute widmet.
Sophie Sumburane

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