Gérard Scappini veröffentlicht Lyrische Prosa über Pascals Kindheit, Jugend und frühes Erwachsenenalter im Frankreich der 1950er/60er Jahre. Doch Scappini schreibt auch an einem Roman. Einen Auszug daraus lest ihr hier:
————–
Als ich die Wohnungstür im Halbschlaf aufmache, steht niemand davor. Leer das Treppenhaus. Dunkel.
Drei, vier Mal hintereinander hatte es geklingelt. Heftig. Ich fiel regelrecht aus dem Bett. Und eilte wie ein Schlafwandler zur Wohnungstür.
Es läutet wieder.
Post, schreit einer, Napolitana ein Telegramm für sie!
Einen kleinen Moment, ich komme runter, rufe ich zurück, muss mich noch rasch anziehen.
Post?, dachte ich. Sonntags?
In der halb dunkeln Küche knipse ich das Licht an. Drücke die Dachluke auf. Der Himmel dämmert. Kalte Morgenluft. Ich friere, schließe es wieder. Sechs Uhr zehn zeigt die Küchenuhr an. Omas Geschenk. Mit diesem Telegramm in der Hand. Mitten in der Nacht. Nicht zu fassen. Hole den Radiator aus dem Wohnzimmer und schließe das Kabel an der Steckdose an. Kaffee gerade aufgesetzt. Milch aus dem Kühlschrank. Tasse, Löffel, Zucker, jetzt auf den Tisch. Ich setze mich hin, reiße dieses quadratische Stück Papier auf. Hat diese frühe Uhrzeit mich gehemmt? Oder dieses Fernschreiben geängstigt? Ein Telegramm kann nur ein schlechtes Omen sein! Verena vielleicht? Ist Pauline etwas zugestoßen?
Dringend zurückrufen-Stopp-Papa.
Mehrmals lese ich diese vier Worte. Hätte Vater nicht zwei oder drei Worte mehr aufgeben können? Vielleicht. Wahrscheinlich zu teuer, denke ich halbwach. Ich spüre eine Beklemmung. Was versteckt sich hinter diesen Worten? Was ist passiert? Irgendetwas mit Mutter oder Marie-Louise? Meine Tasse trinke ich aus, ziehe meine Jeansjacke an, eile dann die Treppen hinunter und renne zur Telefonzelle. Die Straße ausgestorben. Nur geparkte Autos. Ein Hund pinkelt gegen die Laterne. Gerade kommt mir ein leerer Bus mit Standlicht entgegen. Münzen halte ich in meiner linken Hand fest.
Die Oma liegt im Krankenhaus, sagt Vater.
Im Krankenhaus? Warum?
Sie hat einen Schlaganfall erlitten. Vater scheint Luft zu holen, seine Gedanken auszusortieren um den nächsten Satz zu formulieren.
Sie fragt immer wieder nach dir, Pascal. Kannst du auf der Arbeit frei bekommen und runterfahren?, fragt er besorgt.
Konsterniert.
Plötzlich
ein Polizei-Auto
mit heulender Sirene, blitzenden Blauen Lichtern.
Schlaganfall,
denke
ich,
noch
nie gehört.
Ich komme, antworte ich ohne lange zu überlegen. Montagnacht oder Dienstag sehr früh bin ich da. Melde mich von unterwegs.
Als ich den Hörer einhänge, die Telefonzellentür aufstoße, kullern Tränen über mein Gesicht. Fühle mich ausgesaugt. Weiß nicht Mal wie alt Oma ist. Abwesend steige ich die Treppe hoch. Leise weine ich vor mich hin. Kann es nicht begreifen. Ist ein Schlaganfall lebensbedrohlich?
Wenn ich sie besuchte, hat sie sich gefreut, mich fest umarmt.
Pascal, Du bleibst zum Essen da, gell, ich koche ein Omelette für Dich!
Beim Vorbereiten unterhielt sie sich mit mir.
Über die Hitze,
und mein Leben in Deutschland.
Über Pauline,
und den verstorbenen Opa.
Sie, die ihr Leben lang geackert hatte.
Schon mit zwölf Jahren, während des ersten Weltkrieges.
Nach dem Tod ihres Mannes im zweiten Weltkrieg, meinem Opa, sorgte sie für ihre Familie.
Kannst du nicht mit Deiner Tochter und Deiner Frau, vielleicht hierher kommen?, fragte sie dann leise, fast geniert, ihr könntet doch hier leben, oder? Und ich mich hin und wieder um die kleine Pauline kümmern …
Blieb dann einen Augenblick still.
Das Wetter ist hier bestimmt sonniger und wärmer!, und lächelte mich an.
In der lichtlosen Küche sitze ich, trinke noch einen Kaffee, beschmiere ein halbes Brötchen mit Butter und Marmelade, blättere im Wiesbadener Kurier. Radio habe ich angeschaltet, fühle mich weniger allein. Ein Sprecher gibt die gestrigen Bundesliga-Ergebnisse durch. Jetzt die Wetter-Vorhersage des heutigen Sonntags. Ich zünde eine Zigarette an, schenke mir noch Kaffee ein, versuche mich abzulenken, bereite im Kopf meine Fahrt nach Toulon vor. Unbedingt im Mövenpick anrufen. Aber erst ab neun Uhr. Oder vielleicht persönlich vorbei gehen? Und Gaby wegen der Schule Bescheid geben, um mich dort zu entschuldigen. Später werde ich bei ihr klingeln. Und Nora anrufen. Koffer packen. Morgen früh Geld holen und auch wechseln. Was soll ich den ganzen Tag heute machen?
Ein breiter, tiefer Raum.
Kahl.
Links und rechts an der Wand Betten.
Alle gleich.
Fünf auf jeder Seite.
Erinnert an einen Kamm mit fehlenden Zinken.
Weiß die Wände, mit Bildern dekoriert.
Landschaftsfotos. Keine Menschen.
Der Zimmertür gegenüber, am Ende des Raumes,
zwei geschlossene Fenster.
Es riecht nach Desinfektionsmittel.
Auf der linken Seite entdecke ich Oma. Am Ende der Reihe.
Neben dem Fenster.
Ich nehme nur ihren Kopf wahr. Stehe vor ihrem Bett.
Still.
Ich starre sie an.
Sie schläft.
Ihr Gesicht sieht entspannt aus.
Sie sind der Sohn?, fragt mich ein Mann mit langem weißem Kittel,
klein, füllig, und sehr kurzem Haarschnitt.
Sein Atem riecht nach Tabak.
Nein, ihr Enkel.
Ihrer Oma geht es nicht sehr gut, sagt er, nach ihrem Gehirnschlag vor ein paar Tagen wird sie seitlich gelähmt bleiben, sich nur sehr schwer erholen können …
Und schreitet zum nächsten Bett.
Oma wacht auf, schaut mich an. Ob sie zugehört hat?
Ihre Augen blinzeln traurige Freude aus. Sie bemüht sich zu lächeln.
Es gelingt ihr nicht ganz.
Die linke Seite ihres Gesichts bewegt sich nicht.
Sie versucht es. Nochmals. Und noch einmal.
Es wirkt wie ein nervöses Zucken.
Ich stehe vor ihr
trübsinnig
sprachlos.
Ich gebe ihr einen Kuss. Auf ihre Stirn. Ihre Lippen zittern.
Ihre schwarzen Augen suchen meinen Blick ab.
Sie will mir etwas mitteilen.
Ich nähere mich.
Konzentriert höre ich zu, lese dann von ihren Lippen ab.
Pipi, Pipi …
Sie zieht ihren rechten Arm unter der Decke heraus,
streckt ihn in meine Richtung.
Ich soll sie
aus dem Bett holen.
Aber was dann?
Kein Arzt ist anwesend. Keine Krankenschwester.
Nur ich.
Panik fühle ich in mir aufkommen.
Pipi, Pipi, murmelt sie.
Ich nehme sie auf meine Arme, trage sie zur Toilette.
Sie kann nicht laufen, wiegt kaum noch etwas.
Und jetzt?
Sie schaut mich bettelnd an.
Ich muss Oma ausziehen, ihr den Schlüpfer herunterziehen,
sie auf die Klobrille setzen.
Verlegen,
drehe ich mich weg.
Gestern ist sie gestorben. Allein. Im Krankenhaus. Vereinsamt. In diesem kahlen Raum. Sie hatte auf mich gewartet. Wollte mich noch einmal sehen. Ein letztes Mal. Nur Sprechen schaffte sie nicht mehr, denke ich seufzend. Aufgewühlt. Von einer Traurigkeit erfüllt, die mich lähmt. Nur ihre Stimme höre ich noch. Ihr Lachen. Und diesen Spruch den sie mir ab und an erzählte, wenn ich beim Essen schmollend zögerte…Pascal, du musst alles aufessen, du weißt nicht wer dich eines Tages auffressen wird. Als Kind, und junger Heranwachender verstand ich den Satz nicht. Heute?
Direkt nach ihrer Beerdigung teile ich Mutter und Vater mit, gleich nach Deutschland zurückzufahren. Der langen Fahrt wegen. Der Arbeit. Von der Schule erzähle ich nicht.
Ach schon, sagt Vater enttäuscht, und umarmt mich. Länger.
Oma hat dich sehr geliebt, flüstert er mir zu.
Ja, ich habe es immer gespürt Papa.
Er schluchzt, wischt sich mit einer Hand die Tränen aus den Augen, dem Gesicht, bedankt sich, jetzt wieder gefasst, für mein Kommen. Zum ersten Male sehe ich Vater weinen. In meinen Armen. Fast hilflos. Als ob er mich festhalten und mir zeigen wollte, wie lieb er mich hat. Wie aus heiterem Himmel leuchtet dieser nüchterne Gedanke plötzlich in mir auf: Vater hat heute seine Mutter beerdigt. Ich drücke ihn wortlos, fest, lehne meinen Kopf an seine Schulter. Und verabschiede mich von ihm, löse mich langsam, trippele dann ohne mich umzudrehen zum Auto. Als ich in den Rückspiegel blicke, winkt mir Vater noch zu, wird kleiner, immer winziger, nur noch ein Punkt, und verschwindet.
Durchgefahren.
Ein halber Tag, eine halbe Nacht.
Drei Uhr früh. Sonntag.
Mit klebrigem Geschmack im Mund vor der Haustür geparkt.
Kein Lärm.
Nur nieselnder Regen.
Die Straße schwitzt im Licht der Straßenlaternen.
Gepäck im Auto zurückgelassen.
Schnell ins Bett.
In meinem Schädel schallen Motorgeräusche.
Vor mir die Autobahn,
Scheinwerferlicht, Verkehrsschilder, Reklameflächen.
Ich schlafe ein.
Wachgerüttelt
vom prasselnden Regen auf die Dachluke.
Noch schlaftrunken suche ich nach mir.
Bin zu Hause.
Jetzt.
Auf drei Paletten, meine Matratze.
Ich friere.
Heizungskabel einstecken, Kaffee kochen, das Brot trocken,
Marmelade und Butter im Kühlschrank.
Oma.
Dieses Mal kein Omelett, keine Fragen, keine Geschichte über Opa.
Sie schweigt.
Nur ihre Augen sprechen mit mir.
Sie ist weit weg. Oder ich?
Mit ihr rede ich in der Küche, versuche sie zu beruhigen,
ihr zu erklären wieso ich fernab von ihr lebe,
genau dort, in diesem Land
wo auch Opa für immer geblieben ist.
Oma
hat mich verlassen.
Fassungslos
hocke ich
Tränen kullern auf meine Wange, würgen meine Stimme
Kindheitsfetzen tanzen vor meinen Augen.
An der Küchenwand
tuschelt Omas Uhr ihr Beileid.
Pendragon
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