Heimkehr

Paul Koch betrachtete durch die Seitenscheibe die Bäume, die in gleichmäßigem Abstand seit einer geraumen Weile wie ein Spalier die Straße begrenzten. Der Schnee hatte sich wie ein dichtes weißes Tuch über dem Boden ausgebreitet. Die Äste der Bäume wurden von der weißen Last tief nach unten gedrückt. Der Fahrer vor ihm starrte geradeaus. Mehrmals war er auf der glatten Straße ins Rutschen geraten, hatte den Wagen aber jedes Mal sicher wieder einfangen können.
Die beiden Männer sprachen nicht miteinander. Nur am Treffpunkt in Straßbourg, wo Koch aus dem Militärlaster, der ihn von Paris in den Elsass gebracht hatte, in dieses Auto umgestiegen war, hatten sie einige wenige Worte gewechselt. Der Fahrer, der die Uniform eines Sergeanten der französischen Armee trug, hatte ihn sofort als Deutschen erkannt und seine Ablehnung gar nicht erst zu vertuschen versucht.
So blieb Koch auf der Rückbank allein mit seinen Gedanken. Vor zwei Wochen hatte er Südfrankreich verlassen. Mehrere Tage hatte es gedauert, bis er in Paris angelangt war. Straßen, Schienen, alles war nur notdürftig repariert und sie waren langsam und mit vielen Aufenthalten vorangekommen. In Paris musste er sich einige Tage gedulden, bis er seine Papiere für die Weiterfahrt und die Arbeit in Deutschland zusammen hatte.
Inzwischen hatten sie die Grenze passiert, waren auf deutschem Boden, in seinem Deutschland, überlegte Koch bitter. 1934 war er weggegangen, als die Nazis eine Loyalitätserklärung von ihm verlangten, eine Geste der Unterwerfung, die ihn, den Sohn eines Kommunisten, brechen und gefügig machen sollte. Der Entschluss zurückzukehren war kein leichter gewesen. Er dachte an Beatrice, bei der er den Krieg im Süden Frankreichs verbracht und mit der er einen Sohn hatte. Ihre Beziehung war zerrüttet, sie stritten ständig miteinander, vielleicht auch, weil sie spürte, dass er weg wollte, dass seine Geschichte bei ihr noch nicht zu Ende war. Ob er geblieben wäre, wenn sie sich noch so wie zu Beginn ihrer Beziehung verstanden hätten? Er wusste keine Antwort auf diese Frage. Oder wäre er sowieso zurückgefahren? Zurück in das Land, aus dem er stammte, wo er aufgewachsen war, in dem seine Mutter gestorben und sein Vater ermordet worden waren, feige umgebracht von den Nazis, wo er selbst Polizist gewesen war, Kriminalkommissar. Was trieb ihn wirklich zurück? Heimweh? Rache? Sein schlechtes Gewissen?
Eine Bewegung draußen lenkte ihn ab. Ein Rehbock war zwischen zwei Bäumen an die Straße getreten, hatte erschrocken zu dem Wagen geschaut, Koch direkt in die Augen, sich dann schnell umgewandt und war bald hinter den Bäumen verschwunden.
Vorne steckte sich der Fahrer eine Zigarette an. Koch kurbelte die Scheibe zwei Fingerbreit herunter. Ein kühler, frischer Windzug umspielte sein Gesicht. Im Rückspiegel erkannte den missbilligenden Blick des Chauffeurs. Er ignorierte ihn.
Paris! Er hatte die Zeit, in der er auf seine Papiere warten musste, genutzt, um die Orte aufzusuchen, die sein Lebensmittelpunkt gewesen waren in den zwei Jahren, die er nach seiner Flucht aus Deutschland hier verbracht hatte. Doch sie waren ihm fremd geworden, schienen wie aus einem anderen Leben zu sein. Das kleine, schäbige Hotel, in dem er, der Flüchtling, untergekommen war, das Café, in dem er die ersten Kontakte zu anderen Exilanten geknüpft hatte. Zuerst hatten sie ihn abgeschreckt, ihn an seinen Vater erinnert, die gleiche Sprache, die gleichen Ausdrücke und Parolen, wie besessen waren sie von Politik. Er wäre sicher bald gegangen, wenn er nicht Henriette, von allen nur Jette gerufen, kennengelernt hätte. Sie war die Tochter eines Hamburger Kaufmanns und Sozialdemokraten, der kurz nach der Machtergreifung ins Gefängnis geworfen wurde, wo man ihn schlug und demütigte. Er konnte und wollte Deutschland nicht verlassen, sagte, dass er in keinem anderen Land als Deutschland und in keiner anderen Stadt als Hamburg leben könne, egal, was passiere, er wolle in der Erde seiner Heimatstadt beerdigt werden, aber sie, Jette, sie solle weggehen, bis dieser Spuk vorüber sei. Wegen Jette, die sich ganz dem Kampf gegen die Nazis verschrieben hatte, blieb Koch in dem Kreis der Politischen, wurde selbst immer aktiver, und als im Sommer 1936 in Spanien General Franco gegen die republikanische Regierung putsche, ging er mit ihr über die Pyrenäen und schloss sich den internationalen Brigaden an.
Jette wurde schon im ersten Kriegswinter so schwer verwundet, dass sie bald darauf verstarb, er selbst blieb und kämpfte, als er schon längst die Sinnlosigkeit dieses Kampfes eingesehen hatte, als er immer mehr Kameraden fallen sah, als er immer mehr erkannte, dass es manchen auf Seiten der Republikaner wichtiger war, die eigene Macht zu festigen als gegen die Faschisten zu kämpfen. Am Ende gelang ihm mit Hilfe des französischen Mitkämpfers Raymond die Flucht nach Südfrankreich.
Der Fahrer hatte seine Zigarette aufgeraucht und den Stummel durch den schmalen Spalt zwischen Scheibe und Rahmen aus dem Wagen geschnippt. Koch ließ sein Fenster den Spalt weit geöffnet. Er genoss den kalten, frischen Geruch des Schnees, der ihn an seine Kindheit erinnerte. Schnee hatte er in Südfrankreich nur dreimal erlebt, kurz und heftig, keine langen Winter, wie er es von früher kannte, als sie aus der Stadt gefahren waren, die Schlitten geschultert und sich tollkühn die kurzen Abfahrten hinab gewagt hatten.
War das sein Land, durch das sie jetzt fuhren? Er wusste nicht, was ihn erwartete. Was aus den Menschen, die er gekannt hatte, geworden war? Lebten sie noch? Würde er sie erkennen? Würden sie mit ihm sprechen wollen? Und – wollte er das überhaupt?
Der Fahrer drosselte die Geschwindigkeit, als sie in ein kleines Dorf fuhren und ein Pferdefuhrwerk vor ihnen herzockelte. Die Straße war durch die zusammengeschobenen Schneewehen so schmal, dass sie es nicht überholen konnten.
Was hatte er erwartet? Dass die Luft eine andere wäre? Eine deutsche Luft? Eine bekannte und vertraute Luft? Er musste jetzt über sich selbst lachen. Blödsinn, als ob es so etwas gäbe? Die Häuser hier sahen nicht so viel anders aus als die in Frankreich, die Menschen, er ermahnte sich, nicht zynisch zu werden, sahen genauso abgerissen, genauso abgemagert und desillusioniert aus wie in jedem Ort in Frankreich, den sie durchquert hatten.
Das Pferdefuhrwerk bog in einen Hof ab, der Fahrer gab Gas, der Wagen schlitterte einen Moment.
Koch wollte es sich nicht eingestehen, aber er hatte die diffuse Hoffnung gehabt, dass die Rückkehr in sein Vaterland, er musste innerlich lachen über dieses Wort, etwas auslösen würde bei ihm. Aber was? Er wusste es nicht. Er starrte auf die weiten, schneebedeckten Felder, die sich neben der Straße erstreckten.
Ein plötzlicher Schlenker des Wagens und ein lauter Fluch des Fahrers schreckten Koch aus seinen Gedanken. Er nahm an, dass der Mann einem Bombentrichter ausweichen musste.
Auch was die Zerstörungen anging, schienen die Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland nicht sehr groß zu sein. Hätte er doch dort bleiben sollen? War da seine Heimat? Ein Begriff, um den er sich nie sonderlich Gedanken gemacht hatte. Er hatte sich dort, wo er gerade war, eingelebt. Gleich, ob das seine Schulzeit in Mainz gewesen war, nach dem Ende seiner Ausbildung die Zeit bei der Polizei in Darmstadt, dann in Paris oder auf dem Bauernhof nahe Toulon, wo er den Krieg mit Beatrice verbracht hatte. Er wusste es nicht.
„Tout de suit nous arrivons à Mayence, monsiuer!“
Koch schreckte hoch. Er musste eingedöst sein.
„Mayence!“, wiederholte der Fahrer tonlos. Er starrte geradeaus.
Koch streckte sich, dehnte seinen Hals, fürchtete, dass er ihn sich verrenkt hatte. Er sah aus dem Fenster, erkannte auf der rechten Seite den Rhein. Ein kleiner Nachen schoss vorbei, der Wind kräuselte das Wasser. Hier hatte es nicht geschneit.
Wie oft hatte er hier früher mit seinem Vater gesessen, der leidenschaftlich gerne geangelt und nicht verstanden hatte, warum sich sein Sohn davor ekelte einen Fisch auszunehmen. Mit fünfzehn hatte er seinen Vater das letzte Mal zum Fluss begleitet, dann konnte er bei seiner Mutter durchsetzen, dass er nicht mehr mitmusste.
„Halten Sie an!“, rief Koch nach vorne. Der Fahrer reagierte nicht sofort, blickte durch den Rückspiegel seinen Gast auf dem Rücksitz an, der ein „S‘il vous plaît!“ anfügte. Kurz darauf stellte er den Wagen neben der Straße ab.
Koch bedankte sich und stieg aus, ging die wenigen Meter zum Flussufer, sog die kühle Luft tief ein. Es roch anders als am Mittelmeer, wo er während seiner Zeit in Frankreich hin und wieder gewesen war, und anders als an der Seine, an der er in den letzten Tagen in Paris jeden Tag spazieren gegangen war. Der Geruch löste nichts bei ihm aus. Er wandte sich um und konnte die Spitze des Doms erkennen, das Wahrzeichen der Stadt, der Mittelpunkt für viele Menschen, für die es ein Wunder war, dass das mächtige Gotteshaus bei dem Bombenangriff und dem verheerenden Feuersturm im Februar nicht zerstört worden war.
„Monsieur!“, ermahnte ihn der Fahrer und lenkte Kochs Aufmerksamkeit zum Auto, das mit laufendem Motor am Straßenrand stand. In kurzen Abständen schossen helle Abgaswolken aus dem Auspuff. Langsam trottete Koch zurück und überlegte einmal mehr, ob es richtig gewesen war hierher zurückzukehren. Alles schien ihm fremd, oder besser gesagt, fremd geworden. Ein Unbehauster ohne Wurzeln, das war er.
Der Fahrer öffnete ihm die Tür, Koch ließ sich auf den Fondssitz fallen. Nur wenig später hatten sie die Präfektur erreicht, den Sitz der französischen Militärverwaltung, wo er sich zuerst melden sollte.
Von dort ging es weiter zum Büro des Zivilverwalters, wo man ihn freundlich empfing. Nachdem Koch seine Papiere erhalten und man ihm seine neue Dienststelle genannt hatte, drückte ihm eine junge Frau in einem kleinen Büro Coupons in die Hand, mit denen er sich die nächsten Tage, bis er eine Wohnung gefunden hatte, in einem Hotel einquartieren konnte. Als er das Büro verließ, reichte ihm die Frau mit einem schüchternen Lächeln mehrere Lebensmittelkarten.
Koch nahm nicht den schnellsten Weg zum Hotel, er wollte durch die Straßen der Stadt streifen. Im Innenstadtbereich waren fast alle Häuser zerstört, Ruinen und Trümmergrundstücke überall, die Menschen hatten begonnen aufzuräumen und die Steine zu Haufen zusammenzulegen. Ein laut röhrender französischer Militärlaster suchte sich zwischen dem Schutt mühsam seinen Weg.
Schließlich stand Koch vor dem Bahnhofsgebäude, in der rechten Hand hielt er seinen kleinen Koffer, in dem er seine wenigen Habseligkeiten und Kleidungsstücke mit sich trug. Mit einem Mal überkam ihn der Drang durch große Portal zu einem Fahrkartenschalter zu eilen, sich ein Ticket zu kaufen und den nächsten Zug zurück nach Frankreich zu nehmen. Minutenlang kämpfte er mit sich, stand unschlüssig auf dem Platz und starrte das große Gebäude an, bis ihn die kreischend-quietschende Bremse einer Straßenbahn aus seinen Gedanken riss. Koch machte auf dem Absatz kehrt und eilte an den zerbombten Häusern vorbei zurück in die Innenstadt, sah nicht nach rechts oder links, wollte nur in das ihm zugewiesene Hotel, wollte schlafen, vergessen.
Das Hotel war ein schmaler Bau nahe dem Rhein. Er musste viel Kraft aufwenden, um die schwere Holztür aufzudrücken. In dem gedämpft beleuchteten Flur sah Koch sich um. Eine dunkle Theke diente als Empfang.
Durch einen schmalen Einlass dahinter drängte sich eine alte Frau, die eine Schürze umgebunden hatte und in der linken Hand einen Rührbesen hielt. Neugierig blickte sie den eingetretenen Mann an.
Koch wühlte in seiner Manteltasche, um den Berechtigungsschein für das Hotel herauszukramen. Mit einem Lächeln beobachtete die Frau, wie er hektisch in der anderen Manteltasche zu suchen begann
„Nu huddele se doch nit so!“ lachte die Alte, und Koch, der kurz mit dem Suchen innehielt, hatte zum ersten Mal, seit er deutschen Boden betreten hatte, den Anflug eines Gefühls, dass dies der Ort war, aus dem er stammte. Und gleich schob sich vor sein geistiges Auge das Bild des Bahnhofs und eines abfahrenden Zuges, der ihn nach Frankreich zubringen konnte.
Wortlos reichte er der Frau den Berechtigungsschein.

Juergen Heimbach

Juergen Heimbach

Jürgen Heimbach mag Dinge, die die meisten Männer mögen, nämlich Oldtimer, Uhren und Whiskey. Er hat jedoch noch eine weitere Passion, die seine Romane durchzieht: Die deutsche Geschichte.
Die Nachkriegszeit, über die er in seinen Romanen schreibt, hat er nicht miterlebt, doch sie fasziniert ihn sehr. Besonders spannend findet er die Hindernisse, die damals zu überwinden waren, ganz gleich ob technische oder menschliche. Sein Ziel ist es, die Zeit zu riechen und zu schmecken, daher führt er Zeitzeugen-Interviews, recherchiert in Büchern, im Internet und in Archiven, um ein authentisches Leseerlebnis zu schaffen.
Juergen Heimbach

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