Ein Stück Zeitgeschichte – Hitlerjunge Alfred

Florian Knöppler’s Reportage über den Fall des Alfred Czech erschien am 26. März 1999 in Die Woche. Sie erzählt von dem Lebensweg eines Jungen und der Pflicht, zu der er sich berufen sah.

„Nur ein paar verletzte Soldaten gerettet. Das war alles. Und dann nach Berlin fürs Eiserne Kreuz.“ Alfred Czech (66) ist kein Mann großer Worte. Wenn der ehemalige Bauarbeiter nicht gefragt wird, sagt er lieber gar nichts, zieht nur an der Zigarette und streicht mit hornhautgeschütztem Zeigefinger die Asche von der Glut.

Czech war als Zwölfjähriger eine Woche lang zu Gast in Hitlers Reichskanzlei, im März ´45, kurz vor dem Ende. Bei der Auszeichnung kniff der „Führer“ mechanisch lächelnd die Wange des Jungen und ließ sich von dessen Erlebnissen so lange berichten, bis alle Fotografen und Kameraleute die Szene im Kasten hatten – düstere Bilder aus den letzten Tagen des Dritten Reiches. Sie wurden weltberühmt durch unzählige Filme und Dokumentationen, die immer wieder diese Sequenz verwendeten, weil der Niedergang des Großdeutschen Reiches besser nicht symbolisiert werden kann: Ein sichtlich kranker, nervlich zerrütteter Diktator mustert sein letztes Aufgebot. In Zeitungen, Radio und Wochenschau hieß es damals, Adolf Hitler setze seine Hoffnung auf die tapfere Jugend, die im „Ringen um Sein oder Nichtsein des deutschen Volkes“ siegen werde. Alfred war tatsächlich ein Junge, wie ihn sich die Propaganda-Maschinerie der Nazis nur wünschen konnte. Furchtlos und beherzt, ein Draufgänger.
Es war ein kalter Tag im Februar ´45, als er das unter Beweis stellte, im oberschlesischen Goldenau an der Oder. Das halbe Dorf stand am Ortsrand und starrte auf ein schneebedecktes Feld. Dort krochen – noch weit entfernt – kleine Gestalten auf das Dorf zu, deutsche Soldaten. Rechts und links davon schlugen immer wieder russische Granaten ein. Eine hatte wohl die Einheit erwischt. Die Bauern standen wie angewurzelt, niemand sprach. Da rannte Alfred nach Hause, spannte die Pferde vor den Schlitten und jagte los. Auf den Schlitten passten nur acht Verwundete, die restlichen vier mussten warten. Alfred fuhr ins Dorf, kehrte um, lud die übrigen Soldaten auf.

„Das Ganze war doch nur meine Pflicht. Wären ja alle verblutet“, sagt Czech heute und spricht über die „Heldentat“ wie über eine Selbstverständlichkeit, hinter der jedoch deutlich Stolz durchschimmert. Waren auch aufregende Tage nach seiner gewagten Aktion! In der ganzen Gegend sprach man von ihm. Und später kam ein General angefahren. Der sagte zu Alfreds Mutter Hedwig: „Ihr Sohn muss mit nach Berlin, er bekommt eine Auszeichnung.“
Von der zerbombten Hauptstadt sah Alfred nicht viel, das Flugzeug landete frühmorgens in der Dunkelheit. In der Reichskanzlei traf er auf die anderen Jungen, die ausgezeichnet werden sollten. Man drückte ihm eine HJ-Uniform in die Hand. Dann hatten alle ein Bad zu nehmen und ein paar Stunden später zum Frühstück zu erscheinen. Ansonsten wurde der Auftritt vor dem „Führer“ nicht vorbereitet, kein Training, keine Befehle. Reichsjugendführer Axmann versuchte Angst und Aufregung der Jungen zu dämpfen. Er wusste wohl, verschüchterte Kinder taugen nicht als Leinwandhelden. „Fühlt euch ganz wie zu Hause“, sagte Axmann, wenn der Führer reinkommt, wollen wir uns einfach nur in einer Reihe aufstellen, sonst nichts.

So kam es dann auch. Hitler erschien, keiner der Jungen reckte den Arm, niemand rief „Heil Hitler“. Der gebeugte Mann schritt die Reihe ab, gab jedem die Hand und wechselte immer ein paar Worte, bis ein Mann an seiner Seite ihm das Eiserne Kreuz reichte. Als er zu Alfred kam, sagte er: „Ah, der jüngste von allen!“
Die Jungen mit ihren Kreuzen wurden immer wieder fotografiert und gefilmt, mit Hitler, mit Stahlhelmen und in Schützengräben mit Panzerfäusten im Anschlag. „Ein Reklamefoto nach dem anderen“, sagt Czech heute. Nein, missbraucht gefühlt hat er sich nie. Klar hat Hitler jede Menge Jungen in den Tod geschickt. Aber was soll man da schon machen? „Krieg ist eben Krieg.“ Und warum sich über sowas den Kopf zerbrechen? Wenn er schon über früher reden soll, erzählt Alfred Czech lieber von dem Akkordeon. Die Jungen durften sich etwas wünschen. Kostbarkeiten wie Feldstecher und Radios. Alfred wollte ein Schifferklavier, wenig später lag es auf seinem Schoß.
Als alles vorbei war, wollte Alfred nach Hause, die Heimat verteidigen. Aber dort gab es nichts mehr zu verteidigen, die Rote Armee hatte das Gebiet überrollt. Also brachten sie ihn ins Sudetenland und setzten ihn, den Kindersoldaten Hitlers, in einer Versorgungsstelle ein. Wenig später war seine Einheit auf der Flucht nach Westen, Alfred saß auf dem Kotflügel eines Autos und sah im Straßengraben einen Soldaten, der auf ihn zielte. Dann sah er nichts mehr, fiel vom Wagen, Lungendurchschuss.

Erst nach ein paar Tagen wurde die Wunde im Gefangenenlager bei Prag behandelt. „Ohne das Kreuz an der Brust wär bestimmt alle anders gelaufen“, sagt Czech. Die lange Gefangenschaft zum Beispiel. Viele Hitlerjungen wurden von den Siegern schnell nach Hause geschickt, Alfred Czech aber hielten sie fast zwei Jahre fest. Und als sie bei seiner Schwester ein Zeitungsfoto von Alfred und Hitler fanden, hieß es: „Friss es auf.“
Sogar den Tod seines Vaters bringt Alfred Czech vage mit seinem Eisernen Kreuz in Verbindung. Warum wurde der Zimmermann im Wald exekutiert, als schon alles vorbei war? Der Vater war in den letzten Tagen noch zum Volkssturm eingezogen worden. Zwei Wochen später fand man ihn im Gestrüpp, mit Genickschuss. „Vielleicht würde er noch leben.“ Die Schuld bei Hitler zu suchen kommt Alfred Czech nicht in den Sinn. „Sicher“, räumt er ein, „alte Männer und Kinder ohne Ausrüstung an die Front schicken, das war Wahnsinn.“ Aber es war ja Krieg, und da blieb nur: ehrlich bleiben, die Pflicht erfüllen, Menschen retten.

Anfang 1947 wurde Alfred aus der Gefangenschaft entlassen. Er lief zu Fuß von Prag nach Hause. Immer nur nachts, aus Angst, wieder festgenommen zu werden. Als er die Dorfstraße von Goldenau hochkam, erkannte ihn niemand, nicht einmal seine Schwester. Er war dreckverkrustet und hatte schmierige lange Haare. In den ersten Wochen musste die Familie Alfred versteckt halten. Die polnische Polizei war schon mehrmals da gewesen, um den berühmt gewordenen Hitlerjungen zu verhaften. Dann wurde ihr zugetragen, dass Alfred wieder zu Hause war. Sie kamen, fanden ihn nicht und räumten vor Wut das ganze Haus leer. „Wir hatten nichts mehr. Besteck, Bettwäsche, Kleidung, Teller, Töpfe, alles auf zwei großen Pferdewagen“, sagt Czech leise. Ein normales Leben konnte die Familie erst wieder beginnen, als der Bürgermeister des Ortes eingriff.
Alfred fing auf der Zeche an, obwohl er nach der Verwundung lungenkrank und bald auch als Vollinvalide anerkannt wurde. Gleichzeitig stellte er einen Ausreiseantrag nach dem anderen. 1964 klappte es. Mit Frau und fünf Kindern kam er nach Hückelhoven im Rheinland und arbeitete auf dem Bau. Eine Kriegsinvalidenrente wurde abgelehnt. Als er sich empörte, sagte der Sachbearbeiter nur: „Sie hätten ja als Zwölfjähriger nicht an die Front gemusst!“
Czech versuchte, möglichst viel auf dem Bau zu verdienen. Aber im Laufe der Jahre kamen noch fünf weitere Kinder zur Welt, die alle ernährt werden wollten. Der Gang aufs Sozialamt wurde unausweichlich. Aber für sechs seiner zehn Kinder baute er ein Haus. Zunächst nach Feierabend und im Urlaub, dann als Frührentner. „Es war meine Pflicht“, sagt er.

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Bildquellen

  • „Hitlerjunge Alfred“ Reportage: Die Woche, März 1999

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