Voodoo (nach einer wahren Begebenheit)

Sie zittert – vor Angst und vor Kälte.
Unter dem Vorwand, sie müsse einer Freundin beim Ändern eines Kleides helfen, ist sie aus dem Haus gegangen. Er hat nur kurz hochgeschaut, etwas Unverständliches gemurmelt und sich weiter seiner Zeitung gewidmet. Was er wirklich davon hält, dass seine Frau am späten Nachmittag noch weggeht, würde er ihr später zeigen. Und Charlotte Griem ahnt, dass es wieder sehr wehtun wird.
 
Aber es muss sein. Sie muss diese Frau heute sprechen. Wie könnte sie weiterleben, wenn sie wüsste, alles bliebe, wie es ist? Sie ist jetzt 42 Jahre alt. Es muss sich etwas ändern. Und zwar sehr bald.
Und ob sich etwas ändern wird, kann doch nur diese Frau wissen. Wer denn sonst?
Gegen kurz nach fünf an diesem kalten Februartag des Jahres 1989 erreicht Charlotte Griem die Adresse in der Falkauer Straße, eine etwas abseits gelegene Wohnstraße in einer Kleinstadt im Paderborner Land.
Vor der Tür zögert sie, bevor sie auf den Klingelknopf drückt. Ihr Herz schlägt schnell. Mit diesem Besuch wird sich also ihr Leben ändern. Sie ahnt nicht, wie recht sie damit haben soll.
 
Die Frau, die ihr öffnet, ist ungefähr in ihrem Alter und entspricht sofort ihren Erwartungen, viel wichtiger: ihren Hoffnungen. Ludmilla Kara hat schwarze, sich hoch auftürmende Haare und einen dunklen Teint. Ihr feiner schwarzer Kajalstrich um die Augen, ihre gezupften Augenbrauen und die stark getuschten Wimpern umgeben die Frau mit dem, was man von ihr erwartet: die Aura des Geheimnisvollen.
Denn Madame Kara sieht sich mit einigem Stolz im Bunde mit den schwarzen Mächten der Magie und verdient ihr Geld folgerichtig als Wahrsagerin.
 
„Kommen Sie herein, meine Liebe. Ich freue mich, dass Sie den Weg zu mir gefunden haben. Öffnen Sie mir Ihr Herz. Ich ahne, Sie leiden große Not.“
 
Aus Charlotte Griem bricht es sofort heraus. Endlich kann sie jemandem erzählen, wie sie leidet. Unter Helmut. Diesem großen kräftigen Mann, acht Jahre älter als sie. Den sie zu Beginn so angehimmelt hatte, weil er ihr Schutz in dieser großen bösen Welt verhieß. Der starke Mann, der sie, klein und zerbrechlich wie sie war, in seine Riesenarme genommen hatte, in denen sie sich am Anfang so behütet fühlte.
Und jetzt fügen ihr diese Riesenarme Schmerzen zu. Immer häufiger, immer mehr, immer schlimmer. Das kann doch nicht so bleiben. Das muss sich doch sicher bald ändern?
„Sagen Sie es mir, Madame Kara. Wann hört es auf? Was sehen Sie? Was wird mir die Zukunft bringen?“ Charlotte Griems Fragen reißen nicht ab. Und sie alle drehen sich um das eine Thema: Wann wird ihr Martyrium endlich zu Ende sein?
 
Und Madame Kara tut das, was man von ihr erwartet.
In ihrem kleinen dunklen Wohnzimmer steht ein runder Holztisch. Mit großer Geste entfernt die Magierin ein schweres Brokattuch, das einen runden Gegenstand bedeckt. Eine Kristallkugel kommt zum Vorschein. Beschwörend hält sie ihre zarten, etwas knöcherigen Hände über die Kugel. Etwas wie ein Schmerz durchzuckt ihr Gesicht. Mit geschlossenen Augen spricht sie aus, was ihr Gegenüber hören will und wofür sie am Ende der Sitzung auch glücklich zahlen wird:
„Grämen Sie sich nicht, meine Liebe. Es wird gut. Alles wird gut. Nicht mehr lange und es werden rosige Zeiten für Sie anbrechen. Ich sehe Sie über eine Waldlichtung gehen.“
Madame Kara unterbricht sich und schaut abermals in die Kristallkugel. Ihre Hände umfassen die Kugel jetzt beinahe.
„Nein, es ist mehr ein Schweben. Sie lächeln. Es ist ein glückliches, befreites Lachen. Sie rufen, nein, Sie jubilieren! ‚Er ist fort, er ist fort’, rufen Sie unaufhörlich. Die himmlischen Mächte meinen es gut mit Ihnen.“
Charlotte hält beide Hände vor ihr zartes Gesicht. Sie atmet schnell und heftig. Ein leises Schluchzen ist zu hören. Sonst ist es still im Raum. So still, dass sie glaubt zu hören, wie die Hoffnung durch das Zimmer schwebt. Die Hoffnung auf ein besseres Leben – ohne Helmut. Charlotte braucht etwas Zeit, bis sie sich erheben kann. Sie ordnet ihre Haare, wischt sich mit einem Stofftaschentuch, das sie von Anfang an in ihren Händen hält, die Spuren ihrer Tränen aus dem Gesicht. Ihr zierlicher Körper bebt, als sie Madame Karas Hand in ihre beiden Hände nimmt und sachte schüttelt.
„Ich bin Ihnen so dankbar, ich weiß gar nicht, wie ich es sagen soll. Sie sind meine Rettung. Ich weiß gar nicht …“

„Schon gut, meine Liebe. Ich bin ja so froh, dass ich Ihnen durch meine bescheidenen Kräfte helfen konnte. Haben sie den Umschlag dabei? Sie wissen schon.“
Mit einer demütigen Verbeugung übergibt Charlotte Griem den Umschlag mit dem Geld. Nie hat sie lieber 300 Mark aus der Hand gegeben.
 
Als Charlotte Griem an diesem Abend nach Hause geht, fühlt sie seit langer Zeit das erste Mal wieder eine Art Leichtigkeit. Sie hat sich also nicht getäuscht. Es wird alles besser werden.
Die Prügel, die sie in der Nacht von ihrem Mann bekommt, nimmt sie hin. Fast hat sie das Gefühl, sie täten gar nicht so sehr weh wie sonst.
Die Prügel aber halten an. Und sie tun bald wieder genauso weh wie vorher. Die von Madame Kara so sicher versprochene Besserung bleibt aus. Helmut bleibt Helmut. Kaltherzig, brutal. Sein Despotismus nimmt sogar noch zu. Und Helmut macht überhaupt keine Anstalten, aus Charlottes Leben zu verschwinden. Sie hat nach dem Besuch bei Madame Kara nie so recht gewusst, wie deren Prophezeiung in Erfüllung gehen würde. Sie war nur sicher gewesen, dass es passieren würde.
 
Aber es passiert nicht. Fünf lange Jahre hält Charlotte still, lässt sich schlagen und demütigen, ermahnt sich immer wieder, Geduld zu haben.
Aber die Verzweiflung wächst. Und in all den Jahren der Tyrannei fragt sie sich nächtelang immer und immer wieder das Selbe: Warum bleibt sie aus – die von der Wahrsagerin versprochene Erlösung von den Qualen? Alles nur ein Irrtum? Eine falsche Prophezeiung? Eine Laune der schwarzen Mächte? Hat sie selbst vielleicht etwas falsch gemacht?
Ja, das muss es sein! Sie muss selber schuld sein, dass ihre Erlösung auf sich warten lässt. Natürlich! Und mit dieser Erkenntnis muss sie jetzt alles neu überdenken.
Nun ja, fast alles. Denn Charlottes Glauben an die Macht des Übersinnlichen wird durch die Nicht-Lieferung des versprochenen Heils nicht geschmälert. Im Gegenteil. Charlotte Griem greift zum Telefon und wählt die Telefonnummer, die auf der schwarz umrandeten Visitenkarte steht, die sie die ganzen fünf Jahre in ihrer Schublade aufbewahrt hat.
 
Und so treffen sich im November 1994 Charlotte Griem und Ludmilla Kara zum zweiten Mal. Und an diesem Abend wollen es beide nicht bei zweifelhaften Wahrsagungen aus der Kristallkugel belassen.
 
Als Madame Kara ihre Tür an diesem Abend öffnet, weiß sie, was auf sie zukommt. Und sie weiß, was von ihr erwartet wird.
„Treten Sie ein, meine Liebe. Haben Sie alles dabei?“
Charlotte nickt stumm und betritt die Wohnung. Sie blickt sich um. Nichts hat sich verändert in den fünf Jahren. Nichts an der Wohnung und nichts an Madame Kara. Der gleiche Duft des Geheimnisvollen umgibt die Frau, der sie vertraut, obwohl sie sie gar nicht so recht kennt. Mit der sie aber eine Verbundenheit fühlt als wären sie beide seit Langem gute Freundinnen. Oder gar Schwestern.
In dem heimlichen Telefongespräch in der Woche zuvor hat die verzweifelte Charlotte deutlich gemacht, dass es so nicht weitergehen kann. Dass die Prophezeiung nicht in Erfüllung gegangen ist. Und dass sie sich von einem neuerlichen Treffen mehr erhofft als nur einen weiteren Blick in die Kristallkugel.
 
Und Madame Kara hat Verständnis gezeigt dafür, dass es weitergehen muss, hat sie eingeladen, ein zweites Mal zu ihr zu kommen. Und sie hat der gequälten Ehefrau in Aussicht gestellt, dass sie Mittel und Wege finden werden – heraus aus der Misere.
Sie sind jetzt wieder im dunklen Wohnzimmer von Madame Kara. So wie vor fünf Jahren. Nur die Kristallkugel, die damals ihr unausgegorenes Wissen preisgegeben hatte, ist verschwunden. An ihrer Stelle auf dem Wohnzimmertisch steht jetzt eine große tönerne Schale.
Madame Karas dunkle, rauchige Stimme erfüllt den Raum:
„Götter des magischen Kultes – Großmeister des Voodoo. Hier sind wir und erbitten ein Zeichen eurer allumfassenden Macht.“
Jetzt nickt sie Charlotte auffordernd zu. Die öffnet ihre Handtasche und holt ein wenig unbeholfen und voller Angst ein Foto heraus. Ein grässliches Foto: ein Foto von Helmut, aufgenommen von ihr selber, vor ein paar Jahren. Helmut im Campingstuhl, eine Flasche Bier in der Hand – im Hintergrund ein Wohnwagen. Gemeinsamer Urlaub 1990 am Möhnesee.
Madame Kara nimmt das Foto an sich und gibt es mit der Bildseite nach oben in die Schale.
„Seht, mächtige Meister des Voodoo, was wir euch gebracht haben, und tut, was getan werden muss!“
Mit ihren knochigen Händen fingert sie ein langes Streichholz aus einer hölzernen Schatulle, entzündet es und hält es an das Foto. Nach ein paar Sekunden geht das Bild in Flammen auf, ein beißender Geruch entsteigt der Schale.
Wieder nickt sie Charlotte zu und die zieht ein großes Stück Stoff aus ihrer Handtasche – kariert, Polyester, billig. Ein großes Stück, herausgeschnitten aus einem der Hemden, die Helmut so gerne trägt. Helmut hat zu viele davon, als dass er dieses hier vermissen würde.
Der Stoff entzündet sich rasch an der kleinen Flamme, mit der das Foto vor sich hin glimmt.
„Vergehen möge er – für immer und ewig!“
Madame Karas Stimme wird hysterischer.
„Jetzt!“, ruft sie Charlotte zu. Und Charlotte greift ein letztes Mal in ihre Handtasche.
„Das müssen Sie selber tun, Charlotte!“
Und Charlotte nimmt das kleine Haarbüschel, das sie in der Nacht zuvor dem schlafenden Helmut vom Kopf geschnitten hat, schließt die Augen und wirft es zum kokelnden Rest in die Schale.
„Jaaa!“, stöhnt Madame Kara.
„Ja!“, hofft Charlotte.
Und beide schauen zu, wie das schmelzende Fotopapier, das billige Polyester des Herrenhemdes und die Haarsträhne des ahnungslosen Opfers zu einem dunklen, stinkenden Klumpen verkleben.
„Alles wird gut. Jetzt wird alles gut. Nichts ist so mächtig wie der Zauber des Voodoo.“
Darüber, wie lange es dauern wird, bis der magische Voodoo-Zauber sein düsteres Werk verrichtet, lässt Madame Kara ihre Kundin vorsichtigerweise im Unklaren. Afrika-Importe dauern eben etwas länger, auch wenn sie spiritueller Natur seien. Und die Götter dürfe man nicht drängen.
Charlotte Griem nickt verständig, zahlt und schleicht sich erleichtert zurück nach Hause. Wenn sie dort Prügel empfangen wird, werden es sicher die letzten sein, sagt sie sich auf dem Heimweg. Schließlich ist ihr Mann jetzt dem Tode geweiht. Daran kann es jetzt keinen Zweifel mehr geben …
 
Zwei Jahre später wird auf Veranlassung des vorsitzenden Richters am Bielefelder Landgericht ein psychologisches Gutachten über Charlotte Griem angefertigt werden.
Das Gericht will wissen, wieso sich die Angeklagte auf diesen Voodoo-Hokuspokus eingelassen hat. Man wird ihr in dem Gutachten eine leicht unterdurchschnittliche Intelligenz bescheinigen. Sie sei nicht wirklich fähig, die Realität in all ihren Facetten zu erfassen und flüchte sich in Abhängigkeitsverhältnisse. So erklären die Gutachter ihr Verhältnis zum tyrannischen Ehemann, ebenso wie das blinde Vertrauen, das sie der Wahrsagerin entgegen bringt. Das Gericht wird diesen Umstand später bei seiner Urteilsbegründung strafmildernd berücksichtigen. Genauso wie die abgrundtiefe Verzweiflung, die Charlotte Griem ob ihrer scheinbar ausweglosen Situation erfasst hatte.
Denn nicht die mangelnde Intelligenz, sondern die von ihr so empfundene Ausweglosigkeit lässt sie hoffen, dass ihre Hilfe nur von den Göttern des Voodoo kommen kann.
 
Aber die Götter liefern nicht. Trotz der beeindruckenden Voodoo-Zauber-Zeremonie erfreut sich der prügelnde Helmut weiterhin bester Gesundheit. Und Charlotte Griems Verzweiflung steigt ins Unermessliche. Was kann sie denn noch tun, damit ihr Martyrium endlich zu Ende geht? Hat sie nicht alles versucht? Diesmal hat sie doch nichts falsch gemacht. Oder doch?
Wer oder was hilft denn noch, wenn selbst die Götter des Voodoo offenbar machtlos sind gegen das absolut Böse auf Erden; machtlos sind gegen Helmut?
Die maßlos enttäuschte Frau stellt sich diese Frage immer und immer wieder. Und findet keine Antwort.
Nur eines scheint doch wohl klar: Mit Hilfe der vermeintlich heilbringenden, aber sündhaft teuren Wahrsagerin Madame Kara scheinen ihre Problem nicht aus der Welt zu schaffen sein. Man möchte meinen, dass Charlotte Griem das jetzt begriffen hätte. Hat sie aber nicht.
Wenige Wochen nach dem fruchtlosen Voodoo-Zauber wendet sich Charlotte wieder an die vermeintliche Heilsbringerin.
 
Und in diesem Gespräch, das um den Jahreswechsel herum stattfindet, geht es nur noch um eines. Wenn die Götter nicht helfen, dann muss man sich selbst helfen.
Wer die Idee hat, Helmut Griem eigenhändig umzubringen, ist unklar. Fakt ist, die beiden Frauen bereiten den Mordanschlag gemeinsam vor.
„Gift. Es muss mit Gift geschehen.“
Schlägt das Madame Kara vor? Oder ist es die Idee der verzweifelten Ehefrau? Später will sich niemand mehr genau daran erinnern können.
„Wie macht man so etwas?“ Darüber diskutieren sie lange.
Schließlich sind beide keine Expertinnen auf diesem Gebiet.
Gemeinsam brauen sie schließlich einen Giftcocktail für – oder besser gesagt gegen – Helmut. Einen, der es in sich hat. Rattengift ist die Basis. Leicht zu besorgen, hoch effizient und mit dem Ruf behaftet, nicht nur gegen Nager, sondern auch gegen böse Menschen zu helfen.
„Wir sollten noch etwas dazu tun. Medikamente.“
Im Laufe ihrer Leidenszeit hat sich im Arzneischränkchen von Charlotte Griem einiges angesammelt. Einiges hat sie mitgebracht. Und so zerbröseln die beiden in echter Hexenmanier eine ordentliche Portion Valium und Novalgin und geben sie dem Rattengift bei. Doch etwas fehlt.
„Haarspray!“
„Haarspray?“
„Haarspray! Denken Sie doch, wie das in den Augen beißt. Das muss schädlich sein. Das muss mit hinein!“
 
Die genaue Zusammensetzung des Cocktails ist später im Körper des Opfers nicht mehr festzustellen. Die beiden Giftmischerinnen erinnern sich aber, genau das zusammengebraut zu haben. Obwohl Madame Kara meint, sie hätten auch noch Dynamit hinzugefügt. Da ist sie sich aber nicht mehr so sicher.
Nun geht das Anrühren eines Giftcocktails sicher deutlich über die klassischen Angebote hinaus, die eine Wahrsagerin ihren Kunden normalerweise zu unterbreiten pflegt. Um zu klären, warum Madame Kara in diesem Fall so weit (und später noch weiter) ging, lässt das Gericht vor der Verhandlung auch von ihr ein psychologisches Gutachten anfertigen. Auch ihr bescheinigt der untersuchende Arzt unterdurchschnittliche Intelligenz. Das allerdings erklärt bei weitem nicht, warum sie sich auf dieses mörderische Spiel eingelassen hat.
 
Zwei Prozessbeobachter bringen es auf dem Flur vor dem Saal 1 des Bielefelder Landgerichtes auf den Punkt: „Sie ist sicher nicht die hellste Kerze auf der Torte. Aber sie hat ein gutes Gespür dafür, welche Kunden man gut und einfach ausnehmen kann. Und von ihrer Kundin Charlotte hat sie sich ein gutes Geschäft erwartet.“
„Anfangs ja auch zu Recht – allein für den Voodoo-Hokuspokus hat Charlotte ja ordentlich gezahlt. Für den Giftcocktail und alles Weitere ist aber zunächst kein Geld geflossen.“
„Stimmt. Madame Kara hat es sozusagen als eine Investition in die Zukunft gesehen. Sie hat sich ausgerechnet, dass nach dem Tod des Ehegatten auf ihre Kundin eine riesige Erbschaft zukommen würde. Und dann hätte sie die Hand aufgehalten.“
„Blöd nur, dass sie ausgerechnet an dieser Stelle ihre hellseherischen Fähigkeiten verlassen haben.“

„Was meinen Sie damit?“
„Nun, Madame Kara hat sich schlau gemacht über ihre Kundin. Aber nicht schlau genug. Der Name Griem sagt in Paderborn und Umgebung ja nun wirklich jedem etwas. Riesige Firma. Alter Geldadel. Und unsere gute Hellseherin war felsenfest davon überzeugt, dass ihre Kundin die Frau vom Chef war. War sie aber nicht. Charlotte war eine entfernte Cousine, die in jungen Jahren einmal einen Anteil vom großen Kuchen bekommen hatte. Sie hat also schon ein bisschen was auf den hohen Kante gehabt, aber mit „den Griems“, mit der super reichen Fabrikantenfamilie hat sie eigentlich nichts zu tun.“
„Passt auch irgendwie zu diesem Fall, oder?“
„Wie die Faust aufs Auge.“
 
Nicht mit der Faust, sondern mit dem Giftcocktail soll Helmut am Abend des 4. Januars endgültig ins Jenseits befördert werden.
Charlotte ist aufgeregt. Zuhause angekommen findet sie ihren Helmut wie immer am Küchentisch sitzend. Und wie immer hat er schon das erste leere Glas Bier vor sich stehen. Charlotte bringt ihm ein Neues.
Aus seiner Sicht soll es nicht das letzte sein. Aus ihrer Sicht schon.
Vielleicht hat Helmut den bitteren Nachgeschmack bemerkt, vielleicht auch nicht.
Jedenfalls beobachtet Charlotte vom Nebenzimmer aus, wie Helmuts mächtiger Körper nach einer kurzen Weile in sich zusammensackt. Fast sieht es so aus, als sei er nur eingeschlafen. Das hat sie schon unzählige Male so gesehen und ist dann immer froh, dass ihr Leiden für den Tag vorbei ist.
Heute aber ist es anders. Heute ist Helmut nicht eingeschlafen, sondern entschlafen. Das Leiden vorbei, nicht nur für heute, sondern für immer.
Charlotte wartet ab. Vorsichtig nähert sie sich schließlich dem toten Tyrann. Gedanken darüber, wie und wohin sie den schweren Körper entsorgen kann, hat sie sich dummerweise nicht gemacht. Muss sie jetzt auch nicht mehr, denn die Entscheidung wird ihr abgenommen. Ganz plötzlich macht Helmuts Körper laute Geräusche. Allzu bekannte Geräusche. Helmut schnarcht.
 
Schwer zu sagen, was in diesem Moment größer ist: der Schock über die plötzliche Wiederauferstehung des vermeintlich Verblichenen oder die Enttäuschung darüber, dass die tödliche Dosis des Giftcocktails wohl zu gering war, um den Hundert-Kilo-Koloss Helmut vom Diesseits ins Jenseits zu befördern. Hätten sie doch nur mehr Haarspray genommen.
 
So aber schläft Helmut seinen Giftcocktail-Anschlag so aus, wie er sonst seinen Rausch ausschläft – lang und laut. Am nächsten Morgen wacht er auf – mit Kopfschmerzen und einem flauen Gefühl im Magen. Er kann sofort aufs Klo.
„Auch gut“, brummt er.
Helmut erholt sich deutlich schneller von dem viel zu leicht dosierten Giftcocktail als Charlotte von der Tatsache, dass es mal wieder nicht geklappt hat. Sie könnte jetzt aufhören, einfach davonlaufen, ihren Mann sitzen lassen und irgendwo und irgendwie ein neues Leben anfangen. Aber sie ist wie vernagelt. Das einzige mögliche Szenario in ihrem Kopf heißt: Helmut muss jetzt endgültig weg.
Charlotte und die Hellseherin sind jetzt bereits einen solch langen Weg miteinander gegangen, dass es nicht mehr verwundert, dass sie auch den nächsten Schritt gemeinsam tun. Und Madame Kara, die fette Beute witternd, ist dazu bereit.
Gemeinsam fassen sie einen neuen Plan und man muss schon genau mitzählen, um nicht den Überblick zu verlieren. Plan Nummer vier wird am Telefon geschmiedet und basiert auf einer einfachen Lebensweisheit: Wenn man ein hartnäckiges Problem hat, und als solches darf man Helmut jetzt nun wohl endgültig bezeichnen, dann holt man sich einen Fachmann. Ist das Klo verstopft, holt man den Klempner. Hat man Ungeziefer im Haus, sucht man sich einen versierten Kammerjäger. Und hat man Helmut im Haus …
 
„Wir brauchen einen Profi.“
„Einen Profi in was?“
„Na ja. Einen, der so etwas gut kann. Mit Helmut. Der den wegmachen kann.“
 
Nun hilft der Blick ins Branchenfernsprechbuch bei der Entsorgung von Ehemännern bekanntlich nicht weiter.
Und deshalb begibt sich Charlotte auf eine bemerkenswerte Reise. Eine Reise, von der sie nie im Leben geglaubt hat, sie einmal anzutreten. Eine Reise in die kriminelle Halb- und Unterwelt des Kreises Paderborn.
Für eine Frau wie sie, schüchtern, ängstlich und mit einem Leben, in dem sie nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist, kein leichtes Unterfangen. Wo geht man hin, wenn man einen Profi in Sachen Helmut-Beseitigung finden will? Wo sind sie, die Etablissements der Halbwelt? Und wen fragt man dann und, viel wichtiger, nach wem fragt man dann? Und wie?
„Hallo, ich suche einen Killer für meinen Ehemann?“
Charlotte steht vor dem Spiegel und übt laut.
Nein, so wohl nicht. Aber wie dann?
Und was zieht man eigentlich an, wenn man sich des Nachts in der Stadt herumtreiben muss, um einen Auftragsmörder zu finden?
 
Charlotte entscheidet sich für eine beige Cordhose, darüber will sie eine leichte Sportjacke mit Reißverschluss tragen. Das wirkt sportlich und entschlossen, hofft sie jedenfalls. Ihre Schuhe sucht sie nach der Höhe der Absätze aus. Möglichst hoch, wo sie sich doch ansonsten schon so klein fühlt. Ihre dunklen Haare, die sie normalerweise in einer langweiligen Form von Pferdeschwanz trägt, lässt sie offen. Das sieht ein bisschen flotter aus. Und wenn ihr die Haare vorne in die Stirn fallen, hat sie etwas, hinter dem sie ihren unsicheren Blick verbergen kann.
 
Ihren ungewöhnlichen Fischzug startet sie vor dem Paderborner Bahnhof. Da treibt sich doch immer allerlei Gesindel herum. Sagt jedenfalls ihre Nachbarin immer. Arbeitslose und auch jede Menge Ausländer. Ganz ängstlich sei sie immer, wenn sie dort vorbei müsste, klagt die Nachbarin.
Na, wenn das in diesem Fall keine Empfehlung ist!
Es ist schon spät an diesem Abend. Weit nach 23 Uhr. Helmut liegt, ruhiggestellt mit sechs Halbliter-Flaschen Paderborner Pilsener im Bett. Deshalb kann sie weg.
Und in der Tat ist es genauso, wie die Nachbarin gesagt hatte. Rund um den Bahnhofsvorplatz ist einiges los. Charlotte läuft ein Schauer über den Rücken. Was machen die hier bloß alle, fragt sie sich. Und die meisten sehen wirklich furchteinflößend aus.
Charlotte hat sich das so gedacht: Sie geht auf jemanden zu, der so richtig gefährlich aussieht, und fragt, ob er an einer Arbeit interessiert wäre. Gut bezahlt, aber nicht ganz legal. Eigentlich ganz und gar nicht legal. Alles Weitere müsse sich dann halt entwickeln. Das Anheuern eines Killers ist doch am Ende nichts anderes als ein geschäftliches Gespräch – und von denen hat sie als Sekretärin des Prokuristen ja schon genug mit angehört. Angebot, Nachfrage, Kostenvoranschlag, Vertragsabschluss.
Gut eine halbe Stunde lang beobachtet Charlotte die Männer am Bahnhof. Dann nimmt sie all ihren Mut zusammen, atmet tief durch und geht auf einen verwegen aussehenden Mann mit schwarzem Schnäuzer zu. Den hat sie schon eine Zeitlang beobachtet, wie er mit dem ein oder anderen einen kurzen Schwatz hält und dann wieder alleine zurückbleibt. Südländisch sieht er aus. Die sind ja schnell mit dem Messer bei der Hand, hatte die Nachbarin gesagt, nicht ahnend, dass Charlotte diesen überaus klugen Teil von Allgemeinwissen nicht in Angst und Schrecken versetzt, sondern hellhörig gemacht hatte.
 
„Entschuldigen Sie, sind Sie vielleicht auf der Suche nach einem Job? Ich hab da eine Arbeit, gut bezahlt, aber nicht ganz legal …“
Der Angesprochene sieht sie fragend an.
„Worum geht?“, fragt er in holprigem Deutsch. „Erzählen!“
Und Charlotte erzählt. Von Helmut, von den Prügeln und dass nichts hilft.
„Gehen hier!“ Der Mann zeigt mit einer Geste in Richtung Grunigerstraße, weg vom Bahnhof.
„Du Hilfe brauchen!“
„Ja, genau“, ruft Charlotte fast ein bisschen zu laut. Eine gute Wahl, der Mann versteht sie und ihr Problem.
„Sie müssen ihn wegmachen. Mit dem Messer vielleicht. Das können Sie doch bestimmt.“
Der Mann brummt etwas Unverständliches und schweigt, solange sie die Gruninger heruntergehen. An der ersten Kreuzung hält er sich links, Charlotte folgt ihm, ihr Herz schlägt ihr bis zum Hals.
Wo will er wohl mit ihr hin? Eine dunkle Ecke zum Verhandeln hätte es doch schon längst gegeben. Und jetzt gehen wir doch nur wieder ins Helle. Zudem ist da vorne auch noch die Polizeistation …
„Hier Hilfe“, sagt der Mann und zeigt auf den hell erleuchteten Aufgang zur Polizeiwache Riemekestraße.
Beim Wegrennen verflucht Charlotte die Wahl ihrer Schuhe. Ohne die hohen Hacken könnte sie bestimmt schneller laufen. Erst weit hinter dem Westerntor ist sie sich sicher, dass die Polizei sie nicht verfolgt. Wütend, erschrocken und enttäuscht macht sie sich schließlich auf den Weg nach Hause.
 
Über eine Woche lang macht sich Charlotte Gedanken, wie es weitergehen könnte. Nachdem offenbar auf die Blutrünstigkeit arbeitsloser Ausländer kein Verlass ist, stellt sich ihr die Frage umso dringlicher: Wo nehme ich ihn her, den Killer, den ich brauche?
Fernsehen bildet. Ein Allgemeinplatz, ausnahmsweise nicht von der Nachbarin. Den hatte sie selbst schon oft gehört. Und so schaut Charlotte über Tage jeden Krimi, der im Fernsehen läuft.
Solcherart fortgebildet plant sie ihren nächsten Fischzug. Bei der Wahl der passenden Kleidung verlässt sie sich diesmal auf die im Fernsehen immer von Frauen ihres Alters gegebene femme fatale. Sie sucht das verwegenste Kleid, das sie hat, und die höchsten Schuhe heraus.
Fliehen wie beim letzten Mal kann ich damit aber nicht, denkt sie.
Und wann habe ich mich jemals so auffällig geschminkt?
Egal, im Fernsehen sehen die Frauen auch immer so aus, wenn sie in zwielichtigen Kneipen und Clubs auf Beutezug gehen. Und genau das hat Charlotte vor.
Helmut hat sie großzügig mit Bier versorgt. Der wundert sich zwar, dass seine Frau ihm so freigiebig nachschenkt, nimmt aber gerne die siebte ihm ans Sofa gebrachte Halbliter-Flasche und schlummert weg. Die Bahn ist frei für Charlotte, die – aufgebrezelt wie die wildeste femme fatale aus dem letzten Tatort-Film – einen Ausflug in das Paderborner Nachtleben unternimmt. In einer halbseidenen Kneipe unweit des Maspernplatzes platziert sie sich an der Theke. Zwielichtige Typen um sie herum; sie umschwirren sie wie Motten das Licht und schon bald ergibt sich die erste günstige Gelegenheit, ihr schändliches Begehr zu lancieren.
Ihr Gegenüber hört auf den vielversprechenden Namen Meckie. Ein schmieriger Typ, der sich auf ihr „ich hab da einen Job“ nicht angewidert abwendet, sondern aufmerksam zuhört.
„Nicht ganz legal allerdings“, fängt Charlotte vorsichtig an.
„Was mag das sein?“ Meckie verzieht sein Gesicht zu einem schäbigen Lächeln. Ihm fehlen oben links zwei Schneidezähne. Charlotte wertet das als gutes Zeichen die Eignung des wohl bald vierzigjährigen Mannes betreffend.
„Lassen Sie uns draußen weiter reden.“ Charlotte hat gelernt. Die Frauen in den Krimis machen das genauso.
Die entscheidende Vertragsverhandlung findet also, ganz wie sich das gehört, in einer dunklen Gasse unweit des Paderborner Doms statt.
„Mein Mann muss weg!“

„Das lässt sich wohl machen.“ Meckie scheint in keiner Weise geschockt.
„Ganz weg.“
„Hab ich verstanden. Lässt sich machen, sag ich.“
„Wie viel?“
„20.000 Mark. 10.000 jetzt, der Rest, wenn der Job erledigt ist.“
Dieser Kostenvoranschlag schockt Charlotte nur kurz. Eigentlich hält sie das für ein vernünftiges Angebot. Sie hatte sich bis dahin keine Gedanken darüber gemacht, wie teuer eine Helmut-Entsorgung werden könnte.
 
Das Treffen am nächsten Abend ist kurz. „Morgen, selbe Stelle, selber Ort, selbe Uhrzeit“, raunt ihr Meckie konspirativ zu, als sie sich trennen.
Und so wechseln die 10.000 DM Anzahlung bereits am nächsten Abend den Besitzer. Charlotte ist erleichtert. Nach den zahlreichen Rückschlägen ist nun ein echter Profi an der Reihe.
Helmut, denkt sie, deine Tage sind gezählt.
 
Tatsächlich zählt sie die Tage, bis der versprochene und angezahlte Anschlag auf Helmuts Leben über die Bühne geht. Sie zählt bis fünf, dann bis zehn. Und als sie bei vierzehn angelangt ist, macht sie sich auf den Weg in die Kneipe, in der sie Meckie, den Profi, aufgegabelt und instruiert hat. Irgendetwas musste ja dazwischen gekommen sein. Meckie würde es ihr erklären.
 
Nur, Meckie ist nicht zu finden.
„Abgesetzt hat er sich“, raunt der Barmann der hilflos wirkenden Charlotte zu. „Und zwar ohne seinen Deckel hier zu bezahlen. Das ist echt ’ne Riesensauerei.“
Charlotte dreht sich um und will den Laden so schnell wie möglich verlassen. Ihr ist zum Heulen zumute.
„Und was hatten Sie mit dem Typ am laufen? Ihr wart ja so geschäftig miteinander“, ruft der Barmann ihr nach.
„Wir hatten einen Vertrag miteinander. Es ging um ein schwieriges Geschäft – und er hat eine Anzahlung bekommen.“
Der Barmann hebt eine Augenbraue, greift zu einer neben ihm stehenden Flasche und gießt ein Glas ein.
„Hier, nehmen Sie den, der geht aufs Haus.“
„Danke.“
Und so trinkt Charlotte den ersten Absinth ihres Lebens.
Unglaublich, denkt Charlotte, als sie über ihr Pech nachdenkt. Von all den Killern, die ihr Problem hätten lösen können, hat sie sich offenbar den einzigen unehrlichen ausgesucht.
Und deshalb trinkt sie kurz drauf den zweiten Absinth ihres Lebens.
Und da Absinth bei allen (außer Charlotte) für seine Zunge lösende Wirkung bekannt ist, erfährt der Barmann alles über Helmut und den Helmut-Job, der immer noch nicht getan ist.
„Kommen Sie in zwei Tagen wieder her“, flüstert ihr der Barkeeper zu. „Ich glaube, ich habe da jemanden für Sie.“
 
Charlotte kann absinthgetrübt ihr neuerliches Glück kaum fassen.
Nach unruhigen zwei Tagen des Wartens schleicht sie sich wieder von Zuhause fort und in die Kneipe.
„Da drüben sitzt jemand, mit dem Sie sprechen sollten“, sagt der Barmann.
Und so macht Charlotte Bekanntschaft mit einem Herren im gesetzten Alter.
„Eduard mein Name, gnädige Frau“. Das Äußere charmant, die Umgangsformen gepflegt. Ja, der Mann kann Charlotte durchaus gefallen.
 
Eduard entschuldigt sich zunächst einmal, quasi im Namen der gesamten Zunft, für den schäbigen Abgang seines Berufskollegen Meckie.
„Ich habe gehört, was passiert ist. Ein Windbeutel, dieser Kerl. Solchen Halunken sollte man das Handwerk legen.“
Klingt schon irgendwie komisch, findet Charlotte. Zumal aus dem Munde eines Mannes, dessen Metier – so hatte es der Barmann ja angekündigt – durchaus in Helmut-Beseitigungen und ähnlichen Illegalitäten bestehen sollte. Nun ja. Eduard hat bereits weitergeredet und nimmt jetzt mit seinem Charme Charlottes Zweifeln den Raum zu wachsen.
„Verlassen Sie sich auf mich, meine Gnädigste. Seriosität und die diskrete Erledigung auch der heikelsten Geschäfte sind meine Stärken. Da können Sie jeden fragen.“
Eine Frage wie „Entschuldigen Sie, aber wie ist denn der Eduard so als Killer?“ kann sich Charlotte nun allerdings auch nicht so recht vorstellen.
Egal. Das ist sicher nur so eine Redensart unter Auftragskillern.
„Bei mir sind Ihre Sorgen in den besten Händen. Betrachten Sie die Helmut-Problematik als gelöst, Gnä’ Frau. 5.000 jetzt, 5.000, wenn die Angelegenheit erledigt ist. Sie haben das Geld nicht zufällig bei sich?“
Tatsächlich hat Charlotte genügend Geld bei sich, um Eduards Vorschuss direkt zu entrichten. Sogar mehr als das. Wie konnte Sie ahnen, dass ein echter Killer wie Eduard sogar billiger sein würde als dieser Halsabschneider von Meckie.
„Verbindlichsten Dank, edle Dame. Darf ich Sie vielleicht zu einem Drink einladen? Ich hörte, Sie bevorzugen Absinth?“
Charlotte lehnt dankend ab.
„Wie schade, wie schade. Der Abend ist doch noch so jung. Gegen einen gewissen zusätzlichen Obolus könnten Sie auch den ganzen Abend und diese herrliche Nacht über mich verfügen.“
Das geht Charlotte nun doch ein bisschen zu weit. Einen Killer anheuern ist das eine, aber einen Gigolo zu bezahlen, das kommt für eine ehrbare Frau wie Charlotte natürlich nicht in Frage. Wenn Helmut erst einmal nicht mehr ist, würde sie sich schon wieder ans schöne Leben herantrauen. Das schon. Aber erst dann. Und jetzt konnte es ja nun nicht mehr lange dauern.
 
Nur, dass der schöne Eduard keinen Augenblick daran denkt, für Charlottes Geld auch nur einen Finger krumm zu machen – schon gar nicht am Abzug eines Revolvers.
„Auf in die Sonne!“, ruft er dem Barkeeper zu und freut sich über das Geld, das ihm jetzt endlich das Ticket nach Ibiza ermöglicht. Das miese Paderborner Wetter hatte er schon länger satt und die älteren, alleinstehenden Touristinnen in Spanien sollen ja recht spendabel sein.
„Gut eingefädelt, Jimmy“, lobt er den Barmann und reicht ihm dessen Anteil über die Theke.
„Aber was machst du, wenn die Alte wiederkommt?“

„Mit der komm’ ich schon klar, keine Bange.“
 
Zwei Wochen dauert es, bis Charlotte realisiert, dass der schöne Eduard sie reingelegt hat. In der Kneipe, in der sie nach ihm sucht, macht ihr der Barkeeper unmissverständlich klar, dass sie sich nie mehr dort blicken lassen sollte.
„Was wollen Sie hier? Ich kenne Sie nicht. Und wenn Sie jetzt nicht verschwinden, werde ich ungemütlich. Da ist die Tür!“
Einsam und enttäuscht steht Charlotte im kalten Novemberwind. Was gibt es doch für schlechte Menschen, denkt sie.
Wieso, fragt sie sich, ist es so schwierig, echte, verlässliche Killer zu finden. Natürlich, die Antwort liegt auf der Hand: Es muss an Paderborn liegen. Klar, zu klein, zu provinziell, zu katholisch – ehrliche Verbrecher findet man hier eben nicht.
 
Und so erweitert sie ihre Suche nach einem Geschäftspartner auf die in diesem Sinne wohl vielversprechende Verbrecherszene in der Großstadt Bielefeld. Hier, so erfährt sie schnell, sind die Preise etwas höher als auf dem Land. Aber dafür macht Antony aber auch einen wesentlich entschlosseneren und gefährlicheren Eindruck als die Möchtegern-Killer aus dem Paderborner Land.
Sie hat Antony in einer Kneipe in der Nähe des Bielefelder Kesselbrinks kennengelernt. Sie hat ja jetzt schon Übung, was Auftritte in zwielichtigen Spelunken anbelangt, und da ist der Kontakt schnell hergestellt.
Sie glaubt auch, mittlerweile einen besseren Blick bekommen zu haben, für echte Profis. Schließlich hat sie ja mit falschen schon hinlänglich Erfahrung gemacht. Auch die Wahl der Lokalitäten scheint ihr mittlerweile besser zu gelingen. Bei ihrem ersten nächtlichen Ausflug nach Bielefeld versucht sie es in Kneipen mit vielversprechenden Namen wie „Rolandseck“ oder „Bei Babsi in der Zündkerze“. Da sind aber nur Möchtegern-Ganoven unterwegs.
Aber hier, im „Vierspänner“ sitzen die, die sie braucht. Verbrecher mit Charakter. Und so einer ist Antony ganz sicher.
„Gib mir die Adresse, Puppe. Ich mach’s mit dem Messer.“
Ja, das ist doch mal eine Ansage. Die Anzahlung ist happig, aber das seien die in Bielefeld üblichen Preise, versichert ihr Antony.
 
Vier Tage später kommt Helmut von der Arbeit nicht nach Hause. Schon über eine Stunde ist er überfällig. Nervös läuft Charlotte in der Küche auf und ab. Ja. Ja. Es ist passiert. Ihr Herzschlag dröhnt ihr in den Ohren.
Es klingelt. Das muss die Polizei sein, um ihr die traurige Nachricht zu überbringen. Ja. Ja. Charlotte atmet tief durch, ringt um Fassung für den jetzt folgenden theatralischen Auftritt und öffnet die Tür.
„Wo ist bloß mein dämlicher Schlüssel?“, nuschelt Helmut arg schwankend vor sich hin. Er hatte mal außer Haus gesoffen.
„Hol mir noch ’nen Bier“, befiehlt er seiner völlig niedergeschlagenen Frau.
 
In dieser Nacht ist Helmut viel zu betrunken, um auf seine Frau einzuprügeln und deshalb hat Charlotte Zeit und Ruhe, um darüber nachzudenken, warum immer alles schiefläuft. Eine Antwort findet sie in dieser Nacht nicht. Und leider auch nicht die Einsicht, diese irrwitzige Killer-Suche endlich sein zu lassen.
Stattdessen folgt auf den vom Erdboden verschluckten Antony ein Mann, der sich Viktor nennt. Wieder geht viel Geld als Anzahlung über den Kneipentisch und wieder ist die Ankündigung großspurig.
„Mann ist weg in zwei Tage! Nazdorovje!“
 
Wie bitter der Moment, als Charlotte sich irgendwann eingestehen muss: Auch Killer Nummer vier hat sie ausgenommen wie die sprichwörtliche Weihnachtsgans.
„Ganz recht, eine dumme Gans bist du!“
Charlotte steht vor dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer und schreit ihr Spiegelbild an. Sie hat lange geweint. Jetzt ist sie ganz klar:
„Du dumme Gans. Und immer wieder die gleiche Nummer. Wie kann man immer wieder auf die gleiche Nummer reinfallen?“
Darauf hat das Spiegelbild keine Antwort.
Charlotte lässt sich aufs Bett fallen und zieht Bilanz. Insgesamt hat sie 45.000 Mark in die professionelle Entsorgung von Helmut investiert. In Meckie, in den schönen Eduard, in Antony und Viktor.
So etwas darf man dann wohl mit Fug und Recht als Fehlinvestition bezeichnen.
Die Staatsanwaltschaft hat dafür allerdings ein anderes Wort. In der Anklageschrift findet sich Charlottes Ausflug in die Killerszene später als Anstiftung zum Mord in vier Fällen wieder.
 
Was Charlotte Griem und Ludmilla Kara bis zu diesem Zeitpunkt getrieben haben, um Helmut Griem zu beseitigen, füllt in der besagten Anklageschrift bereits über 300 Seiten. Schließlich muss jedes einzelne Delikt rechtlich gewürdigt werden. Für die Voodoo-Hexerei findet sich im Strafgesetzbuch zwar kein entsprechender Paragraph, für den Giftcocktail und die wiederholten Bemühungen, einen Killer anzuheuern, allerdings schon.
Hätten die beiden Frauen jetzt aufgehört, hätten sie den Irrsinn beendet, sie wären vor Gericht wahrscheinlich einigermaßen glimpflich davon gekommen.
 
Aber Charlotte Griem und Ludmilla Kara denken gar nicht daran aufzuhören. Im Gegenteil.
Charlotte hat sich nach den Rückschlägen mit den Möchtegern-Killern sofort wieder an die Wahrsagerin gewandt.
Ihre Verzweiflung ist größer denn je. So weit ist sie jetzt schon gegangen – jetzt will sie den Weg auch zu Ende gehen. Und Madame Kara, immer noch in der Hoffnung, an das große Geld zu kommen, wenn Helmut erst einmal aus dem Weg ist, bestätigt sie in ihrem Willen. Und deshalb planen sie den nächsten Schritt, den endgültigen Schritt. Den Schritt, der nicht schiefgehen kann, weil sie es wieder selber in die Hände nehmen werden. Und sie haben gelernt, dass man nicht zimperlich sein darf. Ein Reinfall, wie der mit dem selbstgebrauten Giftcocktail darf nicht noch einmal vorkommen. Die nächste Attacke muss radikaler sein.
Und so planen sie ihn minutiös – den letzten großen Angriff auf Helmuts Leben.
„Wir schießen ihn tot!“
„Wie schießen wir ihn tot?“

„Mit einer Pistole!“
„Mit was für einer Pistole?“
„Mit dieser hier!“
Die Waffe, die Madame Kara auf den Tisch legt, auf dem Kristallkugel und Voodoo-Verbrennung so schmachvoll versagt haben, ist eine Pistole, Kaliber 6,35 Browning.
Es ist ein sogenannter Taschenrevolver, ein echtes Schmuckstück. Eine eher kleine Waffe, aber hoch effizient. Zur Zeit des zweiten Weltkriegs war die 6,35 eine sehr beliebte Offizierswaffe. Aber nicht nur das: bis in die 1970er Jahre war sie bei der deutschen Polizei im Einsatz, als Dienstwaffe der weiblichen Kriminalbeamten.
„Wo haben Sie die her, Madame Kara?“, fragt Charlotte, als sie die Pistole vorsichtig vom Tisch nimmt und in ihrer Hand hält.
„Ein Kunde, besorgt um meine Sicherheit, hat sie mir einmal vermacht. Ich habe sie aufbewahrt und jetzt wird sie uns gute Dienste leisten.
„Ich kann das nicht“, sagt Charlotte unter Tränen.
„Aber ich“, erwidert Madame Kara.
Und dann schmieden sie den Plan. Den todsicheren Plan.
 
Es geschieht an einem Donnerstag.
Helmut sitzt wie jeden Abend am Küchentisch, vor sich sein Bier, vertieft in die Fußballberichterstattung der Lokalzeitung. Charlotte sitzt ihm gegenüber, beobachtet ihn und sorgt dafür, dass er sich nicht vom Tisch wegbewegt. Und für noch etwas hat sie gesorgt: dass die Haustür an diesem Abend offen steht.
Ludmilla Kara schleicht sich in die Wohnung. Ohne ein Geräusch zu machen nähert sie sich von hinten dem ahnungslosen Helmut. Die Pistole griffbereit in ihrer Manteltasche.
Aufgeregt schnattert Charlotte irgendeinen Unfug, der ihr gerade in ihren verwirrten Kopf kommt. Hauptsache, Helmut ablenken, damit er nicht hört und mitbekommt, was da für ein Ungemach auf ihn zukommt.
Helmut denkt noch, was für eine dummschwätzende Frau er hat. Es ist das letzte, was er an diesem Abend denken kann.
 
Madame Kara hat die Pistole jetzt in der Hand. Einen Schritt ist sie noch von Helmut entfernt. Sie bleibt stehen und zielt mit erstaunlich ruhiger Hand auf Helmuts riesigen Stiernacken. Ein nicht zu verfehlendes Ziel. Sie drückt ab. Die Kugel dringt von hinten tief in Helmuts Hals ein.
Helmut bricht zusammen, sein Kopf knallt vorn über auf den Küchentisch. Totenstille. Mit einem stummen Nicken in Richtung Charlotte verlässt die Wahrsagerin die Wohnung. Immer noch Totenstille.
Langsam steht Charlotte vom Küchentisch auf. Jetzt ist sie dran: Sie muss jetzt die Polizei anrufen und aufgeregt erzählen, dass ein Einbrecher in die Wohnung eingedrungen ist und ihren geliebten Ehemann zur Strecke gebracht hat. Sie hat diese Geschichte geübt, auch die Trauer und Fassungslosigkeit geprobt, die sie vorspielen soll.
Immer ein Auge auf die massige, unbewegliche Gestalt am Küchentisch gerichtet, macht sie sich auf den Weg Richtung Flur. An der Tür bleibt sie stehen, ist fasziniert von dem Anblick des Blutes, das in einem kleinen Rinnsal von Helmuts Genick hinunter auf sein Hemd tropft. Was für ein hässliches Hemd, denkt sie noch, bevor sie einen spitzen, gellenden Schrei ausstößt.
 
Ein zuerst kaum hörbares, dann aber immer deutlich werdendes Stöhnen dringt vom Küchentisch zu ihr herüber. Helmuts Arme bewegen sich. Zunächst der rechte, dann der linke. Und dann drückt Helmut langsam seinen massigen Oberkörper vom Tisch hoch. Er taumelt ein wenig, hält sich aber aufrecht und fasst schließlich mit seiner linken Hand ins Genick.
„Was zum Teufel war das denn? Was ist passiert?“
Mit schmerzverzerrtem Gesicht zieht er seine linke Hand zurück und schaut sie sich einen Moment lang benommen an.
Die klebrige Flüssigkeit, die er sich aus dem Genick gewischt hat, ist zweifelsfrei Blut.
Charlotte steht vor ihm. Sie hat aufgehört zu schreien, ihr Entsetzen aber ist geblieben und wird von Sekunde zu Sekunde größer. Und trotzdem funktioniert ihr Gehirn in diesem Moment einwandfrei. Und das signalisiert ihr: Erzähl jetzt einfach die Geschichte, die du der Polizei erzählen wolltest. Nur lass besser die Sache mit der Pistole weg. Komm schon, das hast du geübt, also los jetzt!
Und Charlotte erzählt:
„Da war plötzlich ein Mann in der Küche. Plötzlich da, mitten im Türrahmen. Mit einem Tuch vorm Mund und in der Hand einen riesigen Knüppel. Ich hab geschrien und er hat dir sofort von hinten einen über den Kopf gegeben. Ich hab immer weitergeschrien und da ist er weggelaufen. Der wollte wahrscheinlich meinen Schmuck. So ein Schuft.“
 
Benommen steht Helmut auf. Der 100-Kilo-Koloss wankt, schüttelt mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf und muss sich mit einer Hand gut an der Spüle festhalten, um sich mit der anderen das Blut aus seinem Nacken zu waschen.
„Das ist doch Scheiße“, brummt er und nimmt einen großen Schluck Bier.
„Du musst morgen unbedingt die Polizei anrufen. Kann doch nicht jeder hier rein spazieren und mir einen auf den Detz geben.“

„Natürlich, mach ich. Jetzt leg dich hin und ruh dich aus.“
Helmut brummt irgendetwas Unverständliches, trinkt das Bier in einem Zug leer und geht ins Bett.
Charlotte ist fassungslos, dass sich Helmut nicht mal von einem Schuss ins Genick unterkriegen lässt. Was ist das für ein Mensch, den nichts auf der Welt umbringen kann? Das muss doch der Teufel persönlich sein.
Glücklicherweise ist dieser Teufel aber so dumm und arglos, dass er ihr wenigstens die Nummer mit dem Einbrecher abnimmt. Ein schwacher Trost.
Helmut schläft in dieser Nacht tief und fest. Am nächsten Morgen aber klagt er über arge Kopfschmerzen.
Charlotte meint, das würde schon irgendwie wieder vorbeigehen, aber Helmut entscheidet sich für einen Besuch beim Arzt.
Charlotte ist sich sicher, dass jetzt alles auffliegen wird. Sie wählt die ihr so vertraut gewordene Nummer.
„Sie glauben’s nicht. Sie glauben’s nicht. Er lebt!“, schreit sie fast in den Hörer.
„Wer lebt?“ Madame Karas Stimme klingt gereizt.
„Na Helmut!“
„Blödsinn, ich hab ihn doch selber erschossen.“
„Er lebt, er lebt. Und jetzt ist er beim Arzt. Alles kommt raus.“
Dann ein Klicken in der Leitung. Madame Kara hat aufgelegt.

Charlotte packt dann ein kleines Köfferchen mit dem Nötigsten. Was man so braucht, wenn die Polizei einen holt und ins Gefängnis steckt. Und so sitzt sie fast eine Stunde lang am Küchentisch. Ein kleines Häufchen Elend, das schluchzend auf seine Strafe wartet.
 
Doch nicht die Polizei kommt, sondern Helmut. Zurück vom Arzt. Der hat die Wunde, die die Patrone in Helmuts Nacken hinterlassen hat, gesäubert und mit einem Pflaster versehen.
Groß sei sie ja nicht, hatte der Arzt gesagt. Das könne schon mal vorkommen, wenn man von einem Stock oder Knüppel getroffen worden sei.
Der Arzt schreibt ihn nicht einmal krank. Das würde schon wieder. Gegen den Kopfschmerz empfiehlt er Aspirin – dreimal täglich.
Charlotte empfängt ihn zu Hause und versteht die Welt nicht mehr.
 
Wenn Helmut drei Tage später nochmal zu Arzt geht, hat das schon etwas zu bedeuten. Die Kopfschmerzen wollen und wollen einfach nicht verschwinden. Die Dosis Aspirin hat er schon erhöht, auch die abendliche Ration Bier – allein: Geholfen hat es nicht. Der Arzt untersucht und säubert nochmals die Wunde. „Alles ganz gut verheilt so weit. Prima. Sie werden sehen.“
Der Arzt versucht es mit aufmunternden Worten, wo es ihm offensichtlich an Sachkenntnis fehlt.
„In ein paar Tagen sind auch die Kopfschmerzen weg. Sie stecken das schon weg. Sie sind doch ein kräftiger Kerl.“
 
Der kräftige Kerl brummt und geht heim. Und kommt zwei Tage später wieder.
„Machen Sie was, Doktor. Die Schmerzen werden mehr statt weniger. Der Kopf brummt, vor allem aber habe ich auch überall im Gesicht Schmerzen. Und der Mund brennt ganz fürchterlich. Und meine Zunge ist taub und schwer.
Das Stichwort Mund gibt dem über die Maßen inkompetenten Arzt schließlich die Inspiration, die es braucht, um die wahre Ursache für Helmuts Schmerzen zu finden.
„Dann machen Sie mal den Mund weit auf“, fordert der Arzt.
„Aah!“, macht Helmut.
„Ooh!“, macht der Arzt.
 
Etwas in Helmuts mittlerweile dick angeschwollener Zunge hat seine Aufmerksamkeit erregt.
Der Mediziner nimmt eine kleine Zange und greift beherzt zu. Helmut stöhnt zweimal kurz auf. Das erste Mal, als der Doktor etwas aus seiner Zunge herauszieht. Das zweite Mal, als der Doktor ihm das Fundstück zeigt: eine Patrone, Kaliber 6,35 Browning.
Helmut starrt sekundenlang auf das kleine blutige Ding, das der Arzt mit seiner Pinzette hochhält.
„Wie kann? Wer hat? Wieso? Hä?“ Helmut kann keinen Satz zu Ende bringen. Er ist, wie man im Westfälischen so schön sagt, verdaddert.
Der Arzt legt die Patrone in eine kleine Schale.
„Das kann ich Ihnen natürlich auch nicht erklären, Herr Griem. Aber wir rufen jetzt besser mal die Polizei an.“
 
Denn die Frage, wie eine Pistolenkugel in die Zunge eines Menschen kommen kann und warum, klärt glücklicherweise weder der schwerfällige Helmut, noch der schludrige Doktor. Wenn Schussverletzungen entdeckt werden, nimmt sich automatisch die Kriminalpolizei der Sache an.
Zwei Polizeibeamte holen Helmut deshalb aus der Praxis des Arztes ab und fahren ihn direkt ins Polizeipräsidium. Ein Gerichtsmediziner wird zu Rate gezogen, der eine solche Untersuchung, zumal an einem lebenden Patienten, auch noch nicht so häufig gemacht haben dürfte.
 
Nach eingehender Betrachtung von Helmuts Zunge, seinem Rachen und seinem Genick wendet er sich an die beiden wartenden Kriminalbeamten – mit einem Lächeln auf dem Gesicht:
„Das Projektil Kaliber 6.35 ist rechts neben der Halswirbelsäule in den Nacken des Opfers eingedrungen. Die Nackenmuskulatur des Opfers ist allerdings sehr ausgeprägt. Zwar hatte die Patrone noch genug Kraft, um den Gaumen zu durchschlagen. Danach aber verlor sie bedeutend an Schwung, so dass sie in der Zunge steckenbleiben konnte.“
Bei der Beantwortung der Frage, wieso so etwas weder Opfer noch behandelndem Arzt aufgefallen sei, wird das Lächeln auf dem Gesicht des Gerichtsmediziners noch etwas breiter. Er hält ein Beutelchen mit dem corpus delicti in die Höhe.
„Ein Projektil des Kalibers 6,35 ist 2,2 Zentimeter lang und etwas mehr als 3 Gramm schwer. Kein Riesending also. Die Einschusswunde war tatsächlich nicht sehr groß. Trotzdem kann ich nicht sagen, dass der behandelnde Arzt ein herausragender Vertreter unserer Zunft ist. Eigentlich hätte er es erkennen müssen.“
Die Polizisten schütteln ungläubig den Kopf.
„Und das Opfer? Ich meine, ich merke doch, wenn mir jemand von hinten ins Genick schießt!“
„Na ja – und wenn man so kräftig gebaut ist wie Herr Griem, dann kann man den Einschuss schon als Schlag empfinden. Wie man allerdings über eine Woche mit einer Patrone in der Zunge herumlaufen kann, ist mir auch ein Rätsel. Ich tippe auf viel Aspirin und noch mehr Bier. Davon wird die Zunge ja ohnehin schwer, nicht wahr?“
„Wir sollten mal mit der Frau des Opfers sprechen. Herr Griem hat uns erzählt, seine Frau hätte von einem Einbrecher gesprochen. Der sei allerdings mit einem Knüppel auf ihn losgegangen – von einer Waffe war bei ihr nie die Rede.“
 
Schon beim ersten Gespräch der Beamten mit Charlotte Griem bricht diese unter Tränen zusammen. Und sie erzählt. Und erzählt. Wie sie unter Helmut gelitten hat. Dass sie Hilfe gesucht und in Madame Kara gefunden habe. Was sie alles schon versucht haben. Dass aber irgendwie nichts geholfen hätte. Und dass dann alles schief gegangen wäre.
Und dann nimmt sie ihr Köfferchen, das sie ein paar Tage zuvor ja bereits gepackt hatte, und folgt den sprachlosen Beamten ins Polizeipräsidium.
Madame Kara ist zunächst ein härterer Brocken. Ja, ihre Zauberkraft habe sie wohl in den Dienst ihrer bemitleidenswerten Kundin gestellt, aber selbst Hand angelegt am Giftcocktail oder gar an der Pistole. Nein, auf keinen Fall. Und Voodoo alleine sei ja nun mal nicht strafbar.
„Voodoo nicht, aber versuchter Mord“, entgegnen die Beamten.
Denn die Kollegen von der Spurensicherung, obwohl nicht mit hellseherischen Fähigkeiten gesegnet, haben längst die Browning gefunden – in einer Schublade in Madame Karas Wohnung. Direkt daneben eine mittelgroße Kristallkugel und den verschmort riechenden Klumpen von dem, was einmal Hemd, Haar und Foto vom offenbar unbesiegbaren Helmut Griem aus Paderborn war.
 
Das Landgericht Bielefeld verurteilte Charlotte Griem und Ludmilla Kara am 23. Februar 1996 wegen versuchtem Mord und Anstiftung zum Mord in vier Fällen zu jeweils sechs Jahren Haft.
Strafmildernd wirkte sich laut Urteilsbegründung die unterdurchschnittliche Intelligenz der beiden Angeklagten aus.
Besonders aber ihr unglaublicher Dilettantismus.

Thorsten Knape

Thorsten Knape

Bei seiner Arbeit als TV-Reporter hat Thorsten Knape es andauernd mit realen Geschichten von Menschen zu tun. Deshalb weiß er auch, was eine gute Story ist. Um die manchmal bewegenden, manchmal schockierenden Eindrücke zu verarbeiten, hat er für sich als Ausgleich das Schreiben entdeckt. Will man dieser Tätigkeit nachgehen, bedarf es allerdings Disziplin und eines Rückzugsortes. Den hat er in einem alten Weinbauernhof in Frankreich gefunden, der von ihm und seiner Frau seit 8 Jahren restauriert wird. Der von Neugierde angetriebene Reporter ist bemüht, aus jedem Tag das Beste zu machen.
Thorsten Knape

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Ein Gedanke zu “Voodoo (nach einer wahren Begebenheit)

  1. naja nett geschrieben , stimmt aber zum teil nicht ganz.
    zb. es wurde keiner aus bielefeld nähe kesselbrink angeheuert.
    der kam aus brackwede….und das war auch ne coole story…
    das ganze könnte man sowieso mal verfilmen…
    lg

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