Geschrieben von Alexander Gruber
Ein Brahmane lebte mit Frau und Kindern in großer Armut, und eines schönen Tages ging der Frau das über die Hutschnur, obwohl sie gar keinen Hut trug, und nannte ihn hartherzig und faul, stinkefaul! „Du siehst anscheinend gar nicht, wie unsere Kinder Hunger leiden, nein, du lebst lässig und sorglos vor dich hin! Gehst jeden Tag aus dem Haus, spielst den großen Maxen, und wir hauen das Maul an den Türpfosten! Jeden Tag das Gleiche! Tu endlich was! Geh arbeiten! Oder such sonst einen Weg, Brot ins Haus zu schaffen!“
Tja, wo sollte er hin? Er wusste es nicht, ging immer vor sich hin, kam in einen großen Wald, ging weiter und weiter. Hunger und Durst meldeten sich; er suchte nach Wasser. Mit eins sah er eine von Gräsern umwucherte Zisterne. Da vielleicht? Er ging bis zum Rand und schaute hinab: ein Tiger, ein Affe, eine Schlange, ein Mensch blickten nach oben.
Der Tiger rief: „Mann! Guter Mann! Zieh mich raus! Hilf mir raus! Du weißt: Ein Lebewesen retten, eine bessere Tat gibt es nicht! Wenn du mir hilfst, kann ich wieder zu meinem Weib, meinen Kindern zurück! Mich mit der ganzen Verwandtschaft freuen und mit meinen Freunden feiern! Ach, zieh mich raus!“ – „Was redest du da, Tiger? Alle fürchten sich, wenn sie dich nur von ferne hören oder eine Spur von dir sehen! Alles, was lebt, gerät in Angst und Schrecken, auch ich! Ich kann dir nicht helfen!“ – „Du weißt: eine Sühne gibt’s für den Mörder, den Schnapssäufer, den Feigling, den Verräter, den Betrüger! Keine für den, der undankbar ist. Aber ich will dreimal verflucht sein, wenn ich dir nur auch ein Haar krümme! Zieh mich, ich bitte, heraus!“
‚Ach‘, dachte der Brahmane, ‚Einem lebendigen Wesen das Leben retten, bleibt eine gute Tat. Auch wenn’s einem kein Glück bringt!‘ Und so zog er den Tiger mit großer Kraftanstrengung heraus. Da bettelte auch der Affe: „Mich! Mich zieh auch heraus! Mich auch, bitte, bitte! Du Lieber, du Guter! Du Allerbester!“ – „Also gut! Auch dich!“ Und er zog den Affen heraus.
Die Schlange aber, sie war so aufgeregt, sie konnte nur zischen und zischte: „Tsu dsu mis au-chh retsen, mi-chh auchh rch-aussstzschiieeehn!“ – „Oh, nein!“, sagte der Brahmane. „Ihr Schlangen seid doch entsetzlich! Und gar euch anfassen!“ – „Ch-aber nein, ch-och unth cheilich! Ichh t-ichh nichhth beiss!“ – „Na denn, komm!“ Und er zog auch die Schlange heraus.
Der Tiger aber sagte zu ihm – und die anderen beiden nickten bei jedem Wort: „Da unten ist noch ein Mensch, ein Ausbund allen Übels! Den rette nicht! Lass dich ja nicht beschwatzen! Dem Menschen kannst du nicht trauen!“ Aber der Tiger sagte: „Siehst du den Berg dort? Am Nordhang verläuft eine Schlucht, und da ist meine Höhle. Tu mir die Ehre und besuche mich dort. Ich will dich als meinen Gast feiern!“ Und ging in die Richtung des Bergs davon. Und der Affe sagte: „In der Gegend lebe ich auch, nah bei einem Wasserfall. Gehst du zum Tiger, besuche mich! Ich will mit dir fröhlich sein!“ Und schwang sich auf einen Ast und sprang auf den nächsten Baum und geschwinde weiter und war den Blicken entschwunden. Die Schlange aber sagte: „Wenn du in Not gerätsststhh, denk an michh! Ichh werde da sssein!“ Und verschwand.
Der Mann aber in der Zisterne rief unaufhörlich: „Hilf mir! Rette mich! Zieh mich raus! – Hilf mir! Rette mich! Zieh mich heraus!“ Der Brahmane dachte: ‚Er ist doch ein Mensch!‘ Und zog ihn heraus. – „Dank! Tausend Dank, ja! Ich bin Goldschmied. Ich wohne in Jasnada. Wenn du mal einen Goldschmied brauchst, komm nur vorbei!“ Und ging davon.
Der Brahmane ging weiter, doch Hunger und Durst plagten ihn immer noch, und er gedachte des Affen und traf ihn auch an. Der Affe freute sich, ihn so bald wiederzusehen, und setzte ihm süße, saftige Früchte vor, die den Brahmanen erquickten. „Wenn du dich erfrischen willst,“ sagte er beim Abschied, „komm immer zu mir!“ – „Wie gern!“, sagte der Brahmane. „Aber zeig mir doch die Höhle des Tigers.“ – „Komm mit!“ Und nach ein paar Schritten zeigte er ihm die Höhle. Auch der Tiger erkannte ihn sofort, begrüßte ihn und die Gelegenheit, sich erkenntlich zu zeigen, ging in den Hintergrund seiner Höhle und brachte in einer seiner Pranken eine kunstvoll gearbeitete Goldkette und andere Kleinodien mit. „Für dich!“, sagte er. „Ich kann doch gar nichts damit anfangen. Es hat einem Prinzen gehört, dem das Pferd durchgegangen ist, als es mich gewittert hat. Er ist gestürzt und hat sich den Hals gebrochen. Seinen Schmuck habe ich nicht fressen können. Du sollst ihn haben – zum Dank!“
‚Ja!‘, dachte der Brahmane. ‚Der Goldschmied, der kann’s schätzen und für mich verkaufen.‘ Zu dem ging er also. Der begrüßte ihn freudig und bewirtete ihn mit Speis und Trank. „Hier hab ich was.“, sagte er schließlich und zog den Schmuck heraus. „Du wirst besser wissen, was das wert ist, und kannst es für mich verkaufen?“ – „Ja, lass sehen!“ Und der Goldschmied nahm das Geschmeide entgegen, sah’s an und erkannte es als von ihm kunstvoll gefertigt. Da erschrak er, sagte indessen nur: „Warte einen Moment, ich will’s noch jemand zeigen.“, und eilte ins Königsschloss, denn er hatte es für den Prinzen gearbeitet, und zeigte es dem König. Der erkannte es ebenso und fragte entsetzt: „Wie bist du dazu gekommen? Es hat meinem Sohn gehört!“ – „Ich weiß wohl! Bei mir im Haus sitzt ein Brahmane, der hat’s mir gebracht.“ – „Oh, der hat meinen Sohn ermordet!“ Und zu seinen Dienern: „Bringt ihn in Ketten her! Morgen stirbt er am Pfahl!“
So lag der Brahmane nun gefesselt in einem der Kerker im königlichen Schloss, halb betäubt und dachte mit eins an die Schlange. Schon war sie da und zischte: „Wass chann ich thun für dichh?“ – „Befrei mich, ich fleh dich an!“ – Ichh khann die Khetthen nichhth tserbeiszen. Thie Khönigin werdh ichh beisszen, unth khein Arzsth ssoll ihr helfen, nur thu, wenn thu die Chand auflegsth.“ Damit verließ sie ihn, schlich in die Gemächer der Königin und biss sie alsbald.
Oh, gab das einen Aufruhr! Ein Wehgeschrei! Bestürzung durch den Palast und die ganze Stadt! Alle Ärzte, Heilkundigen, Kräuterweiber, Hagezusen, Schlangenbeschwörer kamen zuhauf – doch niemand konnte helfen. Da ließ der König ausrufen: „Wer die Königin heilt, erhält, was er sich wünscht!“ Und der Brahmane im Kerker sagte den Aufsehern, er vermöge das. Sogleich nahmen sie ihm die Fesseln ab und führten ihn ungewaschen und zottelig, wie er war, vor den König. „Hilfst du der Königin, bist du frei! Gesundet sie, wirst du bekommen, was immer du dir wünschst.“ – „Lasst mich ihr die Hand auflegen!“, sagte er. Das geschah, und alsbald war die Königin gesund, jünger und schöner als je zuvor.
Der König war glücklich, ließ den Brahmanen ins Bad führen, ihn pflegen, ihm neue Gewänder zurechtlegen, ihm Reis mit köstlichen Gewürzen vorsetzen und fragte dann: „Du bist der, der den Schmuck meines Sohnes hatte. Wie kamst du dazu?“ Das berichtete ihm der Brahmane, und seine Unschuld wurde erkannt. Der König aber machte ihn zum Herrn über hundert Dörfer, ja, machte ihn zu seinem Kanzler. Längst war seine Familie wieder mit ihm vereint und aus aller Armut gerettet. Oft und oft gedachte er seiner Tiere und verlangte schonenden Umgang mit allen Tieren im Reich.
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Alexander Gruber: Tiermärchen aus Indien
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