Möbius und der Weihnachtsengel

oder: „Untenrum obenauf“
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Spargelpisse. Heute ist der 11. Dezember und ich besprenkele die Schüssel hier mit Spargelpisse, denkt Möbius, während er die Spülung drückt und die Boxershorts hochzieht, Spargelpisse – ein rüdes Wort und doch so treffend. Die ganze Toilette riecht jetzt danach. Frühjahrsduft zur Weihnachtszeit, denkt er und muss unwillkürlich lächeln. Was so ein paar kleine Spargelstückchen ausmachen können. Er hatte sich gestern Abend ein Stück Hackbraten mit Kartoffeln in die Mikrowelle geschoben, dazu Erbsen, Möhren und Spargelspitzen aus der Dose. Das reicht schon für den penetranten Geruch. Möbius tapst zurück ins Schlafzimmer. Jetzt noch ein, zwei Stündchen schlafen und dann irgendwo frühstücken gehen. Aber das ist heute nicht drin. Der Tag ist randvoll mit Terminen. Mit lästigen Terminen. Um 9 Uhr Prostata-Vorsorge beim Urologen. Nachdem Dr. Thies letztes Jahr in den Ruhestand gegangen ist, erwartet ihn dort ein Neuer, ein ganz quirliger, wie Möbius gehört hat. Ihm fällt jetzt ein, dass er noch in der Firma Bescheid sagen muss, dass er später kommt. Er tippt auf die Kurzwahltaste. „Möbius Mobile, Sandra Paulsen am Apparat, was kann ich für Sie tun?“ Sandra, formvollendet wie immer. „Ich bin’s, ich komm erst gegen halb zwölf rein, hab noch n’ Arzttermin. Informieren Sie bitte meinen Sohn?“ „Alles klar, Herr Möbius, aber denken Sie bitte noch an die Übergabe des Hauptpreises auf dem Weihnachtsmarkt um 13 Uhr. Die Lokalpresse wird vor Ort sein.“ Stimmt, das war ja auch noch. „Danke Sandra, ich bin rechtzeitig da.“ Für die Weihnachtslotterie hat Möbius einen Seat als Hauptgewinn gestiftet. Gibt ein schönes Foto in der Tageszeitung, wenn der Inhaber von Möbius Mobile dem Hauptgewinner die Autoschlüssel überreicht. Rechnet sich außerdem. Positiver PR-Effekt, der ihn letztendlich billiger kommt als zwei, drei Anzeigen in den Tagesblättern. Er duscht fünf Minuten, rasiert sich, föhnt kurz durch, zieht sich an: Jeans, hellblaues Hemd, taubenblaues Sakko. Genau auf der Nahtstelle zwischen salopp und seriös. Immer angemessen angezogen, ganz gleich, welche Termine auch anstehen. Ach Gott, da ist ja heute Abend noch ein besonders ödes Gesellschaftsereignis, denkt Möbius und seufzt tief durch. Treffen mit der Belegschaft von Lebensbaum e.V.: Erst gemeinsam über den Weihnachtsmarkt schlendern, dann Essen gehen bei Christos. Er kann das auch nicht absagen, schließlich hat er die Truppe eingeladen. Ein kleines Dankeschön für ein gutes Geschäft. Der mobile Pflegedienst hat im November immerhin seine gesamte Fahrzeugflotte bei ihm geleast: 12 funkelnagelneue Seat Ibiza mit Erdgasantrieb. Da kann er sich nicht lumpen lassen, da muss er auch mal ein paar Stunden Smalltalk durchstehen. Schicke rote Flitzer mit Firmenaufdruck – und dazu umweltfreundlich. Darauf hatte Anja bestanden. Möbius kennt Anja Kleinitz, die Geschäftsführerin, schon seit dem Gymnasium. Eine Netzwerkerin, die ihn immer wieder durch ihre Energie beeindruckt. Das gute alte Vitamin B, es wirkt immer noch. Apropos Vitamin: Höchste Zeit für den Besuch beim Urologen.

Dr. Kinzig heißt der neue Arzt und er verwendet denselben psychologischen Trick wie sein Vorgänger, um den Patienten eine kürzere Wartezeit zu suggerieren. Vom Wartezimmer aus wartet man sich in Etappen an das Behandlungszimmer heran. Es funktioniert, Möbius kommt die Wartezeit wirklich relativ kurz vor. Denn jetzt geht bereits die Tür auf und der Doktor kommt heraus, streckt ihm gleich die Hand entgegen. Er ist etwa Anfang vierzig, schätzt Möbius, eher kompakt gebaut, das dunkle, kurzgeschnittene Haar zieht sich Richtung Hinterkopf zurück. „Kommen Sie erstmal rein,“ sagt er, während er immer noch Möbius’ Hand schüttelt. Ein dynamischer Händedruck. „Nehmen Sie Platz, Routine-Vorsorge?“ Möbius nickt. Er meint, eine schwäbische Spracheinfärbung herauszuhören. „ Ich sehe, Sie sind vor kurzem 64 geworden, da wird es aber höchste Zeit, vom 2-Jahres-Rhythmus auf eine Vorsorge-Untersuchung pro Jahr umzusteigen.“ Möbius nickt wieder. „Deswegen bin ich hier.“ „Sehr gut,“ der Doktor hat anscheinend gute Laune,“ die Zeiten sind schließlich vorbei, wo Sie quer über die Motorhaube Ihres Autos pinkeln konnten, nicht wahr?“ Es herrscht einen Wimpernschlag lang Stille. „Aber für die Felgen reicht’s noch.“ Möbius ist verblüfft über seine eigene Schlagfertigkeit. Der Doktor anscheinend auch. Dann lachen beide gleichzeitig los. Im Stillen fragt sich Möbius, wie der fröhliche Mediziner so treffsicher den Bezug zu Automobilen herstellen konnte. Der Beruf steht ja wohl kaum in der Patientendatei, die Dr. Kinzig aufgerufen hat. Aber sicher ist er sich nicht. Der Arzt hat indes sein Thema gefunden: „Früher konnte man noch seinen Namen in den Schnee pinkeln, selbst wenn man ‚OttovordemGenschenfelde’ hieß. Heute kann man froh sein, wenn’s noch mit den Initialen klappt.“ Möbius lacht mit und bewundert insgeheim die Art und Weise, wie der Doktor die urinalen Themen Menge und Strahldruck so charmant durchmoderiert hat. Aber der macht unerbittlich weiter: „Und sonst? Untenrum alles obenauf?“ Möbius schaut irritiert hoch, aber die aufsteigende Zeigefingerbewegung des Arztes lässt keine Missverständnisse zu. Um auch dieses für ihn unangenehme Thema mit einem Augenzwinkern zu umschiffen, greift er die Tonlage auf: „Zurzeit außer Betrieb wegen Mangels an Gelegenheit. Ich bin seit fast drei Jahren Witwer.“ „Na, das tut mir leid“, sagt Dr. Kinzig, einen Moment lang ernst, „aber drei Jahre sind ja eine lange Zeit. Kein Grund, Spinnweben anzusetzen. Um sich einzumotten, sind Sie mit 64 noch zu jung. Soll ich Ihnen was verschreiben? Nur für den Fall, dass die Gelegenheit sich unverhofft einstellt. Da will man sich ja nicht blamieren. Ich verschreibe Ihnen etwas Leichtes, nicht die blauen Rhombenbomben.“ Was soll das sein: Potenz-Prophylaxe? Möbius beschleicht langsam der Verdacht, dass sich der Doktor ein Programm draufgeschafft hat, mit dem er sich elegant und aufmunternd durch heikles Terrain manövriert. Wie er wohl gegenüber Frauen auftritt? „Na, dann wollen wir mal“, sagt er schließlich und Möbius begibt sich auf die Untersuchungsliege, um das Unvermeidliche hinter sich zu bringen. Auch er hat sein Programm. Es gilt, einen Dreiklang an Geräuschen zu überstehen: Erst ein Schnalzen, wenn der Doktor seine Latexhandschuhe überstreift, dann ein Schmatzen, wenn er in die Dose mit der Vaseline greift, der Handgriff selbst ist eher lautlos, danach schließlich ein Flitschen, wenn er die Handschuhe wieder abstreift. „Alles gut, die Prostata ist leicht vergrößert. Normal für Ihr Alter.“ konstatiert der Arzt. Obwohl Möbius nichts Anderes erwartet hat, ist er erleichtert. Er bedankt sich sogar, als Dr. Kinzig sich von ihm verabschiedet. Mitten im Händeschütteln hält Kinzig inne: „Übrigens, kennen Sie den schon?“ Kann ja wohl nicht wahr sein, jetzt erzählt der auch noch Witze. „Also, Mann und Frau treffen sich beim Ü-60-Speed-Dating. Sagt er zu ihr: Ich will aber nix Festes. Sagt sie zu ihm: Dann werden Ihnen meine Oberschenkel gefallen.“ Obwohl Möbius sich eigentlich vorgenommen hatte, den Witz mit neutralem Gesicht durchzuwinken, um diesem rhetorisch übergriffigen Mediziner sein etwas seltsames Verhalten vor Augen zu führen, muss er bei diesem trockenen Joke doch spontan lachen. Kinzig schüttelt wieder seine Hand: „Ich sehe, wir verstehen uns. Schöne Advents- und Weihnachtszeit und alles Gute fürs neue Jahr. Vergessen Sie Ihr Rezept am Empfang nicht. Ich will nächstes Mal Berichte hören.“ Ein Humor, der durchaus verschreibungspflichtig ist, denkt Möbius amüsiert, als er in den Fahrstuhl steigt. Aber irgendwie hat ihn der Arztbesuch aufgemöbelt, er fühlt sich wie befreit. Für zwei Minuten hat er zwar jetzt noch das Gefühl, wie ein Kurierreiter im Western gehen zu müssen, der nach einem mörderischen 24-Stunden-Ritt endlich in Fort Laramie ankommt. Aber das gibt sich schnell wieder. Draußen hat ein makrelenfarbener Himmel die Morgendämmerung abgelöst, die ersten Leute von den Weihnachtsmarktständen öffnen schon wieder die Verschläge. In gut einer Stunde geht der Rummel wieder los. Möbius beschließt, durch die im Oktober neu eröffnete Einkaufspassage zu schlendern und dort in einem Café gemütlich zu frühstücken.

Golden Loop heißt das neue Einkaufscenter, die Etagen scheinen sich wirklich schleifenförmig übereinander zu legen. Über 100 Geschäfte beherbergt die Passage. Die Dekoration kombiniert erstaunlich geschmackvoll goldene und blaue Schleifen mit Weihnachtsbaumkugeln in den gleichen Farben. Die akustische Beschallung besteht aus amerikanischem Liedgut, „Winter Wonderland“ erklingt gerade gedämpft, gesungen von Frank Sinatra, was diesen Weihnachtsliedern eine angenehme Coolness gibt, findet Möbius. Es ist noch nicht viel los, gerade trudeln die ersten Besucher ein. Er mag diese Stimmung, wenn die Stadt sich noch die Augen reibt, bevor sie zu voller Betriebsamkeit erwacht, diese Frühstücksluft, die selbst in dieser Passage spürbar ist. Er steuert den „Presseclub“ an, ein Café, dessen Wände mit Titelseiten von Tageszeitungen dekoriert sind und bestellt sich ein herzhaftes Frühstück. Er greift sich die FAZ, legt sie aber bald wieder beiseite. Locker lassen, sich was gönnen. Er ist froh, dass er sich den Vormittag frei geboxt hat. Immer öfter stellt sich bei ihm eine absolute Unlust ein, zur Arbeit zu gehen. Das war bis vor kurzem anders. Nach dem Tod von Ines hatte er sich geradezu in Arbeit gestürzt. Als wenn er die fünf Monate aufholen müsste, in denen er sie begleitet hatte – von der Entdeckung des malignen Melanoms bis zu ihrem Sterben. Er hatte sich während dieser Zeit aus der Firma ausgeklinkt, war froh, dass sein Sohn Marc die Geschäfte führte. Als sie starb, war er wie betäubt gewesen. Selbst seine Kinder, Marc und seine ältere Tochter Nora, waren in dieser Zeit nicht an ihn rangekommen. Danach hatte er losgelegt und das mit einer Klarheit, die ihn heute noch erstaunt und – er gibt es nur sich selbst gegenüber zu – stolz macht. Wegweisende strategische Entscheidungen hatte er getroffen und das Angebot abgelehnt, der erste Vertragshändler am Platze für VW und Audi zu werden. Er hatte sich für die anderen Marken, für Skoda und Seat entschieden. Wie richtig das war, zeigte sich wenig später, als die Schummel-Software entdeckt wurde und VW am Pranger stand. In dieser Zeit hatte er auch umfirmiert. „Autohaus Möbius & Sohn“ klang antiquiert, „Möbius Mobile“ hingegen sehr modern, die Kombination war ihm eines Morgens beim Zähneputzen eingefallen. Als er den neuen Namen im Betrieb vorschlug, war Marc erst skeptisch gewesen, weil die Firmierung „& Sohn“ unter den Tisch fiel. „Aber nicht, dass du einen neuen Partner mit rein nimmst“, hatte er gesagt. Er hatte ihn beruhigen können.

Möbius nimmt noch einen Schluck von dem ausgezeichneten Kaffee und streicht sich etwas Kirschkonfitüre auf die letzte Brötchenhälfte. Das Verhältnis zu den Kindern ist nicht unkompliziert. Das viel beschriebene Zusammenrücken nach dem Tod eines Familienmitglieds hatte so nicht stattgefunden. Ines war das Zentrum, der Kitt dieser Familie gewesen. Nicht, dass sie auseinanderfiel, aber die Konstellationen innerhalb der Familie verschoben sich. Vor allem Marc war in dieser Zeit sehr empfindlich gewesen. Kein Wunder, in den Monaten nach ihrem Tod hatte er den Laden sehr gut geführt. Aber als Möbius sich wieder mit voller Wucht in die Arbeit stürzte, fühlte er sich beiseite gedrängt. Er gesteht sich ein, dass er als Vater mehr Gespür hätte haben müssen, ein Gespür, dass er bei der Führung der anderen Mitarbeiter durchaus bewies. Aber er hatte es gerade noch rechtzeitig bemerkt. Marc wurde immerhin jetzt auch schon 36. Vor einem halben Jahr hatte er ihm dann gesagt, dass er jetzt etwas kürzer treten wolle und ihn zum gleichberechtigten Teilhaber und Geschäftsführer gemacht. Der Nachteil war, dass er jetzt mehr oder weniger nur noch als bewährte Galionsfigur bei den Stammkunden fungierte, manchmal fädelte er noch einen guten Deal ein wie das Leasinggeschäft mit dem Lebensbaum e.V. Die Abwicklungsdetails überließ er indes Marc. Als er bemerkte, dass mit der abgegebenen Verantwortung auch der Spaß an der Arbeit deutlich nachließ, war der Gedanke in ihm gereift, schon zum kommenden Frühjahr den Betrieb ganz an Marc und seine Frau Linda zu übertragen. Sein Leben wurde beschaulicher, auch in seinem Witwerdasein hatte er sich eingerichtet, verspürte nicht die geringste Lust, sich neu zu binden. Mit der manchmal noch aufflackernden Trauer um Ines hatte das nichts zu tun. Allein der Gedanke, jemanden zu finden, dessen Gewohnheiten halbwegs kompatibel mit seinen waren, schreckte ihn ab. Umso ärgerlicher fand er es, dass seine Kinder sich jetzt zunehmend in sein Leben einmischten. Als sie ihn im Oktober zu seinem Geburtstag besuchten, hatten sie ihm verstärkt ins Gewissen geredet: „Papa, Du mottest Dich richtig ein,“ hatte Nora gesagt. Möbius fand das absurd. Er schottete sich keineswegs ab. Zugegeben, er schaute jetzt mehr Fernsehen und sein Geschmack tendierte zunehmend ins Seniorenhafte, er liebte Zoosendungen und hatte Geschmack an einem ZDF-Vorabend-Krimi gefunden, der in Rosenheim spielte und in dem die Kommissare die eigentliche Ermittlungsarbeit einer Sekretärin überließen, um schließlich den Fall zwischen Schweinsbraten und Semmelknödeln doch noch zu lösen. Aber an diesen harmlosen TV-Schrullen konnte es nicht liegen. Die Kinder schienen auch mehr daran interessiert zu sein, ihn zu verkuppeln. Wahrscheinlich um vorzubeugen, ihn im Alter pflegen zu müssen, wie Möbius in boshaften Momenten dachte. Lieber lasse ich mich von einer rationell arbeitenden Pflegekraft jeden Tag waschen wie ein Resopaltisch, als meinen Kindern auch nur eine Stunde zur Last zu fallen. Die Hartnäckigkeit hatte seine Tochter Nora von ihm geerbt, das hatte er immer gewusst. Als sie ihm aber schließlich gestand, ihn zum Geburtstag bei einem Online-Partner-Portal angemeldet hatte zu haben, war Möbius wütend geworden. Er hatte noch mal den Tod von Ines ins Spiel gebracht. Unfair, das wusste er, aber Nora hatte auch das glatt abgebügelt. „Du kannst nicht immer Mama für alles ins Feld führen, du machst sie für dein ereignisloses Leben verantwortlich.“ Ereignislos? Frechheit. „Was willst du denn noch in deinem Leben?“ hatte sie ihn direkt gefragt. „Enkelkinder zum Beispiel,“ hatte er geantwortet. Das war ihm so rausgerutscht und er konnte an den Gesichtern von Nora und Marc sehen, wie sie einschnappten. Möbius hatte sich daraufhin entschuldigt und sich zur Entschädigung breitschlagen lassen, an einem Speed-Dating teilzunehmen, das dieses Online-Portal in Münster veranstaltete. Es war eine Katastrophe gewesen. Die Zeit pro Date war lachhaft kurz, reichte kaum für das Abfragen der allernötigsten biographischen Informationen. Torschlusspanik in ihrer komprimiertesten Form. Besonders im Gedächtnis war Möbius eine Mittfünfzigerin geblieben, die sich zu allem Überfluss auch noch an ihm interessiert zeigte. Schon ihre Frisur – schwarz gefärbte kurze Haare mit einer roten Strähne vorn an der Stirn – hatte ihn gestört. Mit rheinischem Singsang verkündete sie, großer Karnevals- und Schlagerfan zu sein und dass es bei einem Alter um die 60 doch höchste Zeit sei, „rischtisch paardy ze maache“, spätestens da hatte Möbius sich zum Schweigen entschlossen. Das fiel nicht weiter auf, weil Sylvia, so hatte sie sich vorgestellt, ohne Punkt und Komma weiterredete. Er hatte Nora danach am Telefon von seinem Dating-Erlebnis erzählt, was sie mit einem trockenen „Trotzdem musst du dich nicht einmotten“ gekontert hatte. Da war es wieder, dieses Wort.

Hatte der Doktor nicht vorhin auch von Einmotten geredet und dazu noch diesen prächtigen Witz mit dem Ü-60-Speed-Dating gebracht, denkt Möbius, während er sein Frühstück bezahlt. Ich bin ja nicht grundsätzlich abgeneigt, jemanden kennen zu lernen, aber unter Zeitdruck setzen lasse ich mich nicht. Bevor er in den Betrieb fährt, sucht er noch die Toiletten in der zweiten Etage auf. Die noch neuen Räumlichkeiten machen Eindruck: nobles Entree, Wände und Böden aus Marmor. An einem der sechs Urinale steht noch ein anderer Herr, von den vier Kabinen ist auch eine besetzt. Möbius stellt sich an eines der Pinkelbecken, es ist sehr ruhig, nur aus den Deckenlautsprechern rieselt weiterhin mild gespülter Weihnachts-Swing, dieses Mal „Santa Claus Is Coming To Town.“ Urplötzlich ein lautes Trompetensolo aus der Eckkabine. Ein imposantes „Frööööt“ erfüllt den Raum. Möbius und der Mitpinkler können nicht anders: Sie kichern los. Das wiederum hat der Herr in der Kabine in seiner wichtigen Sitzung mitgekriegt. Ab sofort ist es mucksmäuschenstill. Möbius kann sich richtig vorstellen, wie der da jetzt mit zusammengekniffenen Backen hockt und die Luft anhält, ganz gleich, aus welcher Öffnung sie strömen möchte. Er tut ihm fast leid. Da sitzt der Mann auf einer öffentlichen Toilette, saubere Keramik ist da, Papier ist da, der Darmdruck ist da, er könnte eigentlich loslegen, wenn…ja, wenn… er nicht wüsste: Das geht nicht ohne Geräusche ab. Möbius grinst wieder in sich hinein. Das akustische Stillhalteabkommen hält an. Wie lange wird der Herr aus Eckkabine den Druck ertragen? Oder wird er irgendwann den Dingen ihren Lauf lassen, um nachher mit hochrotem Kopf und ohne die Hände zu waschen eiligst das Feld seiner Schmach zu räumen? Doch ihm kommt der Zufall zu Hilfe. Der Mitpinkler geht nach erledigtem Geschäft zum Waschbecken, wäscht sich die Hände und wirft den Händetrockner an. Dabei handelt es sich um einen jener Trockner, in die man die Hände von oben hineinhält wie in das Maul eines Hais, worauf er ein beeindruckendes Gebläse anwirft. Der lautstarke Hände-Fön legt los – und das fasst der Kabinenmann als Startzeichen auf. Er rattert los und sein Geknatter ist trotz des Blasebalgs von Trockner zu hören. Schließlich stellt der Hände-Fön seine Tätigkeit abrupt ein. Aus der Kabine ertönt noch ein wehes „pffffffft“, dann ist dort auch wieder Ruhe. Möbius beeilt sich, sein Geschäft abzuschließen. Als er den Händetrockner anwirft, lässt der Kabinenmann unter diesem akustischen Deckmantel weitere Feuerstösse los. Möbius muss grinsen. Einen Augenblick lang erwägt er, etwas mehr Zeit vor dem Waschbecken zu verbringen, um sich dieses Trompetentalent noch anzuschauen, verwirft es aber sofort wieder. Big Entertainment, Möbius ist im weihnachtlichen Swing-Modus. Was hatte der Doktor noch gleich gesagt? Untenrum obenauf? Er muss sich zusammenreißen, um nicht laut aufzulachen. Beseelt von diesem Schwung betritt er wenig später auch die Apotheke in der Passage, um das Rezept für die ärztlich verordnete Stehhilfe einzulösen. Die bemühte Gesichtsneutralität der Apothekerin, als sie ihm das Präparat überreicht, amüsiert Möbius, aber ein neutrales Gesicht machen, das kann er auch.

Zurück in der Firma richtet ihm Sandra aus, Anja Kleinitz, die Geschäftsführerin von Lebensbaum e.V. , habe angerufen. Es gehe um einen Gefallen. Er ruft zurück. „Gut, dass du anrufst“, sagt Anja, „ ich habe eine große Bitte. Kannst du dich nachher bei unserem Weihnachtsmarkt-Event ein bisschen um N.N. kümmern?“ „Um wen?“ Na, um Natalie Niehues, du weißt schon, Verwaltung und Controlling. Unser Mauerblümchen. Sie ist ja ein spätes Mädchen, immer so spröde und gehemmt. Hat bis vor kurzem noch mit Mutti zusammengelebt. Aber die Mutter ist vor sechs Wochen gestorben. Du kannst das doch am besten nachfühlen, wie es ist, einen nahen Menschen zu verlieren. Sprich einfach mit ihr, dann steht sie nicht so abseits rum. Sie hat außerdem eine Katze, genau wie du. Das ist doch auch noch ein Anknüpfungspunkt.“ Möbius weiß, dass er Anja damit wirklich einen Gefallen tut. Sie muss sich nicht kümmern und kann sich umso häufiger von den jungen Männern aus seinem Betrieb umflirten lassen, besonders von Marc und Ümit, einem seiner besten Verkäufer. „Kein Problem, ich sorge für Unterhaltung. Aber sag mal, N.N. ist ja ein gemeiner Spitzname. Wie bei Vortragsankündigungen, wenn der Redner noch nicht feststeht. Als wäre sie eine Unbekannte, eine Nichtperson.“ „Ich sehe schon, mit deinem Einfühlungsvermögen bist du genau der Richtige.“ „Wenn du jetzt Achtsamkeit gesagt hättest, würde ich nicht kommen.“ „Ich danke dir ganz herzlich“, sagt Anja lachend und legt auf. Der weitere Tag läuft bestens für Möbius. Die Hauptpreis-Übergabe der Weihnachtslotterie mit der Lokalpresse ist ein voller Erfolg. Der Hauptpreis, ein Seat, wurde in diesem Jahr früh gezogen, aber endlich einmal gewinnt die Richtige, eine 37-jährige alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Sie freut sich ehrlich, das Auto erleichtert ihr den Weg zur Arbeit. Möbius verspricht ihr, die Spritkosten für drei Monate zu übernehmen, wenn sie die Folie mit seiner Werbung solange noch am Auto lässt. Auch das kommt gut an. Im Laufe des Nachmittags gelingt es ihm noch, einen Gebrauchtwagen an eine Studentin zu verkaufen, die mit ihren Eltern gekommen ist. Ihr Papa zahlt den Skoda Fabia, Möbius gibt noch einen kleinen Weihnachtsrabatt sowie einen Erste-Hilfe-Kasten dazu. Eigentlich könnte er beste Laune haben, nur der Weihnachtsmarkt-Event heute Abend nervt ihn. Er geht kurz zu Marc ins Büro und erzählt ihm von Anjas Bitte mit N.N. „Oha, die ist schwergängig“, sagt Marc und Möbius ist erstaunt über das prompte Urteil in automobiler Diktion. „Ich habe auch nicht vor, bei ihr in die Gänge zu kommen,“ sagt er. Marc schaut auf, scheinbar verblüfft darüber, dass sein Vater die Tonlage schlagfertig aufgreift. „Natürlich nicht, sie ist gut 20 Jahre jünger als du.“ Möbius könnte einiges dazu sagen, verkneift es sich aber.

Die Delegationen versammeln sich am Alten Markt vor einem Stand, der Feuerzangenbowle anbietet. Zusammen bilden sie eine Gruppe von knapp 25 Leuten, ein Knäuel bilden Anja, Marc, Linda, Ümit und Sandra, ansonsten bleiben Pflegekräfte und Autohandel unter sich. Tatsächlich steht Natalie Niehues etwas abseits. Sie ist lang und schlaksig, sicher einen halben Kopf größer als er, hat dunkelblonde, halblange Haare und trägt eine Brille wie Nana Mouskouri. Eigentlich sieht sie ganz gut aus, denkt Möbius, sie hat nur etwas Gehemmtes, Unbeholfenes in der Art, wie sie sich bewegt. Als habe sie zu lange Beine. Okapihaft. Er weiß nicht, wie er auf dieses Wort kommt. Ohne lange zu überlegen, geht er auf sie zu: „Es freut mich, jetzt mal endlich diejenige kennen zu lernen, die unseren Kunden Lebensbaum so erfolgreich macht.“ Sie lächelt dünn. „ich verstehe nicht ganz…“ „Nun, liegt’s nicht an einem guten Controlling, wenn ein mobiler Pflegeservice so arbeitet, dass er es sich leisten kann, eine ganze Fahrzeugflotte auf einmal zu leasen?“ Sie bleibt kühl. „Das ist eine ganz bewusste Investition. Durch den Erdgasantrieb reduzieren sich Monat für Monat auch die Spritkosten.“ Aus den Augenwinkeln sieht Möbius, wie Anja Kleinitz aufmunternd herüberlächelt. Natalie Niehues folgt seinem Blick. Er ergreift die Initiative. „Frau Kleinitz hat mir erzählt, dass Ihre Mutter…“ Sie unterbricht ihn harsch: „Sie müssen sich nicht mit mir unterhalten. Ich komme ganz gut alleine klar.“ „Das ist kein Muss, Frau Niehues, sondern mein Wunsch. Als Frau Kleinitz mir vom Tod Ihrer Mutter erzählte, habe ich gefragt, ob ich Sie darauf ansprechen darf. Ich habe nämlich ein paar Fragen dazu und brauche Ihren Rat.“ Möbius staunt, wie leicht ihm diese Lüge von den Lippen geht. Nathalie Niehues bleibt skeptisch, taut aber ein wenig auf. „Was wollen Sie wissen?“ „Erst hole ich uns noch zwei Becher Feuerzangenbowle.“ Das gibt ihm Zeit zu überlegen, welche Fragen das sein könnten. Als er zurückkommt und ihr den dampfenden Becher überreicht, hat er eine Idee: „Wie machen Sie das mit dem Nachlass Ihrer Mutter? Ich meine nicht das Erbe, sondern was machen Sie mit den ganzen Sachen?“ Er erzählt, wie gelähmt er nach Ines’ Tod war, zwei Jahre habe er gebraucht, um das Ehebett gegen ein eigenes Einzelbett zu tauchen. Zwei Zimmer im Haus stünden quasi ungenutzt herum und dienten als Rumpelkammer. Möbius weiß nicht, warum er diese persönlichen Dinge so schnell preisgibt, aber bei Nathalie Niehues wirkt es. Auch sie fängt an zu erzählen, von der beginnenden Demenz ihrer Mutter, von deren Kontrollsucht, dem Wegbeißen jeglicher Bekanntschaften. „Jetzt bin ich 44 und komme mir vor wie ein blutiger Anfänger.“ Ehe die Stille peinlich wird, wirft Möbius ein: „Was soll ich erst sagen?“ Übergangslos landen sie beim Thema Katzen. Als er von seinem Kater Wilko berichtet, „trotz seiner 12 Jahre ein Kindskopf ersten Ranges“ lächelt sie schüchtern. Und bei seinen katzenphilosophischen Betrachtungen, „wer glaubt, Mäuse bekämpfe man mit Katzen, hat keine Ahnung, sie bringen einem die Mäuse erst ins Haus – und das leider in verschiedenen Aggregatzuständen,“ lacht sie das erste Mal. Marc schaut irritiert herüber, Möbius winkt ihm zu: „Geht doch schon mal ins Restaurant vor, wir kommen nach.“

Ihre Katze heiße eigentlich Nofretete, sagt sie, als habe sie die kurze Unterbrechung gar nicht wahrgenommen, „ein Einfall meiner Mutter,“ aber sie selbst nenne sie Madame, weil sie so prätentiös und zickig sei. „Wer nach der zweiten Feuerzangenbowle noch unfallfrei ‚prätentiös’ sagen kann, verträgt auch noch eine dritte.“ Sie nickt und lacht wieder. Als er mit den Bechern zurückkommt, sagt er: „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so…“ er hält inne. Sie setzt seinen Satz fort „…halbwegs normal und locker bin? Wie hat mich Anja Kleinitz denn bei Ihnen eingeführt? Als menschgewordenen Mürbezwieback? Möbius platzt lachend heraus: „Ha, als Menschwas? Zwieback? Nein eher als weltfremd, in sich gekehrt und spröde.“ „Fehlt nur noch altjüngferlich.“ „Nein, dieses Adjektiv fehlte in der Aufzählung. Aber wir wärmen uns hier die Hände an der Feuerzangenbowle und trinken gar nicht. Höchste Zeit, dass wir uns duzen. Ich bin Claus – mit C.“ „Ich heiße Nathalie. Prost Claus mit hohem C. Wohl auch prätentiöse Eltern gehabt?“ „Das kannst du laut sagen. Das C hat nur optische Gründe. Als wenn man kreativ mit „C“ schreibt. Es geht nur um orthographisches Aufmöbeln.“ Sie lacht wieder. „Wer bei der dritten Bowle noch unfallfrei ‚orthographisch’ sagen kann… hoppla“ Unversehens wird Nathalie von hinten angerempelt und verschüttet etwas Bowle auf seinem Mantel. Ein Mann mit einem blinkenden Rentiergeweih dreht sich um: „Tschulligung,“ Nathalie tupft mit einer Serviette auf seinem Mantel herum: „Tut mir leid, Herr Möb…äh, Claus, aber der Knabe hinter mir ist nicht mehr ganz trittfest.“ Der Mann scheint zu einem Junggesellenabschied zu gehören, außer ihm ist noch ein ganzes Rudel Blink-Rentiere zu sehen. Der zukünftige Bräutigam trägt an seinem Geweih zahlreiche Schnuller und schwankt schon erheblich. Möbius lacht: „Das macht doch alles nix. Aber ehe wir so außer Tritt kommen wie diese Jungbullen hier und uns am Ende noch die Zischlaute verschleifen, sollten wir vielleicht was Festes…“ „Ich habe keine Lust auf das Restaurant.“ „Ich doch auch nicht.“ Sie gehen zu einer Bude und teilen sich drei Reibekuchen mit Apfelmus. „Einen gönnen wir uns jetzt aber noch,“ Möbius steuert mit Nathalie noch einmal zurück an den Stand mit der Feuerzangenbowle. Die Bedienung stellt ihm die beiden Becher auf den Tisch. Er bezahlt. Gerade als er sie nehmen will, greift einer von den Rentieren zu und reicht die Becher an seine blinkenden Herdengenossen weiter. „Moment mal,“ Möbius ist ehrlich empört, „das sind unsere Becher.“ „So? Wo steht denn das? Auf den Bechern jedenfalls nicht“, sagt ein besonders kapitales Geweihexemplar. Möbius hat Mühe, sich zu beherrschen. „Ich hab sie grade bezahlt. Fragen Sie die Bedienung da vorn.“ „Hör mal, du Lauch“, grunzt der Blinkie-Rudolf, „nur weil du deiner staksigen Else hier imponieren willst, musst du nicht den dicken Max machen.“ In Möbius reißt etwas. Er schnappt sich den erstbesten Becher Bowle auf dem Tresen und kippt ihn dem kapitalen Bullen übers Hemd. Der brüllt auf: „Verdammt, du Arsch!“ Möbius sieht die Faust im letzten Moment, kann sie aber nicht abwehren, nur sein Gesicht noch ein kleines Stück hochreißen. Sie trifft nicht seine Nase, sondern die Unterlippe. Er fühlt, wie sie platzt, aber es schmerzt weniger als gedacht. Dennoch verliert er das Gleichgewicht und landet auf den schmutzigen Bodenbrettern. Nathalie und ein anderer Passant helfen ihm hoch. Zwischen ihm und dem Geweihträger hat sich wie aus dem Nichts ein Schrank aufgebaut, der Aufschrift auf seiner Uniform nach zu schließen einer vom Sicherheitsdienst des Weihnachtsmarktes. „Ist jetzt gut zwischen euch beiden? Ihr steht so kurz vor einer Anzeige. Fallt ihr noch ein einziges Mal auf, übergebe ich euch der Polizei!“ Die Rentierbullenherde trollt sich, Möbius steht da und schämt sich. Erst langsam wenden die Umstehenden den Blick von ihm ab. Nathalie reicht ihm ein neues Taschentuch. Er tupft seine Lippe ab, jetzt schmerzt es doch höllisch, vor allem beim Sprechen. „Es tut mir leid. Ich habe mich zum Affen gemacht.“ „Aber Herr von und zu Möbius. Sie haben sich für mich zum Affen gemacht. Das ist was ganz anderes.“ Nathalie hakt sich bei ihm unter. „Ach, siezen wir uns wieder?“ Möbius muss grinsen, aber die Lippe tut verdammt weh. „Nur aus Respekt, Claus, aus reinster Hochachtung.“ „Na, lieber ein ironieüberzuckertes Du als ein Hochachtungs-Sie.“ „Immer das letzte Wort, der Herr, wie?“ Nebenan setzt jetzt einer dieser treuherzigen protestantischen Posaunenchöre ein und lässt eine bräsige Version von „Süßer die Glocken nie klingen“ ertönen. „Na, das fehlte gerade noch, sollen wir gehen? Oder nehmen wir uns ein Taxi?“ Möbius merkt auf einmal, wie das Adrenalin zurückweicht und Erschöpfung einsetzt. Nathalie hat es längst gemerkt. „Ein Taxi – und ich bestehe darauf, dich nach Hause zu bringen. Hast du guten Kaffee da?“ Im Taxi lehnt sie einen Moment lang den Kopf an seine Schulter. Oder bildet er sich das ein? Zuhause angekommen, lässt seine Erschöpfung etwas nach. „Geh du doch schon mal ins Wohnzimmer, such uns Musik aus und setzt dich aufs Sofa. Ich kümmere mich um den Kaffee.“ Während er, noch immer im Mantel, das heiße Wasser in den Porzellanfilter gießt, hört er aus dem Wohnzimmer Joni Mitchells „Hejira“-Album. „Gute Wahl!“ ruft er ins Wohnzimmer. „Ist deine Wahl. Steckte im Player“, schallt es zurück. Er schaut dem Wasser im Filter zu, wie es das gesamte Kaffeemehl durchflutet. So etwas Warmes durchströmt ihn jetzt auch. Als er den Mantel an die Garderobe hängen will, fühlt er etwas in der Tasche. Ach mein Gott, das Potenzmittel aus der Apotheke. Möbius lässt es rasch im Apothekenschränkchen verschwinden. Wie hatte der frohsinnige Doktor es heute Morgen noch formuliert – untenrum obenauf? Möbius lacht in sich hinein. Er grinst noch immer, als er mit Kaffeetablett das Wohnzimmer betritt. Nathalie ist auf dem Sofa eingeschlafen. Sie liegt etwas unbequem, Möbius zieht ihr die Schuhe aus, legt die Beine hoch und deckt sie mit ihrem Mantel zu. Nathalie murmelt etwas, schläft dann aber weiter. Er setzt sich in den Sessel gegenüber. Joni Mitchell singt gerade „Furry Sings The Blues“ über einen alten knorrigen Jazzer, der dem Wechsel der Zeiten mit bärbeißigem Trotz begegnet und so fühlt er sich gerade auch. Er sieht ihr beim Schlafen zu, hört ihre ruhigem Atemzüge. Eine Strähne ist ihr ins Gesicht gefallen, sie bewegt sich leicht, wenn sie ausatmet. Meine Güte, sie ist erst 44, nur sechs Jahre älter als Nora, aber solide 20 Jahre jünger als er. Er trinkt noch einen Schluck von dem heißen Kaffee. Die Unterlippe schmerzt, wenn er die Tasse ansetzt. Welches Getuschel jetzt wohl auf der Weihnachtsfeier bei Christos herrscht? Marc wird sich für ihn schämen, wenn er hört, was auf dem Markt passiert ist. Andererseits: Woher sollte er das hören? Und warum sollten sich die Kinder schämen? Hatten sie ihm nicht vorgeworfen, sich abzuschotten? Von wegen einmotten! Aber hallo, das reimt sich sogar. Gerade beginnt der letzte Song des Albums: „Refuge Of The Roads“ Die warme Stimme von Joni Mitchell, der singende Bass von Jaco Pastorius. Ist der nicht auch schon tot? Möbius denkt plötzlich an Ines, nimmt einen zu großen Schluck Kaffee, um den Gedanken zu vertreiben und verbrüht sich fast die ohnehin geschwollene Lippe. Was, wenn Nathalie morgen früh aufwacht, erschrickt und ihn, den alten Zausel, als alkoholbedingten Aussetzer ihrerseits abhakt, um dann verschämt das Weite zu suchen? Möbius drückt die Repeat-Taste des Players.

Etwas kitzelt ihn im Gesicht. Er wacht auf, blinzelt und erkennt Nathalies Gesicht dicht über seinem. Ihre hellen Strähnen ergießen sich über sein Gesicht. Mit sanfter Stimme flüstert sie ihm etwas ins Ohr: „Claus, Santa Claus, ist jemand an Deck? Bitte melden, Helden zuerst. Santa Claus is coming to town, bitte melden…“ „Oh“, murmelt Möbius und er muss sich räuspern, um seine eingerostete Stimme frei zu kriegen, „ein Weihnachtsengel.“ Sie kichert. „So viel Kitschausstoß am frühen Morgen? Zu solchen Komplimenten muss man ja ein trockenes Stück Weißbrot reichen.“ „Oder einen menschlichen Mürbezwieback“, sagt Möbius. In diesem Augenblick berühren ihre Lippen die seinen, es schmerzt nur einen winzigen Moment, dann schmeckt es nach Zimt und Nelken. Feuerzangenbowle, denkt Möbius, es ist der 12. Dezember und ich küsse einen Mund, der nach Feuerzangenbowle schmeckt.

Hellmuth Opitz

Hellmuth Opitz

Durch einen guten Deutschlehrer entwickelte Hellmuth Opitz in der Oberschule eine Liebe zu Gedichten. Die Faszination, auf kleinem Raum neue Welten zu entfalten, ließ ihn seitdem nicht mehr los. Als Songtexter für seine Folkrockband konnte der Dichter dann erste Erfahrungen im Verfassen von Lyrik sammeln. Heute denkt er zunehmend in Bildern. Beim Spazierengehen löst sich die eine oder andere „poetische Lawine“ in ihm und Ideen werden „locker getreten“. Ein wehleidiger Weltschmerz-Dichter ist er auf keinen Fall, eher bringt er den Leser durch seine ironisierte Sichtweise zum Schmunzeln. Zur Ablenkung vom kopflastigen Tagesgeschäft hört er gern Musik, geht Darts spielen oder steht für seine Kickertruppe im Tor. Im Pendragon Verlag erhältlich sind seine Gedichtbände "Engel im Herbst mit Orangen", "Die Sekunden vor Augenaufschlag" und "Die Dunkelheit knistert wie Kandis".
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